Der himmelblaue Schmengeling
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Glück ist für jeden etwas anderes. Unter der Herausgeberschaft von Katharina Joanowitsch versuchen unsere Autoren 33 Annäherungen an diesen schwierigen Begriff.
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September 2004
Die kanonischen Fünf
von Sabine Ludwigs

London, 1889/1890
Aus zwei Gründen fühlte sich 1st.-Class Inspektor Frederick George Abberline nicht wohl in seiner Haut. Zum Einen leitete er die Ermittlungen im Botenjungenfall und glaubte nicht, dass er für die Aushebung eines Männerbordells und die Verhaftung homosexueller Männer – darunter viele hochgestellte Persönlichkeiten - der Richtige war
Zum Anderen war er sich deutlich der verschwörerischen Blicke des Sergeanten bewusst, der ihn zu dieser unerfreulichen Razzia in die Cleveland Street kutschieren würde. PC Ernes Thompson fungierte immer als Abberlines Fahrer, denn er kannte dessen dringendstes Bedürfnis nur zu gut.
Vor jeder Fahrt fragte Abberline sich, ob Thompson ihn für verrückt hielt. Doch das schien nicht der Fall zu sein. Im Gegenteil! Eifrig eilte er neben dem Inspektor zum Einspänner. Seine Schuhe glänzten, die Uniform war – wie stets - tadellos. Die vorschriftsmäßige Trillerpfeife, mit der die Polizisten sich gegenseitig um Hilfe riefen, hing um seinen Hals. Auch die Lampe war an seinem Gürtel befestigt und er umfasste den Polizeiknüppel mit fester Hand. Pistolen trugen die Beamten üblicherweise nie.
Inspektor George Abberline, wie gewöhnlich in Zivil, hielt seinen Bowler gegen eine plötzlich aufkommende Windböe fest und knöpfte dann seinen langen, weiten Mantel zu.
PC Thompson riss diensteifrig das Trittbrett herunter, eilte um die Kutsche herum und saß, noch bevor Abberline sich in den Polstern unter dem knappen Verdeck niedergelassen hatte, neben ihm.
Abberline warf einen kurzen Blick auf seine schwere, goldene Taschenuhr. Noch eine Stunde, bis sie zuschlugen. Er fuhr gerne früher zum Ort des Geschehens, machte sich mit der Umgebung und Atmosphäre vertraut. Und nicht nur deswegen ...
„Fahren Sie los, Thompson. Sie wissen ja - Cleveland Street.“
„Jawohl! Den üblichen Umweg, Sir?“
Abberline nickte bedächtig. „Den üblichen Umweg.“
Wäre es Thompson im Sitzen möglich gewesen, er hätte salutiert. Seine Hochachtung für Abberline kannte keine Grenzen.
Abberline hatte sich nicht gescheut, Tage und Nächte im schlimmsten Viertel Londons zu verbringen: in der runtergekommenen, düsteren Gegend um die Dorsett Street. Insbesondere das East End war ein grausames Pflaster. Raub und Vergewaltigung waren hier an der Tagesordnung. Selbst ein Mord war nichts Besonderes.
Das alles änderte sich jedoch mit dem 31. August 1888, als sich die Tore zur Hölle öffneten und eine Kreatur ausspieen, vor der ganz England graute.
Man konnte es in allen Zeitungen lesen, die Blätter berichteten von nichts anderem. Im Metropolitan Police Hauptquartier war es über Wochen das wichtigste Gesprächsthema gewesen - und sie beide steckten damals mittendrin.
Als Thompson bemerkte, wie Abberlines sorgfältig gestutzter Schnauzbart sich vor Unbehagen sträubte, da wusste er ganz genau, wo der Inspektor mit seinen Gedanken weilte.

London, ein Jahr zuvor
Ginger wurde die Tote genannt, wegen ihrer rotbraunen Haare. So, wie viele andere Rotschöpfe auch. Ihr richtiger Name lautete Mary Jane Kelly. Sie stammte aus Limerick, Irland und arbeitete als Prostituierte.
Als Abberline ihre ehemalige Vermieterin befragte, zupfte diese nervös an ihren ondulierten Haaren: „Mary war gut zu anderen Menschen. Anständig. Ein liebes Mädchen. Leider hat sie sich oft mit Mr. Barnett gestritten. Auch an dem Tag, als sie starb. Wie ein Verrückter hat er geschrieen!" Ihre Antworten kamen leise und ein wenig kurzatmig, da ihr das straff geschnürte Korsett die Luft nahm.
„Empfing sie viele Besucher?“, wollte Abberline wissen.
„O nein, Inspektor, sie hatte ja niemanden. Das arme Ding!" Sie schüttelte bedauernd den Kopf.
Auch Joseph Barnett, ihr ehemaliger Lebensgefährte, bestätigte, Mary habe keinen Kontakt zu ihrer Familie gehabt. „Das Trinken allein war nicht der Grund, warum ich mich von ihr trennte,“ äußerte Barnett. „Ich konnte es einfach nicht ertragen, wenn sie sich wie eine verdammte Hure verkaufte!“ Sein Gesicht rötete sich vor Zorn. Dann entschuldigte er sich und lockerte seine breite Krawatte. „Bitte verzeihen Sie, Sir. Das alles geht mir wirklich nahe, denn ich blieb Mary als Freund sehr eng verbunden.“
Manchmal verwandelte sich Mary Jane Kelly in Ginger. Dann wurde sie zu einer anderen, ähnlich, wie in dem momentan bejubelten Theaterstück, das seinen Zuschauern den Atem nahm und sie mit Entsetzten erfüllte: Dr. Jekyll und Mr. Hyde.
Sie gab sich Alkohol und Opium in einem Maße hin, dass sie in diesem Zustand nirgendwo willkommen war. Wenn sie getrunken hatte, wurde sie sehr ausfallend und zänkisch. Man sah sie oft Tagelang nicht. Nüchtern jedoch war sie das angenehmste Mädchen, dass man sich vorstellen konnte.
1884 kam sie nach London, soviel hatte Abberline herausgefunden. 1888, am 9. November, wurde sie für kurze Zeit zu einer Berühmtheit. Sein letztes Opfer.
Mary Ann Nichols.
Annie Chapman.
Elizabeth Stride.
Catharine Eddowes.
Und schließlich Mary Jane Kelly.
Die kanonischen Fünf.
Die junge, attraktive Mary Jane Kelly starb im Alter von nur fünfund- zwanzig Jahren durch die Hand eines Serienkillers, der von August bis November 1888 fünf Huren tötete.
Jack the Ripper.
Erwürgt, die Kehle aufgeschlitzt und dann ausgeweidet wie Schlachtvieh.
Keine wurde so grausam verstümmelt wie sie. Ein Klumpen blutiges Menschenfleisch, bis zur Unkenntlichkeit verunstaltet. Ohne Gesicht und Brüste. Auf dem Tisch, neben ihrem Bett, lag das Fleisch ihres Bauches und ihrer Schenkel. Nur anhand ihrer roten Haare und der Kleidung konnte sie identifiziert werden.
Doch war sie tatsächlich sein letztes Opfer?
Auch, wenn er es nicht laut aussprach: 1st. Class-Inspektor Abberline hatte mittlerweile seine Zweifel. Und das hatte mit dem Brief zu tun, den er an jenem kalten morgen im Januar 1889 bekommen hatte.

