Madrigal für einen Mörder
Madrigal für einen Mörder
Ein Krimi muss nicht immer mit Erscheinen des Kommissars am Tatort beginnen. Dass es auch anders geht beweisen die Autoren mit ihren Kurzkrimis in diesem Buch.
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Juli 2004
Kaugummiparadies
von Florian Tietgen

Ich falle Lars direkt in die Arme.
Er steht bei der Gymnastikstunde hinter mir, als ich einfach umklappe, wie ein Taschenmesser, als mir die Sinne schwinden und die Beine ihren Dienst versagen.
Ist es möglich, ohnmächtig zu sein und trotzdem etwas zu bemerken?
Was liegt zwischen den Armen von Lars, die mich auffingen, bevor sie mich sanft zu Boden legten, und den Gängen? Das entsetzte Gesicht Anjas, das meinen Fall verfolgt? Die Umkleidekabine? Die Duschen?
Gänge. Dunkle, hallende Gänge, als ob das Krankenhaus direkt neben der Turnhalle läge. Hektische Rufe um mich herum, menschliche Gestalten, die ich schemenhaft wahrnehme zwischen den Stimmen. Klapptüren, die aufgestoßen werden, um sich hinter uns mit Getöse wieder zu schließen.
Durch die letzte Tür werde ich nur geschubst. Die Bahre rollt einige Umdrehungen weiter, das Tor schlägt noch ein paar Mal in beide Richtungen aus, bevor auch das letzte Scharnier nicht mehr knarrt. Dann ist Stille.
Nur ein leichtes Klacken ist zu hören, so als ob ein Mechanismus einrastet, das Surren eines Motors. Die Bahre gleitet durch die Gänge, wie ein Auto in der Waschstraße, geführt von Schienen, die sich fortbewegen. So fahre ich bergab auf ein Licht zu, das Hoffnung verströmt.
Hoffnung? Müsste ich nicht Angst haben? Dürfte ich überhaupt etwas fühlen?
Der Gang wird breiter und farbiger. Die kalkgrauen Wände bekommen einen altrosa Anstrich. Eine riesige Dieffenbachie schlängelt ihre Blätter an ihnen entlang, auf der anderen Seite blüht eine Glyzinie in dezentem Lila.
In was für einem Krankenhaus bin ich gelandet? Wo sind die Ärzte, die Vertrauen erweckenden weißen Kittel, wo die Schwestern in ihren Trachten?
Wo ist mein Gefährt? Ist es der Duft der Glyzinie, der mich betäubt? Ich wandel über himmelblau gefärbten Waschbeton. Aber wann bin ich aufgestanden? Was liegt zwischen der Bahre und dem Raum, in dem ich mich bewege?
Überall stehen Gummibäume. In der Mitte befindet sich eine Rezeption aus orangefarbenem Plastik. Keine scharfen Kanten, keine spitzen Ecken, alles an diesem Tresen ist abgerundet. Die Gesichter der Frauen hinter dem Tresen sind rotgeädert, erhitzt, angestrengt lächelnd.
»Schau dich nur um«, fordert mich eine von den Damen auf. »Zu Beginn geht es hier jedem so!«
Zu Beginn?
An den Wänden stehen Geräte, aus denen man sich Hamburger holen kann. Die sehen aus wie Wurlitzers oder wie Kaugummiautomaten. Ihre rote Farbe ist mit ein wenig Schwarz gebrochen, dadurch wirken sie leicht dunkel und schmutzig, ähnlich wie die Ketchupflaschen, die sich auf den Tischen daneben befinden. Die Blenden der Geräte sind senfgelb, farblich abgestimmt zu den Plastikeimerchen davor.

Ich gehe drei Schritte auf die Rezeption zu, versuche die Frau anzulächeln, die mit mir gesprochen hat. Sicher muss ich mich anmelden.
»Guten Tag«, sage ich unsicher. Die Größe der Halle versetzt mich in Ehrfurcht, das Bonbondesign irritiert mich, aber die Frau hat einen weißen mit lichten blauen Streifen durchsetzten Kittel an. Erscheint sie mir deshalb vertraut?
»Hast du schon genug gesehen?« Sie lächelt auch und stellt mir einen Becher Kaffee auf den Tresen: »Mit Milch und Zucker, wie du ihn gerne trinkst.«
Ich möchte mich bedanken, möchte einen Ton aus meiner Kehle bringen, aber irgendwie scheinen die Geräusche hier absorbiert zu werden. Überall schwirren Menschen umher, reden und diskutieren miteinander, lehnen an den Wänden, gestikulieren, aber ich höre nichts außer der Stimme der Frau, die gerade mit mir spricht.
»Gern geschehen«, antwortet sie mir, als ob ich mich doch bedankt hätte. »Dein Zimmer ist noch nicht soweit. Du bist etwas früh. Wir haben noch nicht mit dir gerechnet.«
Ich kann immer noch nichts sagen, ich kann noch nicht mal etwas denken. Meine Sinne bieten keinen Halt mehr, mein Verstand ertrinkt in kitschigen Farben, meine Konzentration dämmert unter pochenden Kopfschmerzen. Ich versuche, bei mir zu bleiben. Habe ich mich eigentlich schon vorgestellt? Gebietet es nicht die Höflichkeit, der Anmeldung zu sagen, wer man ist?
»Tobias Kraft.« Sage ich das oder denke ich es? Modelliere ich einen Klang, der von Wellen getragen in das Ohr eines Menschen trifft?
»Ich weiß.« Jedenfalls bekomme ich eine Antwort, eine freundliche sogar.
Niemand händigt mir Formulare aus, das wundert mich, nicht aber, dass mich keiner nach meiner Krankenkasse fragt.

