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August 2004

herr müller - eine liebe in deutschland

von Oliver Jung

ich erinnere mich nicht gern an meine vergangenheit – zu viele düstere kapitel! doch in jeder düsternis steckt auch trost oder wenigstens etwas nützliches wie eine erfahrung. ich empfinde das nicht unbedingt als geschenk, denn der kleinste gewinn lässt uns weitermachen, wo wir angesichts der fakten schon längst besiegt zusammengesunken sein müssten…trost – egal wie wenig es auch sein mag – verlängert die qual.

von einer dieser komplexen erfahrungen, gemischt aus seligkeit und grauen, stillstand und verzückung, möchte ich hier berichten: sie verfolgt mich bis heute, hatte den löwenanteil daran, mich zu dem menschen zu machen, der ich bin…ob das gut oder schlecht ist, weiß ich nicht. mag auch heute nicht darüber nachdenken…

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es war 1977, frühjahr. ich war damals knapp 13 jahre alt und wohnte in ****, einer mittelgroßen stadt in nrw, und ging in die achte klasse des städtischen gymnasiums. aufgrund meiner bis dahin schon wahrhaft katastrophal verlaufenen kindheit war ich ein mehr als seltsames kind, unliebenswert, mit dubiosem status in familie und klassengemeinschaft, und – kreuzunglücklich.

es machte keinen spaß, ich zu sein. ich war der letzte ort, an dem ich sein wollte, aber es gab kaum auswege: altklug und frühreif wie ich war, konnte ich mit gleichaltrigen wenig anfangen, sie waren mir ein graus, bis in die tiefste tiefe meiner seele unerklärlich und abstoßend. ich spielte nicht gerne mit anderen kindern: jeder kontakt machte klar, dass sie – so unterschiedlich und untereinander verfeindet sie im konkreten fall sein mochten – etwas gemeinsam hatten, ein geheimnis teilten, dass mir völlig unbegreiflich blieb, und die erfahrung, völlig anders als die anderen zu sein, erfüllte mich mit entsetzen und trieb mich von ihnen weg, ließ mich mein bedürfnis nach aufmerksamkeit, bestätigung, ja zuwendung lieber bei anderen suchen.

mit älteren, am besten erwachsenen (nicht meinen eltern natürlich) kam ich prima aus, obwohl ich sicherlich furchtbar anstrengend war in meiner verzweiflung und herzensangst.

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in diesem frühjahr kam herr müller an unsere schule, und obwohl ich ihn zunächst gar nicht beachtete, nahm von diesem punkt an eine geschichte ihren anfang, die für einen von uns tödlich und für den anderen mit jahrzehntelangen gewissensqualen und dem bewusstsein einer schweren schuld endete. – ich denke, dass keine große unklarheit darüber herrschen kann, welchen part ich erwischte. herr müller hat meines wissens bis zu seinem bedauernswerten ende nie mit jemandem über die vorfälle gesprochen und selbstverständlich auch keine aufzeichnungen hinterlassen, die licht in seine (und meine) angelegenheit hätten bringen können. hätte er damals reden können, wäre alles anders gekommen…oder auch nicht…wer weiß…?

wenn er nicht in der zwischenzeit auf einer séance ins plaudern gekommen ist, bin ich bis zum tage des jüngsten gerichts vor seinen anklagen sicher. seine rehaugen allerdings haben mich bis heute verfolgt. vielleicht wegen meiner tatsächlich vorhandenen, vielleicht auch nur eingebildeten schuld, habe ich in den jahren seitdem ein juristisches studium absolviert, gehetzt, perfektionistisch, immer in angst vor entlarvung, bin ein strafverteidiger geworden, dessen name zumindest in fachkreisen süddeutschlands einen gewissen klang hat. wenn wir uns also tatsächlich einst bei dieser menschheitsweiten gesamtabrechnung wiedertreffen sollten, werde ich ihm vor allem eine frage stellen, um die saalmeinung zu meinen gunsten zu kippen: „wie konntest du mir das nur antun? – trotz allem war ich doch ein kind!“ – aber gut, wir werden sehen. immerhin ist bis zu prozessbeginn ja noch ein bisschen zeit, sich über beweismittel und strategien klar zu werden…

