Der Tod aus der Teekiste
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Juli 2004
Siegfrieds wundersame Wandlung
von Ines Drosta

„Sieh nur, eine Sternschnuppe!“, rief Anita. „Man darf sich etwas wünschen, wenn... Hast du sie gesehen, Siggi?“
Die Nacht war klar. Das Ehepaar Künzel stand auf dem Balkon, der sich über die Südseite ihres Ferienhäuschens erstreckte, und genoss den Ausblick. Sternenübersät wölbte sich der Himmel über die schwarze Silhouette der Bergmassive.
Sternschnuppe oder nicht, das blieb sich gleich. Siegfried wusste, dass seine Frau schlecht sah, aber sie gab es nicht zu. Ohne ihre Brille waren die Nächte für sie zu geheimnisvollen Reichen aus Licht und Dunkel geworden, in denen es von irrenden Schattenbildern, wandelnden Sternen und fliegenden Untertassen nur so wimmelte. Sie war eben eine Frau, eitel und rätselhaft wie alle Frauen. Je älter sie wurde, desto undurchschaubarer wurde sie. Vorhin, beim Abendessen, hatte sie eine Bemerkung fallen lassen, die Siegfried schwer beleidigte. Einfach so... aus dem Hinterhalt. Er hatte verlegen gelächelt und geschwiegen, obwohl er im Innersten zutiefst gekränkt war und ihm ein stummer Schrei aus allen Poren drang. Vielleicht lag hier der Schlüssel zu seinen Problemen. Nie mehr schweigen, laut herausschreien...
Sie hatten heute, an ihrem ersten Ferientag, im „Hubertushof“ zu Abend gegessen. Seit nunmehr zwanzig Jahren verbrachten sie den Sommerurlaub in dem Ferienhäuschen oberhalb des Dorfes und hielten seitdem auch dem „Hubertushof“ die Treue. Dieses beste Restaurant weit und breit verwöhnte seine Gäste mit gutbürgerlicher Küche und herzlicher Gastlichkeit.
Wie jeden Sommer hieß der Wirt Siegfried und Anita Künzel bei einer Flasche Sekt „Hausmarke“ persönlich willkommen. Nach dem Essen folgten ein paar Birnenschnäpse. Ungewöhnlich in diesem Jahr war, dass Anita plötzlich kokett die Augen rollte, ihren Kölner Dialekt mit dem bayerischen rollenden „R“ würzte und beim Sprechen, wie zufällig, mit den Fingerspitzen den Arm des Wirtes berührte.
„Wissen Sie“, sagte sie. „Sie haben es so gemütlich hier mit dem urigen Holz, mit den Geweihen und Fellen und all dem. Daheim in meiner zweckmäßig eingerichteten Wohnung bewege ich mich oft, als würde ich eine Möbelausstellung besuchen.“
Der Wirt nahm die Arme vom Tisch und verschränkte sie vorm Bauch.
„Freut mich, dass es Ihnen bei uns gefällt, gnä’ Frau“, sagte er und empfahl sich, um sich anderen Gästen zuzuwenden.
Siegfried seufzte, starrte vor sich hin und blieb bei dem Gedanken hängen, leer wie sein Glas zu sein. Leeeeeeeeeer...
Bisher war er wer gewesen, nicht zu Hause bei Anita, nein, aber in der Arbeit hatte man ihn als innovativen Designer geschätzt. In letzter Zeit jedoch war es still um ihn geworden, so als roste er wie altes Eisen unaufhaltsam vor sich hin. Die beiden Küchenprogramme seiner Firma, „top“ und „trendy“, hatten sich als Verkaufsflops erwiesen, und der Chef gab ihm die Schuld daran. Vor zwei Monaten war ein junger Schnösel aufgetaucht, - gestatten Müller, Praktikant -, der sich an Siegfrieds Fersen heftete, fragte, prüfte, wichtig tat, und überall herumerzählte, er habe alle Trümpfe im Ärmel. Dann hatte man ihm, Siegfried Künzel, der seit fünfundzwanzig Jahren treu für die Firma arbeitete, einfach gekündigt. Man entließ ihn ins Privatleben und in die Arme seiner Frau, ... die ihre Wohnung nun abfällig Möbelausstellung genannt hatte. Ein Schlag ins Gesicht hätte Siegfried nicht mehr weh tun können. Schließlich hatte er selbst die Möbel entworfen.
Auf dem Weg zurück zum Ferienhaus war Siegfried stumm neben Anita hergelaufen
und hatte ihr Geschwätz ertragen.
Nun tauchte er aus seinen düsteren Gedanken auf, fand sich auf dem Balkon des Häuschens wieder und atmete tief die frische Nachtluft ein.
„Natürlich hab ich die Sternschnuppe gesehen“, sagte er und wünschte sich, dass Anita einmal zwei Minuten still wäre. Diesen Wunsch fand er lustig, er grinste.
„Hast du dir was gewünscht, Siggi?“, fragte Anita.
