Mainhattan Moments
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Susanne Ruitenberg und Julia Breitenöder haben Geschichten geschrieben, die alle etwas mit Frankfurt zu tun haben.
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Juli 2004
Stella
von Sieglinde Breitschwerdt

Der Spiegel zeigte ihr Gesicht: Die hohe Stirn, die schmale gerade Nase, fragende Brauen über dunkle und mandelförmige Augen. Ein dichter Wimpernkranz warf Schatten auf die ausgeprägten Wangenknochen. Doch etwas störte die Symmetrie. Ein bitterer Zug grub sich in ihr Antlitz.
„Mit jedem Mal wird es schlimmer“, murmelte Stella, beugte sich leicht vor und öffnete widerstrebend den Mund. Ihre Lippen hatten sich fast vollständig zurückgebildet. Dort, wo noch vor kurzer Zeit volle rote Lippen sinnliche Signale aussandten, zitterten zwei dünne, leicht glänzende Hautstriche, dahinter schimmerten fahlgelb ihre Zähne. Sie schluckte. Die Zahnhälse lagen fast frei, schienen jeden Augenblick aus dem stark entzündeten Kiefer zu fallen. Ihr deformierter Mund bebte. Nur mühsam gelang es ihr, ein hysterisches Schluchzen zu unterdrücken.
Es war wieder soweit. Ihre Lichtempfindlichkeit nahm zu – Tag für Tag. Bei der kleinsten körperlichen Anstrengung rang sie verzweifelt nach Atem.
Taumelnd hielt sie sich am Waschbecken fest. Ein Gefühl der Unwirklichkeit umflorte ihre Sinne. Das Kribbeln in Händen und Füßen steigerte sich ins Unerträgliche. Sie fühlte den kalten Schweiß auf ihrer Stirn, er kroch weiter und legte sich eisig und klamm auf ihren ganzen Körper.
Stella spĂĽrte ein raues Kitzeln, eine kĂĽhl werdende Feuchtigkeit in ihren Kniekehlen, gefolgt von einem lang gezogenen Fiepen. Sie sah nach unten. Bob blickte kurz zu ihr hoch und leckte liebkosend ihre Wade.
Sie lächelte und kraulte dem Hund kurz das Kinn. Bob, der sie tröstete, wenn es ihr schlecht ging, der sich um sie kümmerte. Bob, der dafür sorgte, dass sie ihr Appartement verließ - der Struktur in ihr Leben brachte - Futter, Gassi und hin und wieder ausgedehnte Nachtwanderungen. Bob, der einzige Freund, der ihr noch geblieben war, der sie liebte - so wie sie war, der sich nicht von ihr abwandte.
In ihrem tiefsten Inneren steckte die zitternde Furcht zu sterben oder verrückt zu werden. Auch Heinrich der III. von England soll dieselbe Krankheit wie sie gehabt haben. Heinrich, der Bucklige, der abgrundtief Böse, der brutal seine beiden Neffen ermorden ließ und somit die Thronfolge zu seinen Gunsten korrigierte.
Aber Stella besaĂź nicht die Macht eines ultimativen Herrschers, der wortlos von seinen Schergen mit dem versorgt wurde, was ihn noch Jahre ĂĽberleben lieĂź.
Da sie auch kein Wesen aus einer anderen Welt war, das im Schutze der Dunkelheit ihre Triebe und Gier zĂĽgellos befriedigen konnte, regelte sie ihre BedĂĽrfnisse mit Geld.
Mit Geld konnte sie vieles bewerkstelligen – auch ihr Leben auf unbestimmte Zeit zu verlängern.
Geld – viel Geld, welches sie jetzt nicht mehr besaß, das sie früher alle paar Monate einem mysteriösen Fremden in die Hand drückte. Wortlos nahm dieser die Scheine, leckte an Daumen und Zeigefinger und zählte das Bündel durch. Grinsend tippte an seinen Hut - verschwand, tauchte nach wenigen Tagen wieder auf und überreichte ihr eine riesige, prall gefüllte Gefrierbox.
Mühsam schleppte Stella sich an den Kühlschrank und öffnete das kleine Gefrierfach. Aus der Plastikschale brach sie einige Würfel, warf sie in den elektrischen Mixer, nahm aus einer Dose ein paar Knollen Rotebeete und gab sie dazu.