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ich sah herrn müller das erste mal an einem montag, in der fünften stunde. war die schule schon insgesamt grauenhaft, erfuhr sie jede woche anlässlich des schulsports eine kaum vorstellbare dramatische steigerung. auf der nach oben offenen horrorskala (die wie jene für erdbeben keine proportionale ist) toppte sport einfach alles – ohne dadurch den rest erträglicher zu machen. meine furcht und mein ekel spielten mir auf perfideste weise mit: war die stunde vorbei, trat keine erleichterung ein, sondern die uhr sprang sofort auf rückwärts, zählte mir drohend die tage, stunden, minuten, sekunden bis zur nächsten sportstunde vor…

unerbittlich überfiel mich die angst auch mitten in der woche, während ich las oder malte (alles dinge, die ich gerne tat), und steigerte sich am montag bis zum wahnsinn. ich will an dieser stelle versuchen zu erklären, wieso das so war (damals hatte ich keine erklärung, brauchte auch keine…die gefühle waren stark genug, um mich auszufüllen und unterzutauchen…

groß und kräftig wie ich auch scheinen mochte, hatte ich dennoch ein völlig gestörtes verhältnis zu meiner körperlichkeit. zuhause weinte ich manchmal vor scham und ekel darüber, überhaupt einen körper haben zu müssen. ich wollte keinen körper haben – warum hatte gott mir das angetan? ich verschlang science-fiction-geschichten, in denen hoch entwickelte spezies nur noch gehirne, verpflanzt in komplizierte maschinen – oder besser noch – reine energiewesen waren, und hoffte auf einen baldigen evolutionären quantensprung, der natürlich nicht kam. andererseits erinnere ich mich aber durchaus, als kind sehr verschmust gewesen zu sein. ich schmuste gerne mit meiner mutter und meiner oma. offenbar hatte es ab und zu auch seine guten seiten, einen körper zu haben…?

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in diese prekäre phase, in der ich mich zu allem übel auch noch vermehrt mit meinem ungeliebten körper herumschlagen musste, platzte herr müller wie die verkörperung der sonne, ob seiner blonden haare eine lichtgestalt im wahrsten sinne des wortes. dabei denke ich heute, er sah bestenfalls leidlich gut aus. aber es ging sowieso weniger um sein aussehen, als um das, was er für uns darzustellen gekommen war.

vielleicht ging deshalb ein kollektives aufstöhnen durch die miefige turnhalle, weil herr müller im gegensatz zu den anderen sportlehrern recht jung war. er hatte etwas unschuldiges. auf den ersten blick hätte er einer von uns sein können, aber er war natürlich älter, doch nicht zu sehr, mehr so was wie ein bewunderter älterer bruder oder ein comicheld, dem man nacheifern konnte.

wie soll ich ihn beschreiben? – wo und wie anfangen? – die nase, ja, seine nase ist ein guter ausgangspunkt…
seine nase war ziemlich gerade, und spitzte sich vorne zu. darauf saß eine kleine, runde kugel, die sich in der mitte einschnürte, wie eine aprikose oder ein pfirsich (oder ein hodensack, aber diese ähnlichkeit realisierte ich erst wesentlich später). sein kinn war ähnlich zwillingshaft gerundet, allerdings mit einem deutlicheren grübchen. über seiner hohen stirn thronten blonde locken, irgendwo zwischen mitteleuropäischer jesus-version und den rittern der tafelrunde. sein körper…mmmmh…sein körper – war den augen eine freude…! – sportlich, aber nicht übertrieben aufgebläht. behaart, aber nicht wie ein mann, sondern wie ein jüngling. – dieser körper, den ich begehrenswert fand (als meinen eigenen), beschämte mich und die anderen schüler, weil wir genau sahen, dass er einem mann gehörte, während unsere körper noch kindlich rund und an den wichtigen stellen nahezu haarlos durchs leben irrten. wir alle liebten herrn müller. allerdings aus sehr unterschiedlichen gründen und mit sehr unterschiedlichem anspruch. aber auf jeden fall wollten wir so sein wie er.

zu seinen augen muss ich wohl noch etwas sagen. die fielen mir als erstes auf. sie waren blau, dunkelblau am rand, zur mitte zu heller, und hatten einen gleichermaßen erschrockenen wie erschreckenden ausdruck. etwas von fanatismus, sektiererei und selbstkasteiung wetterleuchtete darin. natürlich hätte ich das damals noch nicht so hellsichtig benennen können, aber ich spürte es sofort und sollte durch die ereignisse recht bekommen. er war der perfekte märtyrer…trotz und stolz und liebe…

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herr müller wohnte nur eine querstraße weiter bei seinen eltern und fuhr einen sahnefarbenen vw käfer, nicht mal das neueste modell. das war zwar in unseren augen nicht geeignet, seine männlichkeit zu unterstreichen, ließ ihn jedoch auch näher bei uns verweilen…

regelmäßig lief er seine runden durch das viertel, lange bevor wir lernen sollten, dass es sich bei dieser tätigkeit um sogenanntes „jogging“ handelte.

ich wurde immer ganz aufgeregt, wenn er mir irgendwo in „unserem“ viertel begegnete und mich grüßte – keine kleine auszeichnung bei mehreren hundert schülern, die er pro woche sah, und in meinem schwärmerischen herzen machte ihn dies fast schon zu etwas wie meinem persönlichen besitz, denn keiner meiner mitschüler wohnte in meiner nähe.