Das Grinsen erstarb ihm auf den Lippen. Jetzt bemerkte er es auch, ein wandelndes Licht, heller und größer als ein Stern, eine Leuchtkugel, die wild über die Bergkette tanzte...
Er schüttelte sich. Ein Hauch von Birnenschnaps schoss seine Speiseröhre hoch und entlud sich mit einem Rülpser.
„Du gehörst ins Bett!“, befahl Anita. Er gehorchte und hoffte, dass sie nicht schnarchen würde in dieser Nacht...
Aber genau das tat sie. Siegfried wälzte sich in seinem Bett hin und her und öffnete schließlich, genervt durch die gurgelnden Laute, die Augen.
Grelles Licht zuckte durchs Zimmer. Es streifte das große Landschaftsbild an der Wand, so dass die Bergziegen auf der Wiese und der felsige Gipfel darüber plötzlich von einem Sonnenstrahl getroffen schienen; dann irrte es über die Bettdecke und strahlte schließlich direkt auf Anitas Gesicht. Siegfried tastete nach seinem Bademantel und zog ihn an.
Vom Schlafzimmer aus führte eine Glastür direkt auf den Balkon.
Siegfried fuhr der Schrecken in alle Glieder. Ein Sausen lag in der Luft, das die Schöße seines Bademantels erfasste und flattern ließ. Die Bergkette war schwarze Kulisse für ein überirdisches Schauspiel; überall tanzten, rollten und hüpften leuchtend gelbe Kugeln. Eine von ihnen schoss auf einer Lichtstraße direkt zu ihm hin.
Die Kugel strahlte eine Hitze aus, die Siegfried kaum ertrug. Je näher sie kam, desto mehr schwächte sich ihr Licht ab – wie bei einer Sparlampe, die zurückgedreht wird. Etwa zwei Meter vor dem Balkon blieb sie in der Luft hängen.
Vor Siegfried schwebte lautlos die seltsamste Gestalt, die er je gesehen hatte. Das Wesen, kleiner als er, hatte einen Rumpf, an dem links und rechts Hebel angebracht waren. Es schien einen goldfarbenen Anzug zu tragen; aber auch die durchsichtige Hülle, in der es schwebte, schimmerte golden.
Dass das Ding da vor ihm keine Beine hatte, kümmerte Siegfried wenig. Etwas anderes ließ ihn trotz der sengenden Hitze Gänsehaut spüren: Er starrte einen konturlosen Kopf an. Keine Augen, keine Nase, kein Punkt-Punkt-Komma-Strich-Mondgesicht, keine Mundwinkel nach oben oder unten – Siegfried starrte ein goldenes Oval an. Das Oval nickte. Ohnmächtig ausgeliefert nickte Siegfried zurück.
Das Wesen rollte über die Balkonbrüstung und und saugte ihn in seinen Leib hinein.
Er befand sich in einem strahlenden Tunnel. Er konnte fühlen, wie Zeit und Raum an Bedeutung verloren, wie er schwebte, Körper und Geist in dieser Bewegung verwoben.
Dieses Gefühl war groß, einmalig und wahr. Siegfried, von allen irdischen Sorgen losgelöst, war ganz außer sich vor Begeisterung darüber, dass er als Auserwählter von einem Ufo entführt wurde. Vielleicht würde er die fünfte Dimension, fremde Galaxien oder andere rätselhafte Dinge kennen lernen.
Um so erstaunter war er, als er sich in einem Zimmer wieder fand. Vier Wände, Fußboden, Decke, Tür, Fenster. Mit einem Blick erfasste er die Situation. Er befand sich in einem von ihm selbst entworfenen Küchenmodell, „trendy“, meeresgrün, Kunststoffoberfläche, edelstahlfarbene Griffe. Die Küche war vollständig eingeräumt, bis hin zu Einzelheiten wie Gewürzbord, Küchenautomat und Dekormöhren.
Dann wurde die Tür aufgerissen und Siegfrieds Chef, der Alte höchstpersönlich, stürmte herein.
Er bemerkte Siegfried sofort. „Wenn ich ehrlich bin, wundert es mich gar nicht, dass Sie hier sind“, brummte er.
Siegfried schwieg.
„Ja, mein lieber Künzel“, sagte der Chef, strich sich über das kahle Haupt, massierte die Wölbung seines Bauches über dem Hosenbund. „Ihre Möbel... es ist, als ob Sie immer wieder die Glühbirne erfinden. Mal meeresgrün, mal steingrau, aber unterm Strich bleibt es doch immer wieder die gute alte Glühbirne.“
„Unterm Strich... Glühbirne? Mit einer Glühbirne vergleichen Sie meine Arbeit? Wieso glauben Sie, dass Müller, dieser Rotzlöffel, etwas grundlegend Neues bringen wird? Seit fünfundzwanzig Jahren arbeite ich für Ihre Firma, bin nie krank gewesen, habe mich stets bemüht, Leistung zu bringen, mich korrekt zu verhalten gegenüber Vorgesetzten und Kollegen. Ich habe Überstunden gemacht, ohne Bezahlung dafür zu verlangen, war morgens der erste und abends der letzte im Büro...“
Siegfried, dem der Atem ausging, holte tief Luft und redete soviel wie noch nie in seinem Leben. Er entflammte, verteidigte sich und seine bisherige Arbeit, stellte ein neues Programm in Aussicht, „Fortuna“, den Marktabräumer; er untermalte die Worte mit Gesten und dämpfte seine Stimme ein wenig, als ihm bewusst wurde, dass er schrie.
