Burgturm im Nebel
Burgturm im Nebel
"Was mögen sich im Laufe der Jahrhunderte hier schon für Geschichten abgespielt haben?" Nun, wir beantworten Ihnen diese Frage. In diesem Buch.
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September 2004
Verrat
von Jan Müller

Nacht in Jerusalem. Im Palast der Hohenpriesters Kaiphas flackert helles Licht. Bis vors Hoftor drängt sich die gaffende Menge und lauscht den Gesprächsfetzen, die aus der Halle dringen: “Ich kann bezeugen, dass er gesagt hat: ‚Brecht diesen Tempel ab, und in drei Tagen will Ich ihn wieder aufbauen!‘”
Vor dem verschlossenen Hoftor steht ein Mann im weißen Leinengewand mit schütterem Haar und verfolgt das Geschehen. Aus dem Palast tritt ein junger, hochgewachsener Mann im weißen Gewand und schaut sich suchend im Hof um, wo Söldner und Wachen um ein Feuer stehen und sich wärmen. Der Ältere am Tor winkt ihm, ruft leise: “Johannes!” Der junge Mann geht ans Tor, verhandelt mit der Pförtnerin. Sie fragt der Älteren: "Gehörst du nicht auch zu den Leuten aus Galilea, die dem Nazarener gefolgt sind?"
Der Mann zuckt zusammen. “Gott bewahre, was redest du? Ich kenne ihn nicht.”
Die Pförtnerin lässt ihn ein. Er folgt Johannes in den Palast, kommt aber gleich darauf wieder heraus und mischt sich im Schatten des Hofes unter die Knechte. Dort steht eine zweite Gestalt im weißen Gewand, tippt ihm auf die Schulter und flüstert: “Wie sieht ‘s aus, Simon? Hat er es ihnen gezeigt?”
Simon gibt keine Antwort. Für ihn ist der andere Luft. Der jedoch gibt keine Ruhe. “Du warst doch eben in der Halle. Ist er noch immer gefesselt?”
“Lass mich in Ruhe! Wir kennen uns nicht.”
“Aber Simon. Wir müssen zusammenhalten. Jetzt mehr denn je.”
“Das sagst ausgerechnet du!”
“Scht! Seid doch still!” Ein Knecht zischt die beiden an. “Man versteht kein Wort von der Verhandlung.”
Simon rückt von dem anderen ab und stellt sich zu den Wachsoldaten ans Feuer. Einer fragt ihn: "Bist du nicht auch einer von seinen Jüngern aus Galiläa? Man hört ‘s an deiner Sprache.”
Simon hebt ängstlich die Hände: “Ich schwöre euch, Leute, ich kenne den Menschen nicht!” In der Ferne kräht ein Hahn.
Die Gestalt neben ihm schüttelt den Kopf und zieht Simon aus der Menge in eine Ecke, wo sie ungestört reden können. “Wie kannst du ihn nur verleugnen, Simon? Er ist unser Meister!”
“Gerade du musst das sagen! Wer hat ihn denn ausgeliefert?”
“Aber das war doch von ihm so gewollt. Erinnerst du dich? In Bethanien, als ihn Maria mit dem kostbaren Salböl einrieb, sagte er: Die Stunde ist gekommen, jetzt soll der Menschensohn verherrlicht werden. Dann nickte er mir zu und sprach: ‚Was du tust, tue es bald.‘”
“Das war anders gemeint. Du solltest als Kassenwart den Einkauf fürs Passahfest regeln.”
“Das glaubst du. Ich hatte ihn anders verstanden. ‚Einer von euch wird mich ausliefern‘, hatte er gesagt. Und als Bartholomäus fragte: ‚Bin ich es?‘ sagte er: ‚Dem ich den Bissen reichen werde, der ist es.‘ Dann tauchte er den Bissen ein und reichte ihn mir, und ich fragte: ‚Rabbi, bin ich es?‘ Und er sagte: ‚Du hast es gesagt.‘ Zuerst bin ich erschrocken, aber ich weiß, er wird ein Wunder tun, um sich aus ihren Händen zu befreien.”
“Zur Zeit sieht es anders aus. Sie wollen ihn kreuzigen.”
“Das schaffen sie nie! Als sie ihn in Kapernaum zur Bergspitze führten und herunterstoßen wollten, blieb er unantastbar. Keiner konnte ihm je etwas anhaben. Er ist einfach unbesiegbar. Die Kraft des Vaters schützt ihn gegen alle Sünder. Auch jetzt wird er ihnen entkommen und allen seine Größe zeigen und das Reich errichten, von dem er gesprochen hat.”
“Das redest du dir jetzt ein, um dein Gewissen rein zu waschen. Ich bin sicher, sie schlagen ihn ans Kreuz. Bei Lazarus in Bethanien sagte er: ‚Maria hat die letzte Ölung für mein Begräbnis vorweggenommen. Ich werde nicht mehr lange bei euch sein.‘”
“Aber warum hat er sich dann freiwillig gestellt? Als ich mit den Soldaten über den Kidron zum Garten Gethsemane kam, lief er dem Trupp entgegen und fragte: ‚Wen sucht ihr?‘ Sie sagten: ‚Jesus von Nazareth.‘ ‚Das bin ich!‘, sagte er. Und alle Bewaffneten wichen ehrfürchtig zurück und fielen zu Boden. Dreimal fragte er, wen sie suchen, und dreimal sagte er: ‚Ich bin es, den ihr sucht.‘ Er hat es darauf angelegt, ausgeliefert zu werden, um seine wahre Größe zu beweisen.”
“Warum hast du ihm dann die Wange geküsst? Damit sie sicher waren, dass er ‘s war!”
“Aber mich hat er nicht getadelt, Simon, sondern dich: Weil du dem Knecht mit dem Schwert das Ohr abschlugst. Und jetzt verleugnest du ihn schon zum zweitenmal und verrätst seine Lehre.”
“Ich ihn verraten? Das ist die Höhe! Du bist der Verräter, Judas! Und als solcher wirst du in die Geschichte eingehen. Das prophezeie ich dir.”
Simon rückt von Judas ab und drängt zum Hoftor. Ein Knecht sieht ihn und ruft. “Wahrhaftig, dich habe ich doch im Garten Gethsemane bei ihm gesehen! Du warst es, der meinem Neffen das Ohr abschlug."
Simon hebt die Hände und schwört: “Nein, nein, ich kenne den Menschen nicht!” Draußen kräht zum zweitenmal der Hahn. Simon drängt sich aus dem Hof ins Freie, setzt sich unter einen Olivenbaum und weint.