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schon bei diesen begegnungen, bei denen ich innerlich wegen meiner merkwürdigen gefühle für den schönen lehrer erzitterte, hatte ich manchmal jäh die empfindung, etwas an mir würde ihn erschrecken. heute bin ich mir sicher, dass es mein intensiver blick war, und nicht nur das, sondern mehr, das essenziell skorpionische an mir, das seitdem viele menschen irritiert hat. damals dachte ich, dass herr müller direkt durch mich hindurchsehen könnte, und ich begriff nicht, dass ich schon längst begonnen hatte, meine wünsche auf ihn zu projizieren und nur deshalb glaubte, sie schwebten überlebensgroß, unmöglich zu ignorieren, überall um mich herum wie ein schwarm exotische falter…und genauso wenig begriff ich, dass hinter der anbetung des „goldlockigen jünglings“ insgeheim ebenso stark das verlangen verborgen war, ihn zu unterwerfen.

ich sagte niemandem etwas von den zwiespältigen reaktionen, die herr müller in mir auslöste – kunststück, ohne freunde, ohne vertraute – nur einmal verriet ich mich beinahe, als ich bei meinen klassenkameraden damit angab, dass herr müller nur eine straße weiter wohnte und er mich jedesmal grüßte, wenn er mich sah. „gott noch mal, du tust ja gerade, als ob der dir gehört“, meinte jörg, und rainer setzte blitzschnell boshaft nach: „nee, als ob du was von dem willst“. dann lachten alle, und ich stand mit hochrotem kopf dabei, um haaresbreite der entdeckung entronnen, und niemand außer mir wusste, wie dünn das haar wirklich gewesen war.

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der sportunterricht machte mich nach wie vor halb wahnsinnig, aber nun, mit herrn müller, der der erste intelligente, nette UND anständige sportlehrer war, den wir je gehabt hatten, stellte ich fest, dass zumindest das bedürfnis, IHM zu gefallen, alles ein winziges bisschen erträglicher machte. ich traute mich etwas mehr, meinen körper zu benutzen. allerdings störte es mich, dass die anderen ihn auch anschauen durften, und es störte mich noch viel mehr, dass er sie nicht rundheraus ignorierte, dieser wahllos verfügbare mensch, dabei war ich meiner monomanischen besessenheit vom lehrkörper doch selbst nicht treu: unter der dusche schielte ich heimlich nach den anderen jungs, um zu vergleichen, aber auch, weil mich der anblick ihrer nackten leiber erregte (gottseidank nicht mit sichtbaren anzeichen…).

an dem tag, als mein verhältnis zu herrn müller eine entscheidende wendung erfahren sollte, ahnten wir beide nicht, was das schicksal für uns vorgesehen hatte. es war der übliche grauenhafte montag, an dem die ungeliebte schule wieder anfing, gemildert nur durch den umstand, dass die wochenenden mit meiner familie, speziell der sonntag, nicht gerade ein zuckerschlecken, sondern eher ein vorgeschmack auf das grab war, und die schule spätestens um 13 uhr vorbei, was auf die übliche länge eines mittleren sonn(en)tages nicht gesagt werden konnte.

wir hatten sport, und herr müller spielte in einer der mannschaften mit, weil einige schüler krank waren. tja, ich weiß nicht mal mehr, was wir eigentlich spielten, aber irgendwie gingen wir zwei bei einem missglückten spielzug gemeinsam zu boden, in einer verwickelten choreographie aus wegstoßen, festhalten, abstützen und diversen drehungen um die eigene und die achse des so bewunderten lehrkörpers. ich kam auf dem rücken zu liegen – und herr müller direkt auf mir.

für eine weile schien die welt stillzustehen. sicherlich war der sturz schmerzhaft und herrn müllers gewicht auf mir nicht die reine freude, aber blitzschnell fühlte ich auch wohlbehagen und dieses ziehen im unterleib, das die aufkommende erregung bezeugte. ich roch herrn müllers frischen, erwachsenen schweiß, spürte seine wärme und noch etwas anderes, etwas, das sich an mich presste und sich zu verhärten schien und dabei auf wachsenden widerstand stieß… und ich sah die erschreckenden und erschrockenen blauen augen so nah an den meinen, wie sie noch nie zuvor gewesen waren.