Mit einem einzigen gierigen Zug leerte sie das Glas und stellte es hart auf den Tisch zurĂĽck. Das erdige Aroma der Knollen vermischte sich mit einem leicht sĂĽĂźlichen und metallischen Nachgeschmack.
MĂĽde fuhr sie sich durchs Haar und genoss das GefĂĽhl des langsam wiederkehrenden Wohlbefindens.
Lächelnd kraulte sie Bob zwischen den Ohren.
In Zukunft musste sie vorsichtiger sein und rechtzeitig für Nachschub sorgen, ihre täglichen Rationen gewissenhafter einnehmen. Dieser Schwindelanfall und diese rapide Veränderung ihres Gesichts innerhalb kürzester Zeit war mehr als eine deutliche Warnung.
Das nächste Mal ...
Unwillig schüttelte sie den Kopf. Zielstrebig ging sie in ihr Schlafzimmer und setzte sich an den Schminktisch. Sie blickte in ihre Augen. Sie waren so leer - wie tot – und machten ihr Angst. Ihr Blick fiel auf das Foto. Es zeigte ihren Vater - ein markantes, urlaubsgebräuntes Gesicht, vom Wind zerzaustes Haar und blitzende Augen. Er hatte den Kopf leicht geneigt. Es schien, als lächle er ihr aufmunternd zu.
Stella nahm den silbernen Rahmen zur Hand. Ihr Puls beschleunigte sich. Die Portraitaufnahme ihres Vater - jung, dynamisch – und verdammt gut aussehend. Das Bild begann vor ihren Augen zu flimmern - sein Gesicht nahm eine bronzenere Verfärbung an. Die Haut schien unförmig aus seinen vorgegebenen Konturen hervorzuquellen, die Augen traten zurück. Der lächelnde Mund wurde schmal wie zwei Striche, die sich zu bewegen schienen. „Stella“, glaubte sie seine Stimme zu vernehmen, unverkennbar das heisere Timbre, „wehre dich nicht! … Quäl dich nicht! … Du bist ein Kind der Nacht - genau wie ich! Du wirst den Kampf verlieren, genau wie ich - denn in dir schlummern die …“
„Nein!“, schrie sie entsetzt, sprang auf und warf den Rahmen an die Wand. Klirrend zerschellte die Glasplatte, das Bild schwebte heraus.
Bob fiepte, schnappte nach der Fotografie und legte es in ihren SchoĂź.

Kommissar Morgner wälzte seine kalte Zigarre von einem Mundwinkel in den anderen.
„Sein Vorgehen wird immer perfekter!“, murmelte er und kratzte sich nachdenklich die Stirn.
Dr. Arthur Kline, der Gerichtspathologe, nahm seine Brille ab und putzte sie umständlich. „Und die Zeitspannen werden auch immer kürzer! Mittlerweile murkst diese Bestie alle paar Wochen einen ab!“
„Er hat ihm Organe entnommen und jeden Blutstropfen abgezapft! Er lässt seine Opfer ausbluten wie … „hilflos fuhr sich Kommissar Morgner durch sein schütterndes Haar.
„Ich habe 16 Kleinstschnitte festgestellt“, erklärte der Gerichtspathologe. „Die Wundränder sind gedehnt wie sie nur nach dem Einsatz von Infusionsschläuchen vorkommen!“
„Steckt vielleicht eine Organmafia dahinter!“
Kline schüttelte den Kopf. „Das halte ich für unwahrscheinlich. Die Nieren sind vorhanden, auch die Augen. Auf diese Teile hätte der Kerl keinesfalls verzichtet. Nieren und die Hornhaut der Augen bringen auf dem Schwarzmarkt ein Riesenvermögen!“
„Aber welche Teile wurden denn dann entfernt?“
„Es sind alle massiv Blut führenden Organe wie Leber, Milz und Lungenflügel entwendet worden“, erwiderte Dr. Kline. „Was ich allerdings nicht so richtig verstehe, denn bei dieser Entnahme ist nur die Leber wirklich von immenser Bedeutung. Derzeit können Lungenflügel noch nicht transplantiert werden und sind äußerst transportempfindlich. Wenn nicht alles auf Anhieb klappt! Wutscht, hat man nur noch einen zusammengeklebten Lappen. Auch die Milz ist nicht unbedingt lebensnotwendig. Und ein Herz kann durchaus schon durch das eines Schimpansen oder Schweins ersetzt werden! Bringt längst nicht mehr die Kohle, wie früher!“
“Die Organdealer würden auf ein Herz verzichten?“, erkundigte sich Greg Morgner ungläubig.