Aus Jacks geheimen Tagebuch:
Es gibt Zeiten, da ich einen unüberwindlichen Drang verspüre jemanden von meiner Mission zu erzählen. Wahrlich, die Gedanken an meine künftigen Taten erregen mich sehr. Die Zeit vergeht viel zu langsam, ich will meinen Feldzug voll Ungeduld fortführen. Ich bin der festen Überzeugung, dass Gott mich gesandt hat, um die Huren auszulöschen.
Die Bullen sind überall. Trotzdem sende ich Briefe an Abberline. Ich kann nicht anders! Das ist gefährlich, ich weiß es wohl. Wenn ich bestimmt bin die Huren zu metzeln, darf nichts die Staatsgewalt auf meine Spur bringen.
Ginger war mein Meisterstück! Ich brauchte eine Rothaarige. Es dauerte seine Zeit bis ich eine fand, aber schließlich stand sie vor mir. Die Haare, das Alter. Ich war wie benebelt.
Sie war noch Frischfleisch. Ging nur ab und an auf die Straße, aber ich kannte die Schlampe. Wieso hatte ich nicht gleich an sie gedacht? Doch Gott schickte sie mir zur rechten Zeit über den Weg. Ginger war betrunken. Sie erschrak als ich mich neben sie stahl. Dann erkannte sie mich. Erleichtert sagte sie: „Ach, du bist es. Hast du was zu trinken?“
Ich lächelte, schlenderte neben ihr her und zog das Fläschchen Whiskey aus der Tasche. „Sicher, aber nicht hier.“
Ginger hakte sich bei mir unter, lachte dümmlich und brachte mich in ihr Zimmer. Ein mieses Loch in einem Hinterhof. An alles erinnere ich mich.
Sie trank den mit Laudanum versetzten Whiskey. Schon bald war sie weggetreten. Ich legte die Schlampe auf das Bett, schlang meinen Schal um ihren Hals und würgte sie langsam. Sie erwachte nicht. Ihr Gesicht lief blau an, aus ihrem Mund hing die geschwollene Zunge. Speichel tropfte heraus, lief über ihr Kinn. War sie schon tot? Ich zog mein blitzendes Messer, den Hurendolch, und durchtrennte ihre Kehle. Das Blut kam in einem heißen, dunklen Schwall. Meinem Schnitt folgte kein Schrei. Ich war sehr verärgert, als der Kopf nicht abgehen wollte!
Auf das Gesicht habe ich von allen Seiten eingeschnitten. Die Nase, die Wangen, Augenbrauen und die Ohren entfernte ich teilweise. Ich schlitzte tiefe Schnitte von den Lippen bis zum Kinn hinunter.
Es war eine so starke Lust, wie ich sie noch nie zuvor empfunden hatte.
In jener Nacht schickte ich die Hure zu ihrem Schöpfer. Mochte sie ihm so willkommen gewesen sein, wie sie mir von Nutzen war!