dann war es vorbei. ich weiß bis heute nicht, wie ich mich aus der affäre zog, aber herr müller hievte sich blitzschnell auf seine füße und humpelte eilig davon, wobei er uns allen seine wohlgeformte rückseite zudrehte. so ganz verstand ich damals nicht, wieso er gerade in den rückwärtigen teil der sporthalle ging, weg vom spiel, weg von uns, seinen schülern, aber in den jahren seitdem ist es mir natürlich klar geworden.

„das gibt ärger“, sagte jörg mit einem mitleidigen blick auf mich, als sei bei mir gerade eine tödliche krankheit diagnostiziert worden, und rainer meinte trocken: „das war’s dann für dich bei müller!“. sie halfen mir auf, der vermutlich letzte freundschaftsdienst, den sie mir erweisen konnten.

aber herr müller kam irgendwann zurück, und ohne den vorfall mit nur einem wort zu erwähnen, wurde das spiel fortgesetzt. ich saß am rand und versuchte so gut es ging meine erektion zu verstecken, bevor es mir gelang, sie durch abscheuliche bilder von alten, faltigen frauen und gequälten labortieren verschwinden zu lassen.

dann humpelte ich in die umkleide. keiner störte sich daran, obwohl es sonst streng verboten war, sich vor unterrichtsende aus der halle zu entfernen. – in dieser nacht hatte ich den ersten feuchten traum, an dessen bilder ich mich zumindest ein bisschen erinnern konnte. zwei blaue kreise in weißen ellipsen spielten darin eine tragende rolle.

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die ganze woche bis zur nächsten sportstunde machte ich im viertel jagd auf herrn müller. nur einmal gelang es mir von weitem, ihn zu erspähen, und vielleicht hatte er mich auch gesehen, denn er beschleunigte sein tempo urplötzlich und verschwand in dem kleinen wäldchen beim bahndamm. traurig, auf einmal schwerfällig wie ein gestrandeter wal, schleppte ich mich nach hause.

der nächste montag verlief unspektakulär. herr müller spielte allerdings nicht wieder mit uns, obwohl die grippewelle immer noch andauerte und sich kaum sinnvolle mannschaftsgrößen bilden ließen.

ich versuchte die ganze zeit, seinen blick aufzufangen, aber es gelang mir nie, entweder weil die umstände es nicht zuließen oder er mir bewusst auswich. schließlich gab ich auf. die sportstunde war zuende. jetzt stand duschen und umziehen auf dem programm.

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unter der dusche trödelten wir immer herum, das war nichts neues, aber heute trödelten wir alle besonders lange, und ich und jörg von allen am längsten.

ich weiß nicht mehr wieso, aber irgendwie kam es mit jörg zu einer spielerischen rangelei, in deren verlauf er auf allen vieren landete und mir seinen kleinen prallen hintern entgegenreckte. wir waren inzwischen allein in der dusche, die anderen waren schon längst gegangen.

in dem moment, als ich meinen fuß wie ein erfolgreicher großwildjäger auf den verlängerten rücken meiner beute stellte, lachend und prustend, und dabei – wirklich ungeplant – kurzfristig in den abgrund zwischen jörgs hinterbacken geriet, tauchte plötzlich herr müller auf, der uns gehört haben musste, noch im trainingsanzug, wohl auf dem vorgeschriebenen kontrollgang zum abschluss des unterrichts. mir blieb fast das herz stehen. ich traute mich gar nicht, ihm in die augen zu schauen (und wusste nicht, warum) …aber statt dessen sah ich blondes haar aus seiner offen stehenden jacke hervorleuchten (auch nicht schlecht). auch jörg war wie vom donner gerührt. „was macht ihr denn noch hier?“ belferte er, „ – und was soll der quatsch? – los, auseinander!“ herr müller, der im ersten moment überrascht gewesen zu sein schien, war auf einmal sehr verärgert. so kannten wir ihn gar nicht. verlegen rappelte sich jörg auf. „und du kommst mit mir! und zwar sofort!“ damit meinte herr müller mich, und ich freute mich gar nicht, unter diesen umständen mit meinem idol allein zu sein.

unter dem eindruck der unverständlichen katastrophe trottete ich schicksalsergeben wie ein hündchen hinter herrn müller her, und dachte nicht einmal daran, die unterhose anzuziehen, die ich immer noch in der hand hielt.

