Wellensang
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Die Fantasy haben wir in dieser von Alisha Bionda und Michael Borlik herausgegebenen Anthologie beim Wort genommen. Vor allem fantasievoll sind die Geschichten.
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August 2004
Shirley und Geri
von Klaus Eylmann

Greenville, South Carolina. Feierabend bei Ford Fairway. Die MĂ€nner stanken nach Öl, Schmiere, Auspuff und Schweiß. Sie standen in einer Schlange vor dem Waschbecken und wollten nach Haus. Rod besah sich im Spiegel und rieb einen Schmutzfleck aus dem stoppelbĂ€rtigen Gesicht.
“Nun mach mal!”, rief einer. Ein anderer fragte: “Warum sind Badezimmerwaagen so flach?” Jemand brĂŒllte: “Weil Rods Frau draufgestanden hat! Har har har!”
Rod verzog sein Gesicht zu einem schiefen Grinsen.
“Dann bis morgen”, sagte er, setzte sich in seinen Pickup und fuhr los. Die Wohnung befand sich im Erdgeschoss. Shirley hasste Treppen. Im Briefkasten lag ein Prospekt der Weight Watchers. Neben den BriefkĂ€sten stand ein Papierkorb.

“R-o-o-h-o-o-d”, hörte er Shirley aus dem Wohnzimmer. “Hast du an die Kartoffelchips gedacht?” NatĂŒrlich hatte er. Unter der Plane seines Kleinlasters lagen sechzig Familienpackungen.
Shirley war ein rosiges Ereignis. Wohin er seine Hand auch ausstreckte, sie war schon da. Ihre Figur hatte weder Ecken noch Kanten, desgleichen ihre Persönlichkeit. Sie war das personifizierte Schlaraffenland. Rod ĂŒbertrieb bisweilen, doch Shirley reizte zu waghalsigen Vergleichen. Sie kam ihm wie eine große Birne vor, in die man herzhaft hineinbeißen konnte. Ihre hundertfĂŒnfzig Kilo gehörten ihm. Sie liebte ihn. Das zĂ€hlte.
Auf dem Country-Kanal tanzten dickbĂ€uchige MĂ€nner mit spindeldĂŒrren Frauen. Garth Brooks sang ‘Burning Bridges’ und Shirley riss eine TĂŒte auf.
“Rod, komm zu mir auf die Couch.” Shirleys NĂ€he, ihre FĂŒlle, ihr sĂŒĂŸes Gesicht. Rod versuchte seinen Arm um sie zu legen.
“O Rod”, quietschte sie und strahlte ihn aus himmelblauen Augen an.
“Fahren wir zu Burger King”, schlug er vor. Das tat er jeden Abend.

GĂ€ste mĂ€anderten zur Kasse. “Möchtest du zwei oder drei Double Whopper?”
“Ach, gib mir lieber vier.” Das schelmische LĂ€cheln zauberte GrĂŒbchen in ihre Wangen. Shirley war ein Wonneproppen. Es gab so viel von ihr. Sie passte nicht mehr zwischen die Absperrstangen, die zur Kasse fĂŒhrten und andere Leute hielten sie fĂŒr fett. Was bedeutete das schon.
Sie bissen in ihre Whopper und sahen sich mit lachenden Augen an.

Zu Hause duschte Rod und zog sich um. Cowboystiefel, Jeans, farbiges Cowboyhemd und schwarzen Cowboyhut.
“Rod, bleib bei mir. Ich seh dich den ganzen Tag nicht und abends bist du auch weg.”
“Doch nur eine halbe Woche.” Rod gab ihr einen Kuss und machte die TĂŒr hinter sich zu.

Vor dem ‘Blind Horse Saloon’ stand ein Polizeiwagen. Jeden Tanzabend war der dort, vom Mittwoch bis Sonntag. Musik dröhnte auf die Straße. Rod war ein BĂ€r von einem Mann. Geri mit ihrem seelenvollen Blick, dĂŒnn wie Nancy Reagan, kam von den Billardtischen und warf sich ihm an den Hals. Auf der TanzflĂ€che schienen sie fĂŒreinander geschaffen. Geri wusste, welche Figur Rod tanzen wollte. Sie bewegte sich um ihn herum, unter seinem Arm hindurch, drehte sich wie ein Kreisel. Ihr leuchtender Blick ein Pulsar. Rod fĂŒhlte, dass sie ihn liebte. Es war ihm nicht unangenehm. Er tanzte seine Whopper-Kalorien weg und zog sich danach mit ihr in seinen Kleinlaster zurĂŒck.