Inzwischen tritt Johannes wieder aus dem Verhandlungsraum, sieht Judas im Hof am Feuer stehen und tritt leise zu ihm. “Sie werden ihn kreuzigen.”
Judas erschrickt. “Du meinst, er lässt es wirklich mich sich geschehen? Das ist Verrat! Wie kann er mir so was antun? Am Ende gelte ich noch als der Sündenbock!”
“Ja.” Johannes senkt den Kopf. “Ich kann dich verstehen, Judas. Ich weiß, warum du es getan hast.”
Judas ergreift seinen Arm. “Du verstehst mich, Johannes? Ich danke dir.”
“Für dreißig Silberlinge, Judas! War es das wert?”
“Oh Gott!” Judas hält sich die Handballen vor die Augen. “Selbst du begreifst mich nicht! Was schert mich das Geld? Es geht mir um den Sieg. Um die Verherrlichung des Meisters.”
“Zu spät, Judas. Sie werden ihn kreuzigen.”
“Bin ich denn der Einzige, der an ihn glaubt? Wie oft schon wollten sie ihn binden, steinigen, von Mauern stürzen, immer blieb er unversehrt, geschützt von der Kraft dessen, der ihn gesandt hat. Denke an Lazarus, der schon vier Tage tot war: ‚Lazarus, komm heraus!‘, rief er, und in Leichentücher gewickelt kam Lazarus aus der Grabkammer. Wer solches vollbringt, wie kann er es zulassen, ans Kreuz genagelt zu werden?”
“Diesmal ist es anderes, Judas. Erinnerst du dich, als du im Haus des Lazarus beim Abendmahl gefragt hast, warum das Passahlamm nicht geschlachtet wird, das du gekauft hast? Er sagte: ‚Wenn ich aufs Kreuz gehoben werde, dann wird das Lamm geschlachtet sein.‘”
“Aber er sagte auch: ich werde den Tempel niederreißen und nach drei Tagen wieder errichten. Selbst wenn sie ihn kreuzigen, bin ich mir sicher: Nach drei Tagen wird er wieder auferstehen. Genauso, wie er Lazarus wieder zum Leben erweckte. Dann weißt du, warum ich ihm die Wange küsste: Um aller Welt seine wahre Größe zu zeigen.”
“Erinnere dich, Judas. ‚Wehe dem, der das Lamm den Schlächtern in die Hände liefert‘, sagte er. ‚Es wäre besser für ihn, er wäre nie geboren.‘ Damit meinte er dich.”
Judas schaut still zu Boden. Schließlich blickt er Johannes offen ins Gesicht. “Sagte er nicht auch: ‚Wer bereit ist, sein Leben vorbehaltlos für Gott einzusetzen, wird es für alle Ewigkeit erhalten. Wer mir dienen will, der soll mir auf diesem Weg folgen. Denn wo ich bin, soll auch er sein.”
“Ja, das sagte er.”
“Dann weiß ich, was ich tun muss. Gott segne dich, Johannes, ich muss fort.”
“Wohin gehst du?”
Johannes bekommt keine Antwort.

Eine Woche später, in der Herberge am Ölberg, trifft er Simon-Petrus, der ihn fragt: “Weißt du schon, was mit Judas Ischariot geschehen ist? Er brachte den Hohepriestern die dreißig Silberschekel zurück und sagte: ‚Ich habe mich versündigt, dass ich unschuldiges Blut verraten habe.‘ ‚Das ist deine Sache‘, sagten sie, ‚was geht uns das an?‘ Da warf er die Silberschekel in die Almosenkasse vom Tempel und stürzte hinaus.”
“Ich sah ihn in Golgatha. Er wollte die Absperrung um die Richtstätte durchbrechen, aber die Wachen wiesen ihn zurück. Mit stieren Augen sah er der Kreuzigung zu. Als er die Hammerschläge der Kreuzigung hörte, schrie er laut auf und rannte davon.”
“Er hat sich auf dem Weg ins Tal mit seinem Gürtel an einem Feigenbaum erhängt. Gestern fanden sie seinen von Hyänen angeknabberten Leichnam und haben ihn verscharrt.”
Johannes senkt den Kopf. “Ich weiß, warum er das getan hat. Beim Palast des Kaiphas zitierte er den Meister: ‚Wer mir dienen will, der soll mir auf diesem Weg folgen. Denn wo ich bin, soll auch er sein.‘ Ob er sich da nicht verrechnet hat