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„hör mal, was ist eigentlich mit dir los? du schaust mich immer so an!“ – herr müller redete unter dem gehen, halb über die schulter, immer noch zorning, weshalb eigentlich, und weshalb sollte ich ihm überhaupt in sein allerheiligstes folgen? was hatte ich schlimmes getan?

aber es kam noch besser: in der kabine angekommen, zog er sich aus, mit dem rücken zu mir, immer noch schimpfend, aber ich hatte nur augen für seine breiten schultern, den schönen hintern und die noch schöneren beine. ohne mich anzuschauen, ging er unter die dusche und stellte das wasser an. „und was war das eben mit jörg?“ ist das dein kleiner freund?“ – wie der das „freund“ aussprach, schien es eine versteckte bedeutung zu haben, die sich mir entzog, aber die gehässigkeit in seinem ton spürte ich genau, und sie erschreckte mich und tat weh.
endlich drehte er sich um. ich sah, wie das wasser an seinen blonden haaren herab über seinen ganzen körper bis auf den boden lief.

in diesem moment trafen sich unsere blicke, das blau erschrak und erschreckte mich so, dass ich all meinen mut zusammennehmen musste, um tun zu können, was ich tat, nämlich die kleine distanz zwischen uns zu überbrücken und mich an ihn zu klammern. meinen kopf legte ich auf seine brust, halb schutzsuchend, halb in dem versuch, den zornigen abgott zu beschwichtigen, in den der sanfte herr müller sich so überraschend verwandelt hatte. ich spürte sein herz pochen. das fühlte sich soviel besser an als die brust von mutter oder oma…und dann legte sich seine hand ganz vorsichtig auf meinen kopf.

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heute, rückblickend, ist es sehr schwer, diese mischung aus unschuld und zielstrebigkeit richtig darzustellen, die mich damals beseelte. es ist auch schwer zu unterscheiden, was jede handlung, jede unterlassung, jedes wort, jeder blick, jede berührung zu bedeuten hatte, was sie beitrugen zu dem unentwirrbaren knäuel, in das wir uns in dieser hässlichen umkleide verhedderten, was wir beide darüber wussten, wo das einmal enden würde zwischen dem 13-jährigen schüler und dem knapp doppelt so alten lehrer.

ich weiß nur, dass es ohne das wasser, das ihn wie eine decke umfloss, niemals möglich gewesen wäre, zu ihm zu schlüpfen, dass er mich streichelte und ich ihn, dass wir uns erst umarmten, dann umklammerten, und schließlich beide zum höhepunkt kamen. für mich war es das erste mal. ich schloss meine augen und ließ mich treiben. ich war nur fühlen, erregung, drängen. das warme wasser relativierte jede grenze und jede bewegung, die die grenzen niederriss…

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als es vorbei war, trockneten wir uns jeder für sich ab, voneinander abgewandt. ich war nun wieder ganz mutlos, aller mut war aus mir herausgeflossen, und ich fragte mich, ob was jetzt mit mir passieren und ob ich herrn müller je wieder in die augen sehen könnte. aber er reichte mir schweigend ein handtuch, eines von seinen, riesig, weiß und flauschig. das war genau so weit, wie er jetzt noch gehen konnte, jetzt, da das wasser nicht mehr über und um uns herum floss und die grenzen zwischen zwei menschen sich rasend schnell wieder aufrichteten.

wie ich an diesem tag nach hause gekommen bin, ist mir entfallen. ich verbrachte die tage in einem ständigen taumel, versuchte jede sekunde mit meinem abgott in gedanken noch einmal zu erleben, weinte vor zorn, weil ich befürchtete, irgendeine kleinigkeit nicht mehr richtig zu erinnern.

allerdings dürfte von uns beiden herr müller die schlimmere zeit erlebt haben. er hatte sich mir ausgeliefert: seine gesamte bürgerliche existenz hing nun von meiner klugheit und meinem charakter ab.