Dr. Kline schüttelte den Kopf. „Bestimmt nicht! Das Herz ist der Motor, ein Blutpumpsystem, die Hauptzentrale und deshalb verantwortlich, dass der Stoffwechsel und alle biochemischen Prozesse Nonstop im Einsatz sind. Nur wenn es ausfällt, dann ahoi. Und die Lunge dient zum Sauerstoffaustausch. In der Milz werden die roten Blutkörperchen gebildet, um es mal für einen Laien ganz simpel zu erklären!“
Minutenlanges Schweigen breitete sich zwischen den beiden Männern aus.
„Würden Sie sagen, Doktor, dass der Täter ein Laie ist?“
Kline nickte. „Zumindest war er es. Es handelt sich um einen Täter, der rasch gelernt hat. Die Schnitte werden inzwischen sehr präzise geführt. Wenn ich an das erste Opfer denke: wahllos hat er die Organe entfernt, die Schnitte entsprachen nur ungefähr der Region, der Tatort glich einem besudelten Schlachtfeld, doch jetzt …“
Der Arzt hob die Hand und lieĂź sie resigniert wieder sinken.
„Vielleicht handelt es sich um so eine Gothic-Sekte! Vampir-Freaks, die mal wieder eine Party geben!“, mutmaßte Morgner, nahm die Zigarre aus dem Mund und kratzte sich nachdenklich am Kinn.
„Der Täter muss das Opfer beobachtet haben, wusste über seinen Lebenswandel Bescheid! Die ersten Opfer waren noch namenlose Penner, Obdachlose - jetzt sind es junge, kräftige Männer, treiben Sport, leben ernährungsbewusst - v.a. Dingen sind sie solo.
„Und wenn es eine Frau ist? Sie hat ihn heiß gemacht, abgelenkt und …“, fragte Morgner.
Dr. Kline schĂĽttelte entschieden den Kopf.
„Völlig ausgeschlossen! Die letzten Opfer waren meist über einsfünfundachtzig, muskulös! Da hätte sogar eine Karatqueen die allergrößten Schwierigkeiten! Solche Typen treiben neben dem Krafttraining meist noch Kampfsport! Ne, das müsste schon eine Superlady sein.“

„You are the light of my life, you give me home…”, klang es asphatisch aus dem Autoradio. Die Heizung surrte.
Schneeflöckchen schwebten sanft herab, als sie ihren Wagen gegenüber dem Eingang eines zwölfgeschossigen Appartementhauses parkte. Sie schaltete den Wagen ab.
Bob legte seinen Kopf auf ihre Schulter und hechelte leise. Gedanken verloren kraulte sie sein Kinn, ohne den Blick vom Eingang zu wenden. In der Ferne heulten Polizeisirenen auf, um Sekunden später wieder zu verstummen. Sie warf einen Blick auf die Uhr. 22:30 Uhr. Bald würde Cole auftauchen, den Fitnessbeutel lässig über den rechten Arm geschultert und leichtschrittig die Stufen zum Eingang betreten.
Ihn hatte sie erwählt. Wochenlang sorgfältig seine Lebensgewohnheiten studiert. Sie wusste, welche Zeitschriften er abonniert hatte, wer ihm Ansichtskarten schrieb und wie hoch sein Kontostand war. Cole entsprach genau ihren Vorstellungen. Er ernährte sich vitamin- und ballaststoffreich. Keine Zigaretten, kein Alkohol- und Drogenkonsum - trieb Fitness, joggte im Park.
„Komm!“, befahl sie leise. Sie stiegen aus. Schneeflöckchen tummelten sich im Licht der Straßenlaternen wie ein Insektenschwarm. Sie stellte den Kragen ihres Capes hoch, bis er ihr Gesicht fast völlig verbarg. Instinktiv tastete sie Innenseite ihres Capes ab, Sie atmete auf. Alles vorhanden: Klebeband, Infusionsschläuche, verschließbare Plastikbeutel in verschiedenen Größen und ein Skalpell. Fest hielt sie die Handschellen in der rechten Hand.