PC Ernest Thompson schüttelte energisch den Kopf. „Nein, Sir“, sagte er bestimmt. „Der Ripper ist tot. Soviel steht fest! Sie haben seine Leiche doch mit eigenen Augen gesehen!“
Abberline erinnerte sich lebhaft an den 31. Dezember. Er hatte sich den Leichnam eines der drei Hauptverdächtigen angesehen: Montague John Duitt wurde aus der Themse gefischt, seine Taschen voller Steine. Selbstmord. Kein schöner Anblick, denn er trieb seit etwa einem Monat im Wasser. Der Gerichtsmediziner vermutete, Duitt wäre so stark gestört gewesen, dass er sich nach Mary Jane Kellys Ermordung selbst gerichtet hätte. Ein Schuldeingeständnis sozusagen. Diese Ansicht teilte Abberline nicht, da sie durch nichts untermauert wurde.
„Wir wissen nicht genau, ob der Ripper tot ist“, widersprach er PC Thompson daher. „Außerdem gibt es auch noch Aaron Kosminski und Michael Ostrog.“
Kosminski hatte man bereits in das Arbeiterhaus von Stepney eingewiesen. Wo Ostrog sich aufhielt, war ihm nicht bekannt. Aber eines wusste Thompson: Die Morde hatten aufgehört, nachdem Duitt sich umgebracht hatte. Das war für ihn Beweis genug. Wieder schüttelte er den Kopf: „Bei aller Hochachtung, Sir, ich verstehe nicht, was Sie vermuten lässt, dass der Ripper noch lebt.“
Der Inspektor reichte ihm den Brief, den er an diesem Januarmorgen erhalten hatte. Während Thompson las, weiteten sich seine Augen ungläubig. Eines war ihm sofort klar: Der Brief stammte vom Ripper. PC Thompson erkannte Schreibstil und Handschrift des Mörders wieder.
Dear Boss! So hatten auch die Schreiben vom August und September `88 immer begonnen. Dear Boss! Und dann kam das Schlimme ...
Für PC Thomas war der Brief, dem eine Niere beigefügt gewesen war, der entsetzlichste gewesen. Er kannte ihn nach all den Wochen noch immer auswendig:
From Hell
Dear Boss!
Ich schicke Ihnen die halbe Niere, die ich aus einer Frau geschnitten und für Sie konserviert habe. S` andere Stück habe ich erst gebraten, dann gegessen. Es war sehr gut.
Ich schicke Ihnen vielleicht das blutige Messer, das sie rausgeschnitten hat – wenn Sie noch etwas warten. Ha ha ha
Jack the Ripper

Noch einmal, diesmal sorgfältiger, las PC Thompson das neueste Schriftstück. Er bekam eine Gänsehaut. Dieser Brief war schlimmer als alle vorherigen, obwohl er nur einen Satz enthielt.
Aber dieser Satz bedeutete, dass es noch nicht zu Ende war.
Dear Boss!
Fang mich - wenn du kannst.
Jack the Ripper


Für zwei Tage fühlte Georg Abberline sich wie gelähmt. Er wusste nicht, was er als nächstes tun sollte. Weil er schlecht schlief, begann er wieder sich nachts im East-End unerkannt unter die Leute zu mischen. Hin und wieder sah er das bekannte Gesicht eines verdeckt arbeitenden Officers. Die Anzahl der Streife gehenden Beamte wurden verdoppelt, aber außer den üblichen Überfällen, Prügeleien und Schändungen passierte nichts. Am Morgen des vierten Tages traf ein an ihn adressierter Brief im Hauptquartier ein:
Dear Boss!
Ich höre immerzu, die Polizei will mich schnappen. Aber sie wird mich nicht erwischen! Ich habe gelacht als die Polizisten so schlaue Gesichter machten und erklärten, dass sie auf der richtigen Spur seien. Bis jetzt habt ihr immer den Falschen erwischt!
Ich habe mir die Huren vorgeknöpft und ich werde nicht aufhören, sie aufzuschlitzen. Ich tue, was mein Schöpfer verlangt. Der letzte Job war eine großartige Leistung! Mein Messer ist so hübsch und scharf, ich möchte gleich wieder an die Arbeit.
Was Polizisten doch für Narren sind!
Achtung, ich werde am 1. und 2 des nächsten Monats an der Arbeit sein, in den Minories um Mitternacht. Eine gute Chance für die Behörden – aber es ist nie ein Polizist in der Nähe, wenn ich arbeite.
Abberline! Fang mich, wenn du kannst!
Jack the Ripper

„Er verhöhnt uns“, sagte Thompson düster.
„Jawohl“, erwiderte Abberline. „Er führt uns unsere Unfähigkeit ihn zu fassen vor Augen. Mir scheint, er sucht mehr Nervenkitzel. In der Vergangenheit bekamen wir sein widerwärtiges Geschreibsel nach den Morden, doch jetzt kündigt er uns an, wann und wo er zuschlagen wird.“
„Er ist sich seiner Sache sehr sicher“, stellte PC Thompson fest.
Der Inspektor nickte: „Er soll kein weiteres mehr Opfer bekommen. Die kanonischen Fünf werden fünf bleiben. So wahr mir Gott helfe.“
Sie machten sich an die Arbeit.
Es war der 29. Januar.

Aus Kosminski war kein vernünftiges Wort heraus zu bekommen. Im abschließenden Ermittlungsbericht war zu lesen, dass er völlig dem Wahn verfallen sei, eine Folge der über lange Jahre hinweg betriebenen Selbstbefriedigung. Er empfand einen tiefen Hass auf alle Frauen und neigte zu Gewalttätigkeiten. Abberline glaubte nicht, dass ein Mann in so desolatem Geisteszustand derart geschickt agieren könnte.
War doch Ostrog, der russische, irre Arzt, sein Mann?
Nochmals wälzte er die Akten, Tatortskizzen, Zeugenverhöre und Berichte. Verzweifelt starrte er auf die Fotos der Ermordeten. Abberline hatte das Gefühl, der Schädel würde ihm platzen. Er musste raus hier, brauchte dringend frische Luft!
Wütend stapfte Abberline durch die Straßen von White Chapel, sein Atem eine dampfende Wolke vor seinem Mund. Die Lieder der Heilsarmee zerrten an seinen Nerven, er konnte nicht mehr klar denken.
Was sollte er tun? Den nächsten Verdächtigen überprüfen? Das hieße, in den Buckingham Palace zu marschieren: „Eure Majestät, Königin Viktoria. Verzeiht, aber Euer Enkel, Prinz Albert Viktor, Duke of Clarence, wird verdächtigt, Jack the Ripper zu sein. Weilte er zur Zeit der Morde möglicherweise in London, oder war er auf Schloss Sandringham in Schottland, Queen Viktoria?“
Abberline gestattete sich ein grimmiges Lächeln. Die Gerüchte waren der Königsfamilie bereits zu Ohren gekommen. Aus den Hofberichten ging seitdem wie nebenbei hervor, dass Prinz Albert sich zu jener Zeit in Schottland aufgehalten hatte. Angeblich.
Inspektor Abberline war so verzagt, dass er für einen sehr kurzen Augenblick ernsthaft darüber nachdachte, den Vorschlag dieses verrückten Mannes anzunehmen. Dieser schickte ständig Briefe ins Polizeihauptquartier, in denen er gewichtig behauptete, dass jeder Mensch seinen eigenen, auf der Welt einmaligen, unverwechselbaren Fingerabdruck hinterließ. So könnte man an Hand dieser Abdrücke einen Mörder seiner Taten überführen. The Ripper hatte reichlich Abdrücke hinterlassen ...
Was für ein fantastischer Unsinn! Streng rief Inspektor Abberline sich zur Ordnung. War der Ripper der Prinz, tot, eingesperrt oder untergetaucht?
Es war zum wahnsinnig werden!