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ich stellte ihn abends auf dem weg neben dem bahndamm. er stoppte abrupt, sagte verwirrt „hallo!“, wurde tatsächlich über und über rot, und fasste sich unmotiviert in die haare wie ein backfisch.

auf ihn zuzugehen, ihn mit meinem blick zu lähmen, und in einer fließenden bewegung meine hand zwischen seine haut und seinen hosenbund gleiten zu lassen, dauerte die länge eines gedankens. ich zog herrn müller in die tiefe der felder. er wehrte sich nicht. diesmal liebten wir uns im trockenen, mit offenen augen, und ich schwöre, dass mit dem moment, da ich hand an ihn legte, unser verhältnis endgültig kippte. ich war von nun an der stärkere und er wusste es (denn ich sah es in seinen augen). er wusste es nicht nur, er erkannte es sogar an. er gab nach, weil er aufgab, und er gab auf, weil er aufgeben wollte.

von liebe sprachen wir nie. auch nicht von was anderem. die intensität war einfach zu groß, zumindest auf meiner seite. wir sprachen eigentlich nie von dem, was wir taten, was es bedeutete; noch weniger von einer zukunft, denn es war auch ein ohne ein wort völlig klar, dass wir keine zukunft haben konnten.

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bis heute würde ich nicht mal behaupten, dass herr müller oder ich wirklich schwul waren. noch weniger war er ein kinderschänder, da selbst noch ein gutteil kind, und ich meinem alter sehr weit voraus, auf keinen fall ein wehrloses opfer. was mich wehrlos machte, war die macht meiner verzweiflung und die daraus geborene leidenschaft, aber nicht er, NICHT er. viel eher hätte man ihn als MEIN opfer bezeichnen können, da ich trotz meiner jugend der stärkere von uns beiden war…es gelang herrn müller nicht, sich aus dem sog dieser verhängnisvollen leidenschaft zu lösen, die uns mit der unausweichlichkeit einer existenziellen notwendigkeit überfallen hatte.

ich hoffe, er hat nie gedacht, dass ich ihn erpressen wollte. eher hätte ich mich vierteilen lassen, als ihn zu verraten. ich liebte ihn, allerdings in der göttlich imperfekten, allumfassenden und gleichzeitig so begrenzten, blinden art, in der menschen lieben, bevor ihr erwachsenes bewusstsein sich entfaltet hat.

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die erotisch gefärbten hakeleien und betriebsunfälle in der schule hatten nun ein ende. wir gingen im beisein der anderen völlig normal miteinander um. wir trafen uns nach der schule, ohne dass wir uns verabreden brauchten. es war einfach klar, dass wir uns treffen mussten. unsere spiele schritten dabei von runde zu runde weiter fort, er immer noch mein lehrer, aber je mehr zutrauen ich zu meinem körper fasste, entdeckte ich irgendwann, dass ich mehr über die physische seite der liebe wusste, als ich je gelernt haben konnte.

nur mit der seele haperte es noch ein wenig. aber auch das verging: er küsste mich eines tages, und ich, der anfänglich vor der intimität des kusses zurückschrak (so viel größer als die intimität dessen, was die anderen „sex“ nannten…!), überwand mich, ließ mich gehen, entdeckte meine leidenschaft, befreite sie, und überwältigte herrn müller damit.

es war wie auf einer wippe: die vorstöße des älteren mannes weckten meine leidenschaft und meine eigene männlichkeit, jedes begehren von ihm, das meine hingabe wünschte, weckte mein begehren und ließ mich meinerseits hingabe fordern.

…die ich auch bekam.

unsere liebesakte waren frei von scham und schuld. die zeit dazwischen jedoch gab dem kummer und der angst breiten raum – bei ihm natürlich viel mehr als bei mir…ich war höchstens eifersüchtig auf die anderen jungs, denen er am reck hilfen gab…

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eines tages erschien herr müller nicht an unseren treffpunkten. mittlerweile war es hochsommer, und die hitze echote perfekt den taumel in sinnen und seele, der mich unablässig durch die tage kreiselte. In die schwärzeste nacht gesunken war ich am dritten tag ohne meinen geliebten, und ich hielt es nicht mehr aus.
heimlich schlich ich mich aus dem haus – ich, der brave, der NIEMALS so etwas getan hätte – und im schutze der dunkelheit durch gärten und über zäune auf umwegen zu herrn müllers elternhaus. ich wusste, wo sein zimmer war, und als ich in den schatten auf dem hof stand und zu dem dunklen loch eines geöffneten fensters emporstarrte, stellte ich mir vor, wie sein begehrter und geliebter körper dort unsichtbar schlief und träumte, fast wie tot. in meiner exaltation meinte ich sogar, ihn atmen hören zu können, was völlig unmöglich war. da tat ich etwas, was ich mich vorher nie getraut hätte: ich kletterte wieselflink und schlafwandlerisch sicher erst auf den baum im hof, von dort aus auf das kleine vordach und dann durch die fensteröffnung zu herrn müller ins schlafzimmer. er erwartete mich dort schon, geweckt durch das tappen meiner füße auf dem windigen teerpappedach. im dunkeln sah ich das glitzern seiner augäpfel. er streckte die arme aus, in einem gestus, der mehr abwehr und resignation als begeisterung ausdrücken mochte…was mir hätte auffallen müssen, wäre ich damals tatsächlich ein erwachsener mann gewesen, und nicht nur ein lüsternes kind.