Als Rod und Shirley am nĂ€chsten Abend auf dem Weg vom Burger King an den BriefkĂ€sten vorbei kamen, rief Shirley: “Was ist das?”, und zeigte auf einen Prospekt im Papierkorb.
“Reklame.” Rod ging weiter.
“Weight Watchers.” Rod drehte sich um und erschrak. Sie hielt diesen farbigen Zettel in der Hand.

Am Tag darauf studierte Shirley Kalorientabellen und verließ die Wohnung zu einem Power-Walk.
“Sie haben sie umgedreht”, sagte Rod spĂ€ter zu Geri und starrte in sein Bier. “GehirnwĂ€sche nennt man das.”
“Wer und womit?”
“Die Weight Watchers. Mit einem Prospekt. Ich glaube, die kommen vom Mars. Zuerst verĂ€ndern sie das Gehirn und dann den Körper.” Die große Projektionswand zeigte einen Cowboy, der von einem Bullen fiel, Linedancer tanzten den ‘Electric Slide’, ein Mann torkelte ĂŒber die TanzflĂ€che.
“Entschuldigen Sie, wenn ich mich einmische”, rief ein Mann vom Nebentisch. “Weight Watchers, diese Gewichtskontrolleure, was bilden die sich ein. Das ist eine geheime Regierungsorganisation.” Sein feistes Gesicht glĂ€nzte unter dem Cowboyhut. Auf der RĂŒckseite des Hemdes prangte die SĂŒdstaatenflagge.
“Diese verdammten Yankees. Erst eröffnen sie bei uns ihre Abtreibungskliniken, und nun dies. Haben die uns nicht genug geschurigelt? Konspirieren gegen unsere IndividualitĂ€t. Dick sein ist freie MeinungsĂ€ußerung, und die steht in unserer Verfassung. Ich lasse mich nicht mit anderen gleichschalten, mein Bauch gehört mir!” Rod gab ihm Recht. Nun hatten sie Shirley im Kreuzfeuer.
Zu Haus war die Couch verwaist. Seine Frau saß am KĂŒchentisch und las den Katalog der Mahlzeiten mit ihren Bonuspunkten.
“Fahren wir zu Burger King”, schlug Rod vor. Stattdessen fuhren sie zum YMCA. Die hatten preiswerte Fitness-Center. Eine halbe Stunde spĂ€ter saß Rod an einer dieser teuflischen Maschinen. Shirley zwĂ€ngte sich zwischen die Haltestangen eines Laufbandes.
‘Die Weight Watchers, was haben die aus meiner Frau gemacht?’ Die Verbissenheit, mit der sich Shirley quĂ€lte, hatte in Rods Augen Unmenschliches. Sie war besessen. Das war nicht seine Shirley. Irgendwann wĂŒrde sie dĂŒnn sein wie Geri. Was sollte er mit zwei dĂŒnnen Frauen? Rod stellte sich neben Shirleys Laufband und ließ es schneller laufen. Das Band summte diabolisch. Shirley keuchte, ihr Kopf rötete sich. Sie versuchte Rods Hand vom Regler zu ziehen.
“Rod, das ist zu schnell!” Ihr Atem ging stoßweise. Die FĂŒĂŸe hĂ€mmerten ĂŒber das rasende Band, dann brach sie zusammen. Halb ohnmĂ€chtig hing sie zwischen den Haltestangen. Es bedurfte fĂŒnf Muskel bepackter MĂ€nner, die Frau vom Band zu bekommen. Ein gestrandeter Wal auf dem Linoleum zwischen Gewichte stemmenden, rudernden, Rad fahrenden, laufenden, strampelnden Fitness-Fanatikern. Der herbeigerufene Arzt untersuchte Shirley. “Bei dem Gewicht hĂ€tte sie nicht so schnell laufen dĂŒrfen.”