Aus Jacks geheimen Tagebuch:
Meine Gedanken sind nicht, wie sie sein sollten. Ich erinnere mich kaum an die Ereignisse von gestern. Muss mich zusammenreißen! Ich habe ein winziges Zimmer in der Middlesex Street gemietet. Der Ort ist wahrhaft ideal, die Straßen sind mir mehr als vertraut. Ich habe keine Zweifel und vertraue vollständig auf meine Mission. Ich bin überzeugt, dass Gott mich hierher bestellt hat, um die Huren zu töten. Dafür sollte man mich in den Ritterstand erheben! Ich bin freudig erregt. Trotz allem; das Leben ist süß. Meine Niedergeschlagenheit ist fast gänzlich verschwunden. Nur noch drei Tage! Ich werde nie wieder soviel Zeit zwischen meinen ehrbaren Werken verstreichen lassen. Nun bin ich wieder in Sicherheit und zittere vor Erwartung!
Abberline ging heute zweimal hat an mir vorbei – jedes Mal lachte ich ihm ins Gesicht. Und er, ganz der noble Gentleman, grüßte zurück. Dieser Tölpel! Ich werde Abberline eine zweite Kostprobe meiner Taten schicken. Die Leber diesmal. Wie sie wohl schmeckt? Die Niere zum Abendessen war köstlich ...
Nur doch drei Tage!


Am 31. Januar, da war sich PC Thompson sicher, waren mehr verkleidete Polizisten als echte Freier in White Chapel unterwegs. Thompson streifte durch die Straßen, blieb hier und da stehen um den Prostituierten ein Porträt des Rippers zu zeigen. Ein Polizeizeichner hatte es im Oktober nach verschiedenen Zeugenaussagen angefertigt. Es zeigte einen völlig durchschnittlichen Mann. Unauffällig mit einem hellen Schnurrbart, sandfarbenem Haar und einem Filzhut mit breiter Krempe. Er war gut gekleidet, die übliche Krawatte mit der Anstecknadel, Weste und gestärkter Kragen - wie hundert andere Männer auch. Das Bild passte auf jeden zweiten Kerl, dem Thompson begegnete. `Sogar ein bisschen auf Abberline`, dachte er missmutig, als er seinen Chef bei der Heilsarmee stehen sah.
Diesmal sangen die Brüder und Schwestern keine Kirchenlieder, sondern verteilten Kuchen an die Unglücklichen. Eine hellblonde Schwester redete eindringlich auf die Prostituierten ein, bevor sie die willkommene Essensgabe überreichte.
Thompson bezweifelte, dass es irgendetwas bewirkte.
Die Schwester schüttelte den Kopf, als Thompson ihr die Zeichnung zeigte. Sie kam ihm vage vertraut vor. „Warten Sie“ , rief sie aus, „eben war ein Mann hier, der so ähnlich aussah. Er ist da runter gegangen. Da sehen Sie ihn noch, Officer! Der, mit dem runden Hut!“
PC Ernest Thompson fuhr herum und fluchte. Der Mann war Abberline.

Aus Jacks geheimen Tagebuch:
Haha, ich habe alle ausgetrickst! Bin ich nicht ein Schlitzohr? Nicht mehr lange, und ich schlage wieder zu. Ich werde meinen Nüttchen zeigen, wozu ich fähig bin. Habe mir schon eine Schlure ausgesucht. Die Schlampe ließ sich mit dem Kuchen der Heilsarmee füttern und – so helfe mir Gott – ich konnte mich kaum bezähmen sie nicht aufzuschlitzen! Ich habe es satt, Anstand zu heucheln. Es schert mich nicht mehr, ich bin mit den Gedanken bei meinen kommenden Taten. Oh, was für großartige Taten ich vollbringen werde! Die Ische von heute ist die Nächste!
Abberline hat einen Trottel mit einem Porträt von mir herumlaufen lassen. Was für ein Scherz! Wenn das Arschloch gewusst hätte, dass der Mörder, über den ganz England redet, neben ihm stand, er wäre sofort tot umgefallen! Zur Hölle mit der Obrigkeit! Zur Hölle mit allen Schlampen. Und zur Hölle mit der gekrönten Kuh. Viktoria, Viktoria, die alles regiert, hat in Sachen Jack gar nichts kapiert.
Wie alle. Haha!
Morgen.