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wir liebten uns von nun an in seinem zimmer. wie das all die wochen gut gehen konnte, ist mir schlechterdings unbegreiflich. sicher, seine eltern waren alt und vielleicht ein bisschen schwerhörig, aber schließlich gab es da noch die nachbarn – und ich selber hatte auch eltern, und die waren im gegensatz zu denen von herrn müller noch recht rüstig.

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einmal lag er in meinen armen und schien zu weinen, aber es konnte auch ein irrtum sein, weil wir wegen der hitze so mordsmäßig schwitzten. in dieser nacht erwachte ich, als er mich von hinten umklammerte und sein glied zwischen meine arschbacken drückte. es war erregend. aber auch furchterregend. irgendetwas neues passierte, und ich ließ es schließlich geschehen, obwohl es anfangs schmerzhaft war. aber der schmerz – und der befremdliche wechsel in herrn müllers verhalten, der mich an allem zweifeln ließ, was zwischen uns war – verwandelte sich ungreifbar in eine lust, die jedes mir bis dahin bekanntes maß sprengte.

es wundert mich heute noch, dass die nachbarn nicht das überfallkommando holten, denn ich schrie meine neu entdeckte lust wie eine brünstige katze hinaus in die sommernacht. ich konnte mich einfach nicht mehr beherrschen.

aber auch hier senkte sich die wippe schließlich zur anderen seite.

wir waren eines abends erschöpft eingeschlafen, als ich erwachte, aus irgendeinem grunde bis zum geht-nicht-mehr erregt. herr müller lag auf dem bauch, und ich fühlte auf einmal das starke bedürfnis, ihn unter mir zu spüren. vielleicht klingt das unglaubwürdig nach dem, was er mit mir getan hatte, aber ich weiß genau, dass ich keine vorstellung davon hatte, dass ich mit meinem penis dasselbe bei ihm tun könnte. er war schließlich ein mann, und ich nur ein junge. in solchen momenten kam die alte schüler-lehrer-sache kurzzeitig wieder hoch…

ich kniete mit gespreizten schenkeln über ihm und küsste seinen nacken, seine schultern, seinen rücken, seinen hintern. ich erforschte ihn mit meiner zunge, bis er leise im schlaf stöhnte. ich befingerte ihn, drang in ihn ein und fühlte diese unglaubliche wärme…und da kam es über mich, dort wollte ich auch sein, ich wollte durch die erwiderung seiner zärtlichkeiten unseren bund besiegeln.

ich war sehr hart und glitt rasch in ihn. er stöhnte, aber sein becken bewegte sich mir entgegen. all die zeit über war er noch nicht richtig wach, aber irgendwann begriff er, was passierte, doch zu diesem zeitpunkt war ich schon zu lange bei der sache, um mich durch irgendwen oder irgendwas von meinem werk abhalten zu lassen, und er schon viel zu erregt, um seine gegenwehr zu entschieden ausfallen zu lassen…

mit einem schrei ergoss ich mich in ihn und sank auf ihn nieder, überwältigt von den sensationen meines ersten ficks und und der vorstelllung, jetzt ein mann zu sein (was habe ich seitdem über diesen irrtum gelacht). ich bedeckte ihn mit küssen, streichelte ihn, stammelte unbeholfen irgendwelche zärtlichkeiten, und drehte ihn auf den rücken, wie eine große puppe. er war nass. sein prächtiger leib trug die spuren seiner eigenen lust. ich liebkoste seine brust, seinen bauch, sein wunderbares geschlecht und die schön prallen hoden – da hörte ich – vielmehr fühlte ich zuerst, dass herr müller weinte, weil sein schluchzen ihn und er das bett erschütterte. er schlug die hände vor die augen und versuchte, sich von mir wegzudrehen, aber ich ließ ihn nicht, ich kämpfte wie ein berserker.