„Bei Fuß“, kommandierte sie und Bob verstand. Er ging so dicht neben ihr, dass kein fingerbreit dazwischen passte. Ihre Stiefel und seine Pfoten hinterließen matschige dunkle Fußspuren auf dem schneebedeckten Asphalt.
Die Eingangshalle war menschenleer. Der Treppenaufgang mit seinen vielen Nischen lag im Dunkeln. Geschickt verbarg sie sich hinter einer der marmornen Säulen. Ihr Herz hämmerte gegen ihre Rippen und der Puls pochte in ihren Adern, als sie Coles Silhouette am Eingang erkannte. Schritte hallten durch den Raum, kamen näher. Er blieb am Aufzug stehen, neugierig drehte er sich um, als er Schritte vernahm und musterte sie abschätzend.
„Hi Vampirella“, spöttelte er, als er ihre Gesamterscheinung wahrnahm. „Hast dich wohl verflogen, was?“
Mit wiegenden Schritten kam sie auf ihn zu.
„Fass!“, befahl sie. Bob stieß ein heiseres Knurren aus und mit einem Satz stand er so dicht vor Cole, dass seine Nasenspitze sein Genital berührte.
„Rufen Sie Ihren Hund zurück!“, keuchte er mit stockender Stimme.
„Rühr dich nicht von der Stelle“, befahl sie leise. „Vor allen Dingen kein Wort! Nicht einen einzigen Ton, sonst beißt dir der Hund den Schwanz ab! Leg die Hände auf den Rücken.“
„Was … was wollen Sie von mir?“, stammelte er und Schweiß perlte von seiner Stirn.
„Dich!“, erwiderte sie und trat hinter ihn. Die Handschellen klickten.
„Geh!“
Auffordern stieß sie ihm in den Rücken. Zögernd ging er voraus, Bob war dicht neben ihm und knurrte leise. Sie nahm seine Sporttasche und bugsierte ihn in das Treppenhaus. Ihre Schritte halten in der Stille.
Unstet blickte er um sich. Sie fühlte, wie er fieberhaft nach einer Fluchtmöglichkeit Ausschau hielt.
„Was haben Sie vor?“
Sie schwieg. Ging weiter. Vor seiner AppartementtĂĽr machte sie Halt.
„Wo ist der Schlüssel?“
„Rechts!“
Zielsicher griff sie in die Innenseite seiner Collegejacke, zog ihn heraus und schloss die TĂĽr auf.
„Meine Freundin kommt gleich!“
Seine Stimme klang brĂĽchig.
Sie trat dicht auf ihn zu.
„Psst!“
Sie legte den Zeigefinger auf den Mund.
„Du hast keine Freundin!“, stellte sie fest. „Du bist seit 3 Monaten solo! Wo ist dein Schlafzimmer?“
Er wies mit dem Kopf nach vorne .
„Los! Beweg dich!“
Er folgte ihrem Befehl.
Im Schlafzimmer stand das Fenster auf kipp. Es war eisig kalt. Eine kleine herunter gedimmte Lampe zeigte einen spärlich eingerichteten großen Raum. Einen Schrank, ein riesiges Bett, daneben eine Kommode in die eine Stereoanlage integriert war. Stella gab Cole einen Schubs. Er fiel auf sein Bett.
Langsam schlug sie den Kragen ihres Capes herunter. Ihr volles dunkles Haar fiel ihr über das eine Auge. Stellas Hände war schmal, schimmerten wie Perlmut mit blutrot lackierten Fingernägeln - doch nun sahen sie wie schwarzer Onyx aus.
Entsetzt blickte er sie an. Ihre Augen, tief in die Höhlen zurückgetreten, die schmale gerade Nase. Ein grausiges Lächeln teilte ihren deformierten Mund …
„Bitte! Bitte!“, wimmerte er und sank in die Knie. „Bitte … ich …“
„Armer starker Cole“, ihre Stimme klang wie das sanfte Gurren eines Täubchens. Aus ihrer Capetasche zog sie ein Paar Plastikhandschuhe und streifte sie über.