Abberline und Thompson saßen im Hauptquartier.
„Was haben wir übersehen, Thompson? Gehen wir alles noch einmal durch.“
Thompson seufzte unterdrückt: „Bei allem Respekt, Sir, aber ...“
„Kein Aber! Ich sagte, noch einmal von vorn!“, raunzte sein Vorgesetzter.
Thompson zählte auf. Zum hundertsten Mal wie es ihm schien:
„Die Opfer. Sie alle waren Prostituierte.“
„Stimmt.“
„Jack geht vermutlich einer Arbeit nach, denn alle Frauen wurden an Wochenenden getötet.“
„Ja, das ist richtig. Nächster Fakt, Thompson.“
„Eine weitere Gemeinsamkeit ist, dass alle Opfer in der Bar `Ten Bells´. verkehrten.“
„Auch das ist korrekt. Es ist anzunehmen, dass sie die gleichen Leute kannten. Freier, Prostituierte. Wahrscheinlich sogar den Ripper. Es könnte ein Freier sein! Was noch?“
„Jede von ihnen nahm Opium, war trunksüchtig oder beides.“
„Ja.“ Inspektor Abberline zwirbelte an seinem Bart.
„Keine von ihnen kämpfte gegen den Mörder.“
„Warum nicht? Bei Gott, ich wünschte, ich käme darauf! Wahrscheinlich kannten sie ihn. Er war keine Bedrohung für sie. Ein Fremder scheidet aus,“ meinte Abberline entschieden.
Thompson fuhr fort: „Die Frauen waren alle zwischen 43 und 47 Jahre alt und sahen sich nicht unähnlich ...“
„Nein. Das stimmt nicht, Thompson,“ unterbrach Abberline ihn. „Mary Jane Kelly war erst fünfundzwanzig. Sie war groß, gutaussehend mit schönen, roten Haaren. Sie sah nicht wie die anderen aus! Das ist eine Abweichung. Aber ist sie wirklich von Belang? Weiter!“
„Alle fünf wurden in den Nacht- oder den frühen Morgenstunden umgebracht. Es geschah jeweils in Gassen oder Hinterhöfen.“
Abberline blätterte in den Akten.
„Es gibt wieder einen Unterschied! Kelly. Sie wurde am Vormittag ermordet. In ihrem eigenen Zimmer, nicht auf der Straße. Das ist die zweite, oder besser dritte, Abweichung. Was haben wir noch?“
„Nachdem die Frauen erwürgt wurden, schnitt er ihnen die Kehle durch. Organe wurde entnommen. Äußerst präzise, aus einem sehr begrenzten Bereich. Der Ripper muss gute anatomische Kenntnisse haben, Sir. Vielleicht ein Arzt? Oder ein Schlachter? Jedenfalls waren immer ...“ hier räusperte er sich verlegen, bevor er leiser weitersprach: „hmm ... die weiblichen Fortpflanzungsorgane betroffen.“
Abberline schlug so heftig mit der Faust auf den wuchtigen Schreibtisch, dass Thompson zusammenfuhr.
„Nein, nein und noch mal nein!“, brüllte er. „Bei Elizabeth Stride wurde er gestört, konnte sie nicht verstümmeln. Er hätte es getan, wäre nicht dieser Verkäufer von Billigschmuck aufgetaucht. Mit Mary Jane Kelly war es anders! Sie wurde extrem verstümmelt. Am ganzen Körper und im Gesicht. Sie wurde körperlich ausgelöscht. Das kann kein Zufall sein, Thompson!“
„Was meinen Sie, Sir?“
„Ich glaube, dass Mary Jane Kelly der Schlüssel ist. Auch sie wurde vom Ripper umgebracht. Aber im Gegensatz zu den ersten vieren war sie von besonderer Bedeutung für ihn. Mag er die anderen zum Spaß oder aus purem Hass getötet haben – bei Mary Jane Kelly war es nicht so! Sie wurde zerstört. Warum tat er das? Kannte er sie?“
„Sir, sie hatte niemanden mehr, wenn ich Sie erinnern darf,“ wandte Thompson ein.
„Stimmt. Keine Familie, keine Freundinnen. Aber sie hatte einen Freund, der sich ihr noch immer verbunden fühlte, sie vielleicht noch immer liebte. Er konnte es nicht ertragen, dass sie als Prostituierte arbeitete, steckte ihr deswegen immer wieder Geld zu.“
„Barnett,“ sagte Thompson.
„Barnett“ bestätigte Abberline grimmig. „Der sich von ihr trennte und an ihrem Todestag mit ihr stritt. Der dieselben Lokale besuchte wie sie, besonders das `Ten Bells`. Er könnte jede dieser Frauen gekannt haben! Und er hasste, was sie taten. Ich will mich noch mal mit Barnett unterhalten.“
„Aber Barnett heißt Joseph. Nicht Jack, Sir.“
„Denken Sie doch nach, Thompson!“, blaffte Abberline ungehalten über soviel Einfalt. „Jeder kann Jack sein! Wie nennen die Unglücklichen auf der Straße die Typen, die sich hier herumtreiben? Die Freier und andere Mannsbilder?“
„Jack,“ murmelte Thompson erstaunt. „Sie nennen sie alle Jack.“
„Eben!“

Aus Jacks geheimen Tagebuch:
Ich muss lachen. Haha, die Polizei sagt, dass sie mich geschnappt hätten! Ausgetrickst habe ich diese kopflosen Hühner! Was bin ich für ein kluges Köpfchen! Nicht mehr lange, und ich zeige ihnen, wozu ich fähig bin. Kann es kaum erwarten, es meinem Nüttchen zu besorgen. Diesmal will ich den Kopf haben! Wenn ich sie erst aufgeschlitzt habe, wird es mir schon gelingen. Ich muss nur ruhig bleiben. Nur ruhig!
Ich werde uns von den Huren befreien. Sie raffen die Röcke für jeden, der sie bezahlt. Dreckige Nutten! Wenn ich all die vaterlosen Schlurenkinder sehe, die durch das East End geistern, könnte ich kotzen! Diese Schlampen haben nicht verdient, ein Kind in sich zu tragen. Könnte ich doch allen die Gebärmutter und Mösen vorher rausschneiden! Wie würden sie winseln! Ich reinige ihre dreckigen Leiber von den schlammigen Organen, bevor ich sie zu ihrem Schöpfer schicke. Ich weiß, wovon ich rede!
Abberline ist ein größerer Trottel, als ich jemals gedacht hätte. Ich spucke auf ihn! Zur Hölle mit ihm. Und zur Hölle mit allen Nutten! Es ist soweit. Endlich, endlich – ich konnte mich kaum noch bezähmen. Die Nacht ist da.
Ich komme ...