Der Chef seufzte und warf einen langen Blick auf seine Armbanduhr.
Siegfried schoss seinen letzten Trumpf ab: “...und ich schlafe seit langem regelmäßig mit Ihrer Frau, weil Sie impotent sind und es in der Firma keiner wissen soll!“
Der Arm mit der Uhr blieb in der Luft hängen. Verblüfft schaute der Chef auf.
„Betrachten Sie sich als wieder eingestellt, Künzel“, sagte er schließlich, „ich erwarte Sie morgen um 15.00 Uhr zur Dienstbesprechung.“
Ein greller Blitz zuckte. Siegfried stand wieder auf dem Balkon seines Ferienhauses und starrte das Wesen in der Goldkugel an.
„Wer bist du und was willst du von mir?“, fragte er.
„Kennst du Sigmund Freud?“, fragte der goldene Kopf und die Stimme tönte wie eine Melodie aus ihm heraus.
„Das war dieser berühmte Wiener Psychologe.“ Siegfried erinnerte sich dunkel an einen Streifzug durch die Soziologie, dort war Freud erwähnt worden. „Er hat Seele des Menschen in drei Instanzen aufgeteilt: Das ‚Es’ sind unsere Triebe, Wünsche und Lüste, das ‚Über-Ich’ ist unser Gewissen und das ‚Ich’ steht dazwischen, voller Zweifel und Kampf... oder so ähnlich.“
Er verzog das Gesicht, Dinge wie Seele und Gewissen, die er nicht sehen und anfassen konnte, waren noch nie sein Fall gewesen.
Das Oval jedoch nickte.
„Nun, ich bin dein ‚Es’“, sang es. „Du hast mich gerufen, gestern abend im „Hubertushof“, mit einem Schrei, den kein Mensch hören konnte, erinnerst du dich?“
Siegfried erinnerte sich.
Das Wesen lachte und dabei begann sein Körper zu vibrieren, zuerst ein wenig, doch dann verstärkte sich die Bewegung. Der Rumpf bebte. Die runde Hülle zuckte nach allen Seiten, wurde eingedrückt, wölbte sich, bis sie schließlich platzte und sich ein goldener Schauer über Siegfried ergoss.
Wo war das Wesen, seiner Schutzhülle beraubt? Siegfried hörte nur die singende Stimme an seinem Ohr: „Vergiss mich niemals wieder, Siegfried Künzel, „sagte es. „Dann werde ich immer bei dir sein!“

„Bei mir... immer...“, murmelte Siegfried.
„Ich bin ja bei dir, Schlafmütze. Das Frühstück ist fertig.“
Die Morgensonne schien ins Zimmer. Vor Siegfrieds Bett stand Anita im Hausanzug.
Siegfried sprang aus dem Bett und packte Anita bei den Schultern. „Wir müssen sofort zurück nach Hause!“, sagte er.
„Was? Also, ich bin einiges von dir gewöhnt, aber...“
„Red nicht rum, hilf packen!“, befahl Siegfried und beförderte die Koffer mit einem Ruck vom Kleiderschrank herunter auf die Betten.
„So geht das nicht, Siggi!“
„Oh doch, Annie.“ Siegfried drückte seiner Frau einen schnellen Kuss auf die Wange, öffnete den Schrank und riss Jogginganzüge, Unterwäsche und Blusen heraus. „Ich muss zurück in die Firma, zur Dienstbesprechung.“
„Siggi, begreif doch, sie haben dir gekündigt.“
„Nein“, sagte er. „Ich muss nur mal was anderes als die Glühbirne erfinden.“
„Glühbirne?“ Anita schüttelte den Kopf, trat auf den Balkon hinaus und ließ ihren Blick von dampfenden Kaffeetassen über die Brüstung aufwärts über Almwiesen und Berggipfel gleiten. Dann schaute sie wieder zurück zu ihrem Mann, der energisch am Reißverschluss des ersten übervoll gepackten Koffers riss.
Sie trat zu ihm, setzte sich auf den Koffer. Nun griffen die Zähne des Verschlusses ineinander, doch nach einer Eckenumrundung waren Anitas Beine im Weg.
Siegfried blickte auf. Sie starrte ihn an. „Was hat dich über Nacht so verändert, Siggi?“, fragte sie. „War die Sternschnuppe doch ein Ufo? Sie kam mir gleich so... meinst du, wenn ich meine Brille aufgesetzt hätte, hätt’ ich es auch gesehen? Siggi?“
„Weiber!“, sagte Siegfried. Doch er lächelte.






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