“Willst du keine Kartoffel-Chips? Sollten wir nicht zu Burger King fahren, damit du wieder zu KrĂ€ften kommst?” Shirleys entschlossener Gesichtsausdruck machte Rod Angst. Sie aß einen Joghurt und verschwand zum montĂ€glichen Weight-Watcher Treffen.

“Sie hat schon zwei Kilo abgenommen.”
“Was ist daran verkehrt?”, fragte Geri. Die große Kristallkugel ĂŒber der TanzflĂ€che warf Reflexe auf das dunkle Haar, das sie zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte.
“Wenn es nur das wĂ€re. Sie haben Shirley verĂ€ndert. Vorbei sind unsere Abende auf der Couch, und die bei Burger King. Montags und dienstags haben wir ferngesehen. Dramen auf dem Familienkanal. Wie oft sind uns da die TrĂ€nen gekommen. Doch jetzt hat sie nur noch Kalorien im Kopf. Das macht mich so wĂŒtend.”

Rod sah sie am Eingang stehen. Shirley starrte in die Dunkelheit. Sie trug einen Cowboyhut, eine farbige Bluse und einen Rock, der bis zum Boden reichte. Rod sprang auf und ging auf seine Frau zu.
“Was machst du hier?”
“Ich will mit dir tanzen.”
Rod sah zu seinem Tisch. Geri war verschwunden.
“Das strengt dich zu sehr an.” Shirley legte ihre Arme zum seinen Hals. “Ich mache es doch nur, damit du mich mitnimmst.”
“Was?”
“Das Gewichtsprogramm.”
Rod wurde wĂŒtend. Er hatte doch Geri. Wo war die ĂŒberhaupt? DafĂŒr war Shirley da. Die gehörte auf die Couch vor den Fernseher.
Die Kapelle spielte einen schnellen Two-Step. Rod zog Shirley auf die TanzflĂ€che. Slow slow – quick quick – slow slow – quick quick, dann fing er an Shirley zu drehen. Zwei Frauen im Blind Horse. Shirley und Geri. Der DĂ€mon der Wut ĂŒberwĂ€ltigte ihn. Mit mir tanzen? Rod hetzte mit Shirley ĂŒber die TanzflĂ€che, drehte sie und hörte nicht mehr auf... Dann lag sie bewegungslos auf dem Boden. Shirley, seine Shirley, ein großer Haufen UnglĂŒck. Rod richtete sich auf. Die Menschen saßen an den Tischen und starrten ihn an. Er wartete darauf, dass sie mit dem Finger auf ihn zeigten. Ihm war, als wĂ€re er das Monster in einem Film. Erst jetzt sah er, dass er sich mit Shirley allein auf der TanzflĂ€che befand. Die Band hatte schon lange zu spielen aufgehört.
“Ein Krankenwagen!”, brĂŒllte Rod. Ihm wurde schlecht. Einer der Polizisten beugte sich zu Shirley hinab.

Am Abend darauf holte Rod seine Frau vom Krankenhaus ab. Schweigend fuhren sie nach Hause. Rod hatte noch die Worte des Arztes im Ohr. “Sie hat sich zuviel zugemutet. Sie sollte es bei ihren Übungen langsam angehen lassen.” Zu Hause sagte Shirley: “Ich mache weiter” und setzte sich an den KĂŒchentisch. Rod nahm neben ihr Platz. Gemeinsam studierten sie Kalorientabellen, spĂ€ter begleitete er sie auf dem Powerwalk und fuhr mit ihr zum YMCA. Burger King und der Blind Horse Saloon gehörten der Vergangenheit an. Shirley hatte sich seiner Kontrolle entzogen, und Rod fand es besser, sie im Auge zu behalten.
Am Montag begleitete er seine Frau zum Weight Watcher-Treffen. Dicke Menschen saßen im Kreis um eine Frau herum, die so dĂŒnn war wie Nancy Reagan. Ihr Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden. Je intensiver Geri Rod anlĂ€chelte, desto unbehaglicher wurde ihm. “Hi Rod. Willkommen bei den Weight Watchers.”







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