Barnett schied als Täter aus. Er hatte zum Zeitpunkt zweier Morde nachweislich im `Ten Bells` gesessen und Karten gespielt. Soviel stand fest. Inspektor Abberline massierte sich die schmerzende Stirn. Er war ratlos. Schließlich verließ er das Hauptquartier. Wieder einmal machte er sich auf den Weg ins East End, durchstreifte die zahlreichen unübersichtlichen Gassen, immer von der Unruhe getrieben, dass der Ripper heute zuschlagen würde. Nur wo genau?
Von einer Eingebung getrieben ging er ging noch einmal ins `Ten Bells`. Es war das Stammlokal der ermordeten Huren gewesen. Hier hatte der Ripper sich seine Opfer ausgesucht. Wonach hatte er sie ausgewählt?
Abberline setzte sich in eine unauffällige Ecke und bestellte ein Pint. Er ließ seine Blicke durch den düsteren, verqualmten Raum schweifen.
Frauen lachten schrill, einige rieben sich auffordernd an Männern, in der Hoffnung, dass ihnen ein Drink spendiert wurde. An den Tischen wurde Karten gespielt, am Tresen hockten zwei völlig besoffene Arbeiter.
Wenn er der Ripper wäre, welche der Huren würde er sich aussuchen? Eine, die wie Mary Jane Kelly aussah? Oder doch lieber eine, die Mary Ann Nichols, Annie Chapman, Elizabeth Stride oder Catharine Eddowes ähnelte?
Abberline hob sein Glas an die Lippen und erstarrte mitten in der Bewegung. Entweder hatten seine Sinne ihn genarrt, oder er hatte tatsächlich einen Geist gesehen.

Sie glich Annie Chapman. Und sie soff genauso. Der Ripper ließ sich Zeit, hatte keine Eile. Irgendwann würde die Schlure sich auf den Weg machen. Die rauchige, schummrige Bar trat immer weiter in den Hintergrund. Jack hatte nur noch Augen für die Schlampe. Ein dritter Blick in die große, schwarze Ledertasche stachelte die Vorfreude noch mehr an. Das Messer, der Hurendolch, lag blank geputzt und geschärft darin. Er wartete auf seine glorreichen Taten. Jacks Hände waren kalt, aber noch kälter war Jacks Herz. Diesmal würde der Kopf abgetrennt, egal, wie lange es dauerte! Zitternd vor Vorfreude stellte der Ripper sich vor, wie der Schädel zu Füßen der Schlampe liegen würde und diese mit ihren eigenen Augen zusehen konnte, wie ihre Möse rausgeschnitten, die Gebärmutter herausgetrennt, ja, ihre Körper gereinigt wurde. Wieder eine Nutte weniger! Die Mission ging weiter!
Endlich stand die Ische auf, raffte ihre Röcke, stülpte sich eine samtene Kappe auf den Kopf und verließ die Bar. Jack ließ einen Augenblick verstreichen und folgte ihr dann unauffällig. In nichts unterschied der Ripper sich von diesem Umfeld. Niemand käme auf die Idee, dass der Mensch, den gerade ganz London suchte, dieses Lokal verlassen hatte, um dem Kanon der toten Nutten eine sechste Strophe hinzuzufügen.

Ihr Haar war nicht rot, sondern vom hellsten Blond. Deswegen war sie Abberline vorher nicht aufgefallen! Er hatte sie bisher nur bei Tageslicht, gesehen. Sie war ihm vertraut erschienen, aber er hatte sich durch die andere Frisur, Haarfarbe und die ungewohnte Kleidung täuschen lassen. Außerdem kannte er sie nur von einer Fotografie, war ihr nie persönlich begegnet. Er keuchte auf, gab einen erstickten Laut von sich.
Das konnte nicht sein!
Und doch, hier in der düsteren Bar, wirkte ihr Haar viel dunkler. Sie hatte auch das Kleid gewechselt, das Mieder enger geschnürt. Als sie das `Ten Bells` verließ, ging sie so nahe an ihm vorbei, dass er sie hätte berühren können. Aber sie bemerkte ihn nicht. Für ihn gab es keine Zweifel mehr!
Ein Verdacht keimte ihn ihm auf, nahm Gestalt an, wurde schließlich zur Gewissheit. Er begann zu begreifen, warf eine Münze auf den Tisch und stürmte fluchend in die Nacht hinaus.