„Beruhig dich. Zuviel Adrenalin zerstört die Qualität!“
Sie drückte seinen Kopf in den Nacken und verklebte ihm den Mund mit einem breiten Isolierband. Er sah auf. Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen. In ihrer rechten Hand hielt sie ein Skalpell und drückte es an seine Kehle. Ein feiner, kaum sichtbarer Blutfaden rann unter der blitzend scharfen Skalpellspitze hervor. Wie gebannt sah sie darauf und spürte eine unsagbare Erregung. Blut - der Saft des Lebens - für ihr Leben! Mit klopfendem Herzen neigte sie sich zu Cole hinab und tunkte sanft ihre Zungenspitze auf die winzige Wunde. Am liebsten hätte sie sich an ihn gekrallt, ihren Mund an seinen Hals festgesaugt …nur mühsam gelang es ihr, ihre Gier zu beherrschen. Stella legte ihr Cape ab und breitete es aus. Das Futter bestand aus unzähligen Taschen. Schläuche, verbunden mit verschließbaren Plastiktüten und Gefrierbeuteln lugten daraus hervor.
Gezielt setzte sie das Skalpell an Coles Hals, dann folgte ein winziger Schnitt. Rasch und geschickt steckte sie einen schmalen Infusionsschlauch in die kleine Wunde, nahm das Ende in den Mund und saugte kurz daran und steckte es in den Plastikbehälter.
Stellas Brust hob und senkte sich in Erregung, als das Blut wie eine zarte Schlange durch den dünnen Schlauch kroch …

Kommissar Will Morgners Schritte hallten durch den langen Flur, der zur Forensischen Abteilung der Medizinischen Hochschule fĂĽhrte.
Die TĂĽr schwang auf. Dr. Kline saĂź in seinem BĂĽro, hatte die Beine auf den Schreibtisch gelegt und diktierte einen Befund.
Ärgerlich blickte er auf und kräuselten seine buschigen Augenbrauen über der mächtigen Nase. Sein Gesicht wirkte müde und abgespannt, das durch die dunklen Ringe unter seinen Augen noch verstärkt wurde.
„Haben Sie den Blutsauger-Bericht schon fertig?“, kam der Kommissar gleich zur Sache und setzte sich unaufgefordert dem Arzt gegenüber.
„Was halten Sie von der These, dass es sich um 2 Täter handeln könnte?“, begann er das Gespräch. Dr. Kline zuckte ratlos mit den Schultern.
„Das wäre immerhin eine Möglichkeit, aber mein …“
In diesem Moment schnarrte das Telefon. Dr. Kline nahm den Hörer ab, meldete sich und hörte aufmerksam zu. Ungläubiges Staunen breitete sich über seinem Gesicht aus. „Das ist ja höchst interessant!“, murmelte er, bedankte sich und legte auf.
Er faltete die Hände, spreizte die Daumen ab und inspizierte seine tadellos manikürten, kurz gefeilten Nägel. Dr. Kline lehnte sich zurück und verschränkte seine Arme und zwinkerte leicht.
„Und?“
Morgner saĂź wie auf Kohlen.
„Vielleicht ist Ihre Vermutung, dass eine Frau dahinter stecken könnte, nicht ganz abwegig!“, begann der Arzt. „Das Zentrallabor, das die Kleidung des letzten Opfers, von Oliver Reader untersuchte, hat ein Hundehaar gefunden - genauer gesagt: ein schwarzes Fellhaar. … Und dann fand man noch etwas!“
„Was?“
„Eine Wimper!“
„Wimper?“, stammelte der Kommissar. „Die Wimper einer Frau? Wurde schon eine DNA-Analyse durchgeführt?“
Dr. Kline beugte sich vor.
„Das werde ich sicherheitshalber noch veranlassen. Aber die Wimper ist definitiv von einer Frau! Eine Schwuchtel halt’ ich für ausgeschlossen!“
„Was macht Sie so sicher?“
„Sie war getuscht!“
„Getuscht?“
„Wimperntusche!“, erwiderte der Arzt ungeduldig. „Fast jede Frau verwendet diesen Kram. Außerdem sind Homosexuelle meist sehr sensible Menschen. Blut, Gewalt und Folter gehen sie meist aus dem Weg. Da würde eher Gift oder Ähnliches in Frage kommen.“
Morgner schloss die Augen. Wie ein Film lief in seiner Vorstellungskraft die Tat ab.
„Eine Frau und ihr Hund“, murmelte Morgner im Selbstgespräch vor sich hin. „Das perfekte Komplizengespann. Aber das Tier müsste eine gewisse Größe haben! Schäferhund, Boxer, Dogge oder Rotweiler! Er ist abgerichtet. Hält das Opfer in Schacht! Sie legt ihm Handschellen an!“
„Und dann klebt sie ihm den Mund zu, zapft ihn an und zu guter Letzt nimmt sie ihn aus!“, ergänzte der Forensiker Morgners Ausführungen. „Ich frag’ mich nur, warum und wieso, wenn kein Organhandel dahintersteckt. Und es muss eine Einzelgängerin sein!“
„… und vor allen Dingen: wer ist das nächste Opfer!“, griff der Kommissar die Überlegungen weiter auf. „Wir leben in einer Millionenstadt! Fitness treibende junge Männer, die derzeit solo sind, gibt es gewiss ein paar Tausend!“
Abrupt stand er auf. „Ich werde sofort beim Ordnungsamt nachfragen lassen, wie viele große Hunde im Umkreis von 100 km gemeldet sind!“
„Ich ruf Dr. Wrangel an. Sei Spezialgebiet ist die anthropologische Zoologie. Vielleicht kann er anhand der DNS feststellen, welche Rasse in Frage käme und ob es sich eher um einen schwarzen Hund handelt oder um einen gefleckten!“
Dr. Kline griff hektisch nach dem Hörer und tippte eine Kurzwahl ein.
Greg Morgner nickte geistesabwesend. „Das wäre genial und würde den Kreis der möglichen Opfer drastisch reduzieren!“

Stella saß am Küchentisch und sah zu, wie sich die Tabletten sprudelnd im Wasserglas auflösten. Sie ließ noch einige Würfel gefrorenes Blut hineinplumpsen. Das Wasser nahm sofort eine rötliche Färbung an. Obwohl sie seit ein paar Wochen sehr gewissenhaft ihre Lactulose-und Folsäuretabletten und Blut zu sich nahm, um ihren Hämoglobinwert auszugleichen, fühlte sie, dass sich nicht nur ihr Äußeres, ihr Leben veränderte. Sie spürte eine Veränderung, die ihr Angst einflößte.
Wieder nahm sie ein paar Schlucke der rötlichen Flüssigkeit zu sich und genoss den süßlich metallischen Geschmack auf ihrer Zunge
Ihr Blick fiel auf die Zeitung, die auf dem Küchentisch lag. Schlagzeilen sprangen ihr ins Auge: 6 Tote auf dem Highway, 80 Kilo Heroin sichergestellt, Messerstecherei in den Docks, Kinderschänder in Chinatown entlarvt.
Sie blätterte ein paar Seiten weiter. Plötzlich stockte ihr Atem und das Blut rauschte in ihren Adern, als sie die Überschrift las: Vampirmord in Manhatten. Die Polizei verweigert jegliche Auskunft, um die Ermittlungen nicht zu gefährden…
Sie starrte auf das Bild – Cole war genau der Richtige für sie gewesen. Er hatte die große kraftvolle Gestalt eines Athleten, eine breite Brust und muskulöse harte Oberschenkel besessen.
Lächelnd öffnete sie den Gefrierschrank. Fast zärtlich strich sie über die Beutel und Gefrierdosen.
Bob tappte in die Küche. Er setzte sich neben sie und lieb liebkosend seinen breiten Schädel an ihrem Knie.
Murmelnd zählte sie achtundzwanzig 250-Gramm-Beutel, durch vier größere Dosen schimmere es rötlich.
Coles Herz, Milz, Leber und LungenflĂĽgel.
Jäh erwachte in ihr eine bisher nie gekannte Gier.
Sie raffte drei Beutel heraus, nahm den Fleischklopfer und zertrĂĽmmerte die blutigen Eisklumpen auf dem KĂĽchentisch. Das Plastik zerriss, winzige Eisklumpen spritzen durch die Gegend, die Bob knurrend fing.
Stella war den Fleischklopfer zur Seite und griff mit beiden Händen in die zercrunchten Blutklumpen.
Gierig steckte sie sich die Stückchen in Mund, leckte die Hände ab und nuckelte an ihren Fingern. Blut, dieses kostbare Nass, ihr Lebenselexier. Stella spürte, wie die kleinen noch eisigen Klümpchen in ihrem warmen Mund schmolzen, der süßliche metallische Geschmack sich auf ihrer Zunge ausbreitete. Sie schloss die Augen und gab sich völlig diesem Genuss hin.
Ein wohliges Zittern ließ sie seufzen. Ihr Blick verschleierte sich, die Gegenstände verschwammen vor ihren Augen. Stella vernahm Geräusche, die keine eigenen Töne besaßen.
Sie lauschte – lauschte gegen den eigenen keuchenden Atemzug, ihrem hämmernden Herzschlag.
Da war etwas! Aus dem Augenwinkel heraus gewahrte sie an der Tür einen Schatten – zart und leicht wie feiner Rauch.
„Stella“, vernahm sie die zärtliche Stimme ihres Vaters.
Tränen traten in ihre Augen und der Puls jagte durch ihre Adern. „Komm! Komm zu mir! Du bist schon so nah!“
Der Schatten nahm Gestalt an. Der Mantel der Erinnerung hĂĽllte sie ein.
„Vater?“
Stellas Stimme klang bang.
„Komm!“, lockte die Stimme, die dem heiseren Timbre ihres Vaters glich.
Stella taumelte dem Lockruf entgegen. Während sie tief in ihrer kindlichen Erinnerung feststecke, folgte sie mit klopfendem Herzen dem Schatten durch den Flur in das Wohnzimmer.
„Komm, mein Kind, komm!“, sprach er. „Las dich von der Nacht umarmen, damit ein neues Leben aus der entspringen kann!“
„… Nacht umarmen! Neues Leben …“, plapperte sie und tapste wie schlaftrunken zur Balkontür.
Das Springrollo schnellte hoch und wickelte sich schwirrend um die obere Leiste.
Die Nacht glich einem riesigen schwarzen Loch und der Mond einem groĂźen starren Auge, der sie mit seinem gelben Blick durchbohrte.
Sie riss die TĂĽr auf und ihr Atem lieĂź Dampfwolken in die eisige Luft emporsteigen.
Die Kälte kroch unbarmherzig durch ihren Körper, die Zähne klapperten. „Mir ist so kalt!“
„Hab Mut, mein Kind“, schmeichelte der Schatten mit dem unnachahmlichen Timbre, wie es nur ihr Vater hatte. „Du bekommst ein neues Leben!“
„Neues Leben?“, hauchte sie und stieg auf den kleinen Stuhl, ein kleiner Schritt und sie stand auf der Balkonbrüstung.
„Komm in meine Arme, Stella! Komm!“, vernahm sie die Stimme. „Manchmal muss das Bestehende vergehen, damit daraus Neues entstehen kann …“
Tränen tanzten in ihren Augen. Die eisige Nachtluft legte sich um ihren Körper. Stella breitete die Arme aus … sie fühlte sich so frei … so glücklich …

Am nächsten Tag stand im Manhatten Daily Mirror:
Gegen 2:30 Uhr, fand man direkt vor deren Appartementgebäude in der 79. Staße, Ecke 63. Stella Hemmingways Leiche. Als die Polizei ihren Ermittlungen nachging, musste sie eine grausige Entdeckung machen.
In der KĂĽche der Toten war ein Hund, der die Reste von tief geforenen Blutbeuteln aufgeleckt hatten.
Wenig später wurde festgestellt, dass im Gefrierschrank der Toten sich über 6.500 ml Blut befanden, zudem entdeckte man noch mehrere Gefrierdosen mit Organen, die dem jüngsten Vampiropfer, Cole Netman, mittels DNS einwandfrei zugeordnet werden konnte.
Manhatten kann aufatmen. Stella Hemmingway war die Vampirmörderin und ihr Hund ihr Komplize.
Doch was veranlasste diese junge Frau, die frĂĽher als Werbeassistenin bei einem groĂźen Pharmakonzern arbeitete, diese Verbrechen zu begehen.
Dr. Marvin Kline, Leiter der forensischen Abteilung der Gerichtsmedizin, hat die These aufgestellt, dass die Täterin an Porphyria haemarrae litt, im Volksmund als Vampirismus gekannt. Bei P.h. können keine eigenen roten Blutkörperchen produziert werden. Zwar kann mit Lactulose und Folsäure bedingt das Defizit ausgeglichen werden, es gibt im pharmazeutischen Bereich schon hervorragende synthetische Produkte, doch ab einem gewissem Stadium ist nur noch das Hämatin wirksam und Leben verlängernd, dieses allerdings ist nur im menschlichem Blut reichlich vorhanden….


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