Ist es nicht unhöflich, den Tresen einfach zu verlassen, mich durch dieses Plastikmeer zu begeben und mich zu orientieren? Wo ist der Gang, durch den ich gekommen bin? Und warum ist mir das Karussell bisher nicht aufgefallen? Karussell? Jahrmarktsmusik? »Katapult« leuchtet in neongrünen Buchstaben an der Decke und ein grau gekleideter Mann preist das Erleben an: »Sie fürchten weder Gott, Tod noch Teufel? Dann sind Sie hier richtig. Wir werden Sie das Fürchten lehren!« Seine Stimme ist rau, der Klang verspricht Whiskey, Zigaretten und Sex, Verlockung und Vergnügen. »Folgen Sie dem Ruf des Verlangens, des Abenteuers und ihres einsamen Herzens!«
Menschen stehen in einer Warteschlange vor der großen Attraktion. Dort sind raketenförmige Gondeln auf einer Abschussrampe. Sie sind metallisch blau mit kleinen silbernen Lampen und haben keine Fenster. Hier sind Geräusche zu hören, lustvoll schaudernde Schreie derer, die sich von diesem Katapult ins Irgendwo schießen lassen. Und trotz der Schlange wirbt der Mann vor seinem Kabuff weiter für die Fahrt. Ein anderer packt mich am Arm und schiebt mich an der Reihe der Wartenden vorbei: »Wenn du mit uns möchtest, sei willkommen. Wir haben noch einen Platz frei.« Niemand murrt. Nur ein paar Leute schauen neidvoll, während ich in die Rakete gedrückt werde.
»Steigen Sie ein in das Abenteuer«, lockt der Mann mit dem Mikrofon. »Aber machen Sie vorher Ihr Testament. Die Fahrt geht direkt in die Hölle!« Ein hässliches Lachen kommt dabei von tief unten aus seinem Hals. Ich hatte schon immer was gegen Zwänge und Privilegien. Ich reiße mich los aus den fremden Armen. Sollen andere den begehrten Platz in der Rakete bekommen.
Ich erkenne in allen Menschen all jene, die mir mal begegnet sind. In dem Gesicht des Mannes mit dem Mikrofon erkenne ich ein Stück ungewollter Wahrheit. Die Fahrt wird in die Hölle gehen.

Da ist der Gang. Das muss er sein, der Weg, auf dem ich hergekommen bin. Dort stehen die Bahren, bereit, sich einzurasten in die Schienen, den Nächsten abzuholen, und ihn sanft in das bonbonfarbene Paradies zu geleiten.
Es zieht mich zurück, den Gang hoch. Ich möchte nicht bleiben in dieser Kaugummiwelt. Doch mit den Farben schwindet die Leichtigkeit. Mühsam ziehe ich mich Schritt für Schritt empor, kämpfe mich durch die Klapptüren, verliere den Halt in meinen Beinen und zerre mich robbend ans Licht.
Ans Licht?
Das ist meine Couch, mein Fernseher, vor dem ich sitze, meine Zigarette, die ich rauche und mein Glas, aus dem ich einen Schluck Wasser trinke. Wie viel können einem diese einfachen Dinge bedeuten, wenn sie einem das Gefühl geben, wirklich zu sein, zu existieren, zu leben. Aber was macht mein Bruder in meiner Wohnung, mitten in der Nacht? Wie ist er reingekommen? Und warum hat er das Licht nicht angemacht, sitzt hier im Dunkeln und redet nicht mit mir? Er scheint etwas zu sagen, aber ich höre ihn nicht. Ich bin froh, die Seemannslieder des Teufels nicht mehr zu hören, ich genieße die Stille, ich genieße das Wasser, das Leben. Wenn ich die Augen schließe, ist mein Bruder dann fort? Gerate ich dann wieder in die Kaugummiwelt?
»Dein Zimmer ist fertig.« Wieso spricht er nicht mit seiner Stimme? Ist es der Filter der Stille, der sie verändert? Natürlich ist mein Zimmer fertig. Ich brauche nur nach nebenan zu gehen und mich wieder in mein Bett legen. Ich brauche nur weiter zu schlafen, hoffentlich ohne schlechte Träume. Gymnastikstunde? Wie lange ist das her? Damals war ich noch ein Kind. Lars ist inzwischen bestimmt groß, verheiratet und glücklich. Anja habe ich seit Jahren nie wieder gesehen. Mein Bruder ist …
»Dein Zimmer ist fertig«, wiederholt er, »wir sind soweit.«
Wie lange schon? Wie viele Tränen habe ich geweint, nachdem die Polizisten damals bei uns geklingelt haben: »Ist deine Mutter da?«
»Ja, einen Moment, ich hole sie.«
Wie viele Nächte hörte ich die Worte? Auto, Unfall. Er war sofort …
Natürlich ist mein Zimmer fertig. Ich wanke schlaftrunken in Richtung meines Schlafraums und schaffe es, loszulassen. Ich war doch nie gern am Leben, wieso hänge ich dann so daran?
»Es tut mir Leid, dass es so lange gedauert hat, Bruderherz. Wir mussten erst den Weg zu deiner Kraft finden.«
»Den Weg zu meiner Kraft?«
»Zu der Kraft, die du zum Loslassen brauchst, um dich bei uns wohl zu fühlen.«
»Ihr habt ihn gefunden.« Wie selbstverständlich nehme ich an, dass ich nicht sprechen muss, dass sich meine Gedanken bewegen, wie auf Schallwellen.
Er nickt, lächelt mich an, und ich schwebe. Schwebe durch den dunklen Gang in das Kaugummiparadies.

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