Der Cousin im Souterrain
Der Cousin im Souterrain
Der nach "Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten" zweite Streich der Dortmunder Autorinnengruppe "Undpunkt".
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August 2004
Fata Morgana
von Ines Haberkorn

Ich knie neben der Zisterne. Sie ist leer. Ausgetrocknet wie mein Mund, mein Hals, mein Körper. Über mir kreischt ein Falke. Geisterhaft gleitet sein Schemen übers Lager. Spendet mir eine Sekunde lang Schatten. Dann lässt er sich am Rande der Zisterne nieder. Beugt den Kopf. Findet Wasser. Trinkt. Ich spüre das belebende Nass auf meinen eigenen Lippen. Lecke sie ab. Stoße einen Schrei aus.
„Mehr!“
Der Falke antwortet: „Komm!“
Ich richte mich auf. Breite die Arme aus. Sie sind mächtige Schwingen, tragen mich schwerelos. Hoch hinauf in die Lüfte folge ich dem Falken. Blicke von dort auf die endlose Weite der Wüste. Entdecke den Palast unter mir und lande auf seiner höchsten Zinne.
Eine Stimme entbietet mir den Salâm. Ich drehe mich um. Sehe den, dem die Stimme gehört. Roter Kaftan, roter Turban.
„Yusuf! Bruder, du lebst?“
Er nickt. „Hier in diesem Palast. Alles ist mein. Sogar das Wasser.“
Mein Blick folgt seinem ausgestreckten Arm hinunter in den Hof. Ich sehe den Brunnen. Sonnenlicht bricht sich im Wasser, das vier Flüsse speist. Die Flüsse des Paradieses. Milch und Honig, Wasser und Wein.
„Komm zu mir. Dann teilen wir.“
Ich will ihn umarmen. Spüre weiche Federn.
Er schreit: „Komm!“ Stürzt sich vom Turm in den Wind.
„Yusuf, warte!“ Ich springe ihm nach. Ins Nichts. Falle. Unendliche Leere. Schlage auf. Öffne die Augen.

Wasser tropft auf meine Lippen. Gierig lecke ich es ab. Es schmeckt salzig. Ãœber mir erkenne ich das Gesicht meiner Mutter. Sie streichelt meine Stirn.
„Ich habe Yusuf gesehen“, sage ich. Meine Stimme klingt unwirklich. Rau und fern. „Er besitzt einen prächtigen Palast und Wasser, unendlich viel Wasser.“
Meine Mutter schüttelt den Kopf. „Ein Wahnbild, mein Sohn, ein Fiebertraum. Dein Bruder ist tot. Vom Wüstensand verschlungen. Aber du, Maruf, du musst leben. Wenn auch du noch stirbst, dann gibt es keinen Trost mehr für meinen Kummer.“
Sie legt ihre Hand unter meinen Nacken. Hebt meinen Kopf. Drückt eine Schale an meine Lippen. Bitteres Wasser. Ich nippe widerwillig, denke dabei an Yusuf. An den sprudelnden Brunnen. Die vier Flüsse des Paradieses. Milch und Honig, Wasser und Wein. Höre seinen drängenden Ruf. Komm!
Ich kann nicht, Yusuf. Ich kann nicht. Was soll aus unserer Mutter werden?
Ätzend wie Säure rinnt die Flüssigkeit durch meine Kehle. Ich presse die Lippen aufeinander. Keinen Tropfen mehr. Mutter stellt die Schale ab und steht auf. Sie weint. Dann schlägt sie den Vorhang am Zelteingang zurück. In der Öffnung sehe ich Yusuf stehen. Sein roter Kaftan glüht im Abendlicht. Er zieht ihn aus. Schleudert ihn zum Horizont. Dort färbt sich die Sonne glutrot.
Ich kann nicht, Yusuf. Ich kann nicht.
Kühle streicht über mein heißes Gesicht. Kriecht unter meine Decke. Ich friere. Meine Zähne schlagen aufeinander. Der Klang erinnert mich an das rhythmische Trommeln der Männer im Lager. Ich höre ihren kehligen Gesang. Ein Klagelied. Auch Yusuf singt. Seine Stimme übertönt all die anderen. Er singt von der Wüste, vom Sandsturm, von zerschlissenen Wasserschläuchen und einem Palast am Horizont, wo Milch und Honig fließen, Wasser und Wein. Der jetzt ihm gehört und für uns beide reicht.
Vielleicht, Yusuf. Vielleicht.
Todmüde schließe ich die Augen. Sehe Sand. Nichts als Sand so weit ich blicken kann. Düne an Düne. Gleißendes Licht. Flirrende Hitze. Die Zunge ein ausgetrockneter Schwamm. Taub. Pelzig. Meine Beine bewegen sich wie von selbst. Schritt um Schritt. Stolpernd. Strauchelnd. Ich falle. Hebe mühsam den Kopf. Sehe den Palast und Yusuf auf der höchsten Zinne stehen. Er wickelt den Turban ab. Setzt sich auf den Stoff und schwebt zu mir.
„Hast du dich entschieden, Maruf?“
Ich denke an Mutter. Sehe ihre dunkle Silhouette vor dem verglimmenden Licht des Tages. Schmecke ihre Tränen auf meinen Lippen.
„Gibt es im Palast auch einen Platz für sie?“
„Ja, wenn die Zeit gekommen ist“, antwortet Yusuf und streckt seine Hände nach mir aus. Unsere Finger berühren sich, weich wie Federn. Wir schlagen mit den Flügeln. Spüren den Wind darunter. Lassen uns von ihm in die Lüfte heben.
„Dann will ich kommen, Yusuf. Inschallâh, ich komme.“
Der Wind ergreift den Turbanstoff und trägt ihn zum Horizont. Ein schmaler, roter Streifen. Flüchtig aufglimmend. Erloschen.

© Ines Haberkorn
wortstreich@web.de

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
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