„Du bist es nur,“ sagte die Hure erleichtert. „Ich habe mich erschrocken.“ Jack lachte beschwichtigend. „Immer mit der Ruhe! Trinken wir noch einen Schluck?“
„Hab` kein Geld mehr, Schätzchen.“
„Das macht nichts. Ich habe was Gutes dabei. Komm, lass uns da hinten im Hof verschwinden. Sonst kommen noch andere und wir müssen teilen.“
Der Ripper führte die betrunkene Frau weg vom Licht, fort von der Gasbeleuchtung, in die Dunkelheit der Hinterhöfe. Sie stolperte trunken über das Kopfsteinpflaster. Nebel stieg von den feuchten Gassen auf und hüllten sie ein. Die Hure kicherte begeistert, als Jack eine Flasche Whiskey aus der Tasche zog. Willig folgte sie Jack in den finsteren Hof. Gierig trank sie zwei tiefe Züge direkt aus der Flasche. Jack sah angewidert zu.
„Willst du nichts, Schätzchen?“, fragte sie undeutlich. Der Ripper lehnte ab: „Ich habe genug für heute. Nimm du noch einen ordentlichen Schluck.“
Die Nutte tat es. Sie seufzte vor Behagen. Langsam wurde ihr schwindelig. Die Knie sackten weg. Plötzlich verzerrte Angst ihr Gesicht.
„Was ... iss los?“, fragte sie mit weit aufgerissenen Augen.
Jack holte ruhig den Hurendolch aus der Tasche und sah zu, wie die Erkenntnis in den Augen der Frau aufleuchtete. Ihr Gesicht verzerrte sich vor Angst.
„Nein“ flüsterte sie entsetzt. „Du biss ...“ sie kippte vornüber. Jack fing sie auf, ließ sie geschickt zu Boden gleiten und kniete sich neben sie. Langsam zog Jack den Schal, der um ihren Hals lag, zu. Atmete sie noch? Schon lag das blitzende Messer an ihrer Kehle, der erste Schnitt war angesetzt. Da passierte es! Alles ging so rasend schnell, dass der Ripper gar nicht begriff, was geschah!
Trillerpfeifen tönten aus allen Ecken, Polizisten leuchteten in den dunklen Hof und ein Officer schrie: „Hier spricht PC Thompson, lassen Sie das Messer fallen! Sofort!“
Jack tat es, deutete dann mit dem Arm in die Dunkelheit hinter sich und kreischte: „Oh mein Gott! Da lang, er ist da lang, Officer! Ich kam gerade noch rechtzeitig. Helfen Sie! Hier, das Messer hat er fallen lassen. Er ist die Straße runtergerannt. Er sah genauso aus wie auf dem Bild, dass Sie mir gezeigt haben!“
Die Polizisten rannten sofort in die angewiesene Richtung. Das Schrillen ihrer Pfeifen wurde langsam leiser, bis es schließlich verklang. Thompson blieb zurück und kümmerte sich um die Verletzte, Inspektor Abberline stand daneben.
„Er ist da lang, wollen Sie denn nicht ...“ wiederholte Jack.
„Lassen Sie das, Miss Kelly. Sie sind doch Mary Jane Kelly, oder nicht?“
„Ich heiße Kathleen O`Brien, Sir, und gehöre zur Heilsarmee. Ich kümmere mich um die Unglücklichen, verteile Essen und Tee.“
Abberline schüttelte den Kopf: „Sie sind Mary Jane Kelly. Ich weiß noch nicht, wen sie getötet haben, aber es muss jemand sein, der Ihnen ähnelte und der jung genug war, damit Sie Ihre eigene Ermordung vortäuschen konnten. Deswegen haben sie diese Leiche so furchtbar zugerichtet. Das Gesicht musste weg, damit niemand das Opfer erkennen konnte.“
„Bitte, Sir, sagen Sie nicht so furchtbare Dinge! Sie machen mir Angst.“ Tränen traten in ihre Augen, die Stimme zitterte ebenso wie ihre Hand, die sie hilfesuchend nach Thompson ausstreckte.
„Haben Sie Ihr Haar mit Henna gefärbt, oder trugen Sie eine Perücke? Als Prostituierte hatten Sie die beste Möglichkeit sich ihren Opfern unerkannt zu nähern. Sie waren schließlich eine von ihnen. So konnten Sie Ihrem ... Feldzug nachgehen. Nur wurde ihre Tarnung langsam zu unsicher, nicht wahr? Woran lag es? Joseph Barnett? Hatte er etwas bemerkt und deswegen mit Ihnen gestritten?“
PC Thompson stand neben Abberline, starrte erst die Frau, dann seinen Vorgesetzten an.
„Sir, bei aller gebührender Achtung ...“ stotterte er verwirrt. „Miss Kelly ist tot.” Er fixierte Abberline verständnislos.
Nachdem Abberline die Bar verlassen hatte, war er auf er draußen beinahe über den patrouillierenden Thompson gestolpert. „Ich bin dem Ripper auf den Fersen! Folgen Sie mir!“, brüllte er. Sofort hatte Thompson in seine Trillerpfeife geblasen. Der durchdringende, laute Ton war weithin zu hören. Schon sehr bald folgten die Streifenpolizisten dem üblichen Alarmsignal und scharten sich um Thompson. Sie waren Abberline so erwartungsvoll gefolgt – und nun dies!
„Still, Thompson! Das hier ist Jack the Ripper! So unglaublich Ihnen das auch erscheinen mag.“
Die Frau lächelte ängstlich. Man konnte ihr Herz schlagen sehen, so heftig pochte es. „Der Mörder ist da lang gelaufen! Ich habe es Ihnen doch gesagt, Sir.“
Abberline hob den Dolch auf. „Das werden wir wissen, wenn dieses bedauernswerte Weib wieder fähig ist, mit uns zu sprechen. Denn es scheint, dass sie es überleben wird. Ganz bestimmt sogar!“

Das „bedauernswerte Weib“ konnte sich an nichts erinnern. An gar nichts! Ihr war nicht einmal klar, dass sie beinahe Jacks sechstes Opfer geworden wäre. Nur der Hals tat ihr weh und sie hatte noch Schwierigkeiten beim Sprechen. Beweisen konnte Abberline somit nichts !
Die festgenommne Frau blieb dabei, dass sie Kathleen O´Brien hieß und aus Irland stammte. Keine Familie, neu in London. Nein, Sir, keine Papiere. Leider! Die waren während der Überfahrt von Irland verloren gegangen. Sie kannte hier niemanden, außer die Leute von der Heilsarmee und einige Huren.
„Ich nehme mich der Unglücklichen an. Besonders ihren Kindern, gezeugt von irgendwelchen Freiern in Hinterhöfen. Sie wachsen in ihren Hurenmüttern heran, die, trotz ihrer dicken Bäuche, weiter ihre Körper verkaufen und nur darauf warten, dass ein neugeborenes Mädchen alt genug ist, um auf die gleiche Weise Geld zu verdienen.“
Der Inspektor sah die junge Frau scharf an. Ihre Erregung war ihm nicht verborgen geblieben.
„So wie meine an Syphilis verstorbene Mutter es auch getan hat“ fügte sie trotzig hinzu. „Allerdings war sie nicht Zeit ihres Lebens eine Hure. Als die Syphilis es nicht mehr zuließ, verdiente sie ihr Geld als Engelmacherin. Ich war elf, als sie mir zeigte, wir man ein ungewolltes Kind wegmacht.“
PC Thompson zog zischend die Luft ein und wandte sich angewidert ab. Gleichzeitig wurde ihm klar, dass diese junge Frau über sehr gute anatomischen Kenntnisse verfügte.
„Das muss schrecklich für Sie gewesen sein,“ sagte der Inspektor ruhig.
Kathleen ließ ihn nicht aus den Augen.
Abberline räusperte sich. Er hatte sie fast soweit, dass sie gestehen würde, davon war überzeugt. Jetzt nur keinen Fehler machen!
„Möchten Sie mir noch irgendetwas sagen? Wollen Sie sich mir anvertrauen?“, fragte er in fast väterlichem Ton. „Erleichtern Sie Ihr Herz und gestehen Sie,“ fuhr er behutsam fort.
Langsam schüttelte sie den Kopf.
Gestehen? Zu gestehen hatte sie nichts, wiederholte nur immer wieder ihre Aussage, dass Jack the Ripper wie auf dem Bild aussah und der Polizei entkommen war.
Schließlich mussten die Behörden sie laufen lassen.

Aus Jacks geheimen Tagebuch:
Ich glaubte, dass alles vorbei wäre! Gerade wollte ich der verdammten Drecksschlampe den Hals durchschneiden, da hörte ich die Trillerpfeifen! Mein Herz hämmerte so hart in meiner Brust, dass es mir weh tat. Ich konnte kaum atmen, war wie erstarrt! Und doch empfand ich die Angst gefasst zu werden beinahe noch schöner als die herrliche Lust am Töten! Mir schwindelte regelrecht.
Den Kopf der letzten Schlampe wollte ich sieden, sehen, ob ihre Augen rausspringen. Ich wollte mehr. Mehr Lust. Die Lust auf mehr Lust kam immer wieder hoch. Ich kann nicht mehr leben ohne die Lust zu töten, zu schlitzen, zu töten, zu schlitzen. Immer weiter zu schlitzen!
Ich hätte niemals ankündigen dürfen, wann und wo ich es tun würde! Trotzdem war ich zu gut für sie. Bin und bleibe eben ein Schlitzohr! Haha!
Wie eine Hundemeute sind sie davon gestürmt, um Jack zu fangen. Dabei stand ich vor ihnen, den Hurendolch noch in der Hand! Was für Trottel!
Doch Abberline hatte ich unterschätzt! Auch wenn niemand außer Thompson, ihm glaubt: Er lässt mich nun nicht mehr aus den Augen.
Meine Mission muss ruhen, aber Gott wird dafür sorgen, dass ich sie fortführen kann.
Es gilt jetzt meine Ungeduld zu bezähmen und von meinen Erinnerungen zu zehren. Meine Erinnerungen an das Blut und das herrliche Herausschneiden dreckiger Mösen. An den Geschmack der gebratenen Niere oder der rosa Gebärmutter, an der ich knabberte. Sie war weich und elastisch ...
O Gott! Hilf mir, dass ich mein Werk bald fortsetzen kann!


London, 1889 /1890
PC
Thompson lenkte die Kutsche mir ruhiger Hand durch das East End. Sie hatten das Männerbordell schon fast erreicht. Er wusste mit Sicherheit, was nun folgen würde. Abberline beobachtete, wie der Braune über das Pflaster trabte, dann wandte er sich ab, blickte suchend in die Menschenmenge um sie herum und sagte:
„Ich täusche mich nicht. Sie ist Mary Jane Kelly, und ich weiß genau, was in ihrem Kopf vorgeht. Ihre Empfindungen hat sie mir deutlich in ihren Briefen dargelegt. All diese furchtbaren Hirngespinste. Entsetzliche, grausame Gedanken. Manche Worte mit Blut geschrieben! Sie konnte wohl nicht anders. Es gehörte zu ihrer Mission. Sie wollte, dass man versteht, welch noble Aufgabe sie verrichtet. Und natürlich auch, wie überlegen sie uns ist. Gottes Werkzeug. Aber ich kann warten.“
Die Kutsche rollte langsam durch das East End. Die Heilsarmee verteilte heißen Tee. Abberline starrte wie gebannt zu dem Stand hinüber. Unwillkürlich folgte Thompson seinem finsteren Blick. Die junge Frau in der dunklen Uniform der Heilsarmee winkte ihnen zu. Blondes Haar lugte unter ihrer Haube hervor. Sie grinste breit.
Thompson sah, wie ihr Mund einen lautlosen Satz formte, und er glaubte ihn richtig von ihren Lippen gelesen zu haben:
„Fang mich – wenn du kannst ... “



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