ich höre mich noch immer fragen: „was ist denn? mein gott, was ist denn los??“, und sein trockenes schluchzen, und irgendwann die nässe, die zwischen seinen händen hervor auf mein gesicht drang, so salzig…

irgendwann beruhigte er sich wieder, aber es blieb eine merkwürdige nacht. wir liebten uns noch einmal, bevor ich quasi in letzter sekunde verschwand (es dämmerte schon) und diesmal war er wieder der aktive teil, so, wie er wohl dachte, dass es sein müsse, aber nichts war mehr wie zuvor, würde jemals wieder so sein.
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am nächsten tag war ich ein anderer mensch (na ja…fast). wenn vielleicht auch noch nicht ein mann, jedenfalls aber kein junge mehr. mein rücken straffte sich, zum ersten mal war es kein bewusster versuch, sich aufrecht zu halten (der eh nie länger als ein paar sekunden dauerte, bevor er in sich zusammenbrach), sondern ich hielt mich aufrecht, weil ich auf einmal den wunsch und die kraft dazu hatte. ich war zu einem anderen bewusstsein von mir selbst gelangt, das ich selbstsüchig erforschte, blind für alles außer mir, blind auch für herrn müller.

wir verlebten ein paar nächte, die mich sehr glücklich machten, da ich fühlte: wir waren nun endlich gleich. das modell schüler-lehrer hatte für unsere beziehung endgültig ausgedient.

was würde jetzt kommen? – ich dachte nicht darüber nach. ich dachte vor allem nicht darüber nach, dass unser verhältnis nach der damaligen rechtslage noch mindestens sieben jahre illegal sein würde, auch danach strafverfahren bedeutete, weil ich in den augen des rechts „abhängig“ von herrn müller war, und selbst wenn nichts davon zugetroffen hätte, wäre homosexualität selbst ohne die besonderen umstände unseres falles das bürgerliche todesurteil für den armen herrn müller gewesen

…und es konnte auf dauer nicht unentdeckt bleiben, was sich hier zwischen uns abspielte. herr müller war in dieser hinsicht wesentlich hellsichtiger als ich. hier zeigte sich, wer der ältere von uns beiden war.

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eines tages verkündete uns die stellvertretende rektorin, der unterricht bei herrn müller müsse bis auf weiteres ausfallen, da er sehr krank sei. ihre augen waren rotgeweint. auf unsere fragen bekamen wir keine antwort.

auf den gängen schlichen andere lehrer bleich, geduckt umher. die frauen hatten deutliche tränenspuren im gesicht.

mein herz sank ins bodenlose.

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das ende ist schnell erzählt: herr müller hatte sich – 29-jährig – in seinem zimmer erhängt. der abschiedsbrief sprach von einer schweren schuld, mit der er nicht leben könne, aber niemand begriff, was er damit gemeint haben könne. die wildesten gerüchte wurden in den wochen nach herrn müllers tod angestellt. er wurde der unfallflucht mit todesfolge, ja sogar des unaufgeklärten mordes an einer jungen frau verdächtigt, die direkt an seiner allabendlichen joggingroute ermordet worden war. doch in beiden fällen wurden die wahren täter gefasst, und man tappte in bezug auf herrn müllers „schwere schuld“ wieder genauso im dunkeln wie am tage der entdeckung der leiche, die von der decke baumelte.

einen gab es, der aufklärung hätte leisten können, aber dieser jemand schwieg und hat bis heute geschwiegen.
manchmal bin ich wütend auf herrn müller, wie er mir, einem mittlerweile knapp 14-jährigen, die last seines versagens aufbürdete, und ich kann nur sagen, dass ich mich ein jahr oder länger jede nacht in den schlaf weinte, ebenfalls versuchte mich umzubringen, um ihm nahe zu sein. schließlich tat ich buße, indem ich mir jeden gedanken an liebe aus dem herzen riss und wie ein mönch lebte. warum war damals das fenster nicht geschlossen, warum war damals dieses verdammte fenster nicht einfach geschlossen oder er mit kollegen einen trinken oder…

erst heute, mit fast vierzig, bin ich über herrn müller soweit hinweg, dass ich mir wieder erlauben kann zu lieben, aber manchmal überkommen mich in den armen des geliebten die bilder von damals.

das abscheulichste ist ausgerechnet jenes, das ich nie mit eigenen augen sah: herrn müllers göttlichen körper von der eigener hand verstümmelt, der abgetrennte penis in einer riesigen blutlache um den umgekippten stuhl, wie eine wurst, die man dem hund hingeworfen hat. das pikante detail sickerte nach und nach durch, so wie herrn müllers blut nach und nach in den boden seines zimmers und von dort in die küche seiner eltern gesickert war, die ihn noch schlafend wähnten.

in einer kleinen stadt bleibt auf dauer eben nichts geheim. fast nichts. –

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