Das alte Buch Mamsell
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Peggy Wehmeier zeigt in diesem Buch, dass Märchen für kleine und große Leute interessant sein können - und dass sich auch schwere Inhalte wie der Tod für Kinder verstehbar machen lassen.
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Juli 2004
Der lange Flur wird langsam immer kürzer, oder:
von Herbert Hindringer

Herr Walser zur Leergutannahme bitte.


„Oh, entschuldigen Sie, ich wollte nicht stören.“
„Halt, junger Mann, ich muss Sie töten, Sie haben mein Gesicht gesehen!“
„Nee nee, ich hab nur auf ihre Muschi gestarrt, Ehrenwort.“
„Hiergeblieben, halt! Ich kann Sie nicht davon kommen lassen. GREEEGOOOOOOOR!“
Herbert rennt, sucht das Weite, aber er findet nichts, auch keine Zeit zu verlieren, er rennt lieber, den Flur entlang, er rennt wie blöde, und jetzt tut es ihm leid, dass er seinen IQ in letzter Zeit so wenig trainiert hat, andernfalls könnte er nun wohl ein vernünftigeres Ergebnis aufs Parkett legen, hundert Meter in zehn Sekunden oder so, er läuft mit vielen Beinen um viele eckige Ecken und trotzdem kommt es ihm vor, als würde er nur im Kreise rennen, immer wieder wirft er dabei den Kopf herum, um Ausschau nach diesem Greeegooooooor zu halten, aber wie sollte er den auch erkennen, er hat ihn ja noch nie zuvor gesehen, ah, aber vielleicht ist dieser furchterregende, riesengroße Kerl, der nun plötzlich, keine fünf Meter fünfzig entfernt hinter ihm her spurtet, vielleicht ist das ja Gregor, Herbert fragt aber gar nicht erst genauer nach, sondern läuft unvermindert weiter, noch ein wenig schneller sogar, denn die Gesichtszüge seines Verfolgers sind wohl der furchteinflößendste Anblick diesseits von Dr. Fu Manchu. Rennen rennen rennen. Ein Pferderennen wär jetzt zu langsam, am besten ein Autorennen, immer den Flur entlang, rennen, so schnell er kann, wie verrückt, und es tut ihm jetzt irgendwie auch leid, dass er die letzten Termine bei seinem Psychiater hat sausen lassen; andernfalls könnte er nun vielleicht normaler laufen, nicht ganz so verdreht, denn das führt dazu, dass dieser Gregor immer näher an ihn herankommt, der lange Flur wird langsam immer kürzer.
Die Geschichte ist gleich aus, denkt Herbert. Bei 1875 Zeichen. Verdammt, das ist zu wenig. Und gelacht hat bisher auch nur einer. Und dieser Mistkerl kommt immer näher, immer immer näher, der hat mich gleich, der wird mich zermalmen, schießt es Herbert durch den Kopf und er wäre froh, wenn er jetzt selber was zum Schießen hätte, er erwartet, jeden Moment gepackt zu werden, Scheiße, denkt er, will es sogar laut schreien und eventuell auch machen, in die Hose, vor Angst, aber keine Zeit dafür, nicht mal mehr für Satzzeichen vor der Eile kommt noch die Hetze doch vor dem drohenden Ende stolpert Gregor plötzlich nicht dass Herbert das bemerken würde er rennt weiter den Flur entlang um eine Ecke rennt wie ein disqualifizierter Geher stürzt um eine weitere spitze Ecke die so spitz ist dass sie ihm in den Arm piekst und weiß immer noch nicht dass dieser Gregor über das Wort „plötzlich“ gestolpert ist er sieht sich sich nur ganz unvermittelt drei Türen gegenüber und stürzt voller Panik in alle drei zur gleichen Zeit.
Hinter der ersten Tür landet er in einer Fernsehshow und wird dort von seinem Urgroßvater überrascht, den er seit 45 Jahren nicht mehr gesehen hat und der auf den Seychellen lebt, seitdem er die Salmonellen hatte.
Hinter der zweiten Tür ein leerer Raum. Oder ein Fahrstuhl ohne Stuhlbeine. In jedem Fall geht es im freien Fall nach unten. Herbert stürzt ab. Und ein Männerchor singt dazu.
Hinter der dritten Tür passiert erstmal nichts. Das ist zwar nicht zum Lachen, aber Herbert ist trotzdem froh darüber. Er steht in einem Kinderzimmer. Er sieht sich etwas ängstlich um. Beinahe der ganze Boden ist bedeckt mit Teddybären. Und an den Wänden hängen hunderte Bilder von Leonardo DiCaprio. Immer dasselbe Motiv: DiCaprio beim süß gucken.
Naja, denkt Herbert und atmet tief durch. Er setzt sich in einen Stuhl. Und fällt fast heraus, als er ein Klopfen an der Türe hört. Aber dann bemerkt er, dass das nur sein Herz ist. Beruhige dich, denkt er und schließt die Augen. Er schließt auch am besten schnell die Geschichte ab. Kein happy end, aber immerhin noch am Leben. Schnell, bevor noch was wirklich Schlimmes geschieht:

ENDE

Er macht die Augen auf und möchte sich wieder ernsthafteren Dingen zuwenden; da bemerkt er, dass er immer noch auf diesem Stuhl in diesem Kinderzimmer sitzt. Seltsam, denkt er, da ist doch irgendwas faul. Er versucht hinter die Kulissen zu blicken und schaut dabei direkt in den Spiegel, der auf der ihm gegenüberliegenden Seite des Zimmers an einer der Schranktüren befestigt ist; er kann sich selber darin sehen... nein, nicht sich sieht er, sondern ein Mädchen, ein etwa zwölf- bis dreizehnjähriges Mädchen sieht er in dem Stuhl sitzen. Er kreischt und es hört sich an wie in der ersten Reihe eines Robbie Williams-Konzerts. Er schaut seine Hände an: zarte Mädchenhände. Er fährt sich übers Gesicht: keine Bartstoppeln. Er stürzt hinüber zum Spiegel, um sich aus nächster Nähe zu betrachten. Fasziniert starrt er das Mädchen an, welches er Grimassen schneiden oder herumhampeln lassen kann; er kann es sogar sprechen lassen, oder pupsen, oder mit den Fingern schnippen; er kann es entsetzt dreinschauen, aber auch lächeln lassen. Er kann sich drehen und wenden, wie er will, er bleibt in der Pubertät stecken. Dann geht er an den Schreibtisch, setzt sich hin und schreibt einen neuen Brief an Leonardo DiCaprio. Gott, und Bettina muss er auch noch anrufen, wegen dieser Party am Samstag. Ob die dort über Nacht bleiben darf, fragt er sich. Ich darf bestimmt wieder nicht, denkt er. Papa würd bestimmt nichts dagegen haben, aber Mama wird es wieder nicht erlauben. Aber wenn ich erwachsen bin, dann werde ich eine berühmte Gewerkschafterin sein, denkt er. Er steht auf, geht zur Tür und in den Flur hinaus, er ruft nach Gregor. Der kommt fast im gleich Moment um die Ecke.
„Ah, Gregor, was hast du denn da für eine Beule an der Stirn?“
„Ach, das ist nichts“, antwortet der.
„Naja, dann spann die Pferde an. Ich muss dann noch schnell in die Stadt.“
„Sehr wohl, Frau Liechtenstein.“
„Ich heiße jetzt wieder Luxemburg, merk dir das endlich, du Kretin!“
Herbert rafft das Kleid hoch und schleicht auf Zehenspitzen zum Arbeitszimmer des berühmten Schriftstellers Robert Walser. Er betritt das Zimmer und schließt leise die Tür. Robert wendet, am Schreibtisch sitzend, den Kopf und die beiden zwinkern sich zu.
„Du weißt, dass ich eigentlich nicht hier sein dürfte“, sagt Herbert zu Herrn Walser.
„Und du weißt, dass ich dich liebe.“
„Echt?“
„Ja. Und ich hab auch das Kokain, einen ganzen Koffer voll davon. Und ich will dich jetzt haben. Ein letztes Mal, bevor wir den plastischen Chirurgen aufsuchen. Einmal noch mit diesen Gesichtern lieben. Komm!“
„Gut.“
Mittendrin geht die Tür auf und Herberts zukünftiger Schwiegersohn steht im Türrahmen:
„Oh, entschuldigen Sie, ich wollte nicht stören.“
„Halt, junger Mann, ich muss Sie töten, Sie haben mein Gesicht gesehen!“, ruft Herr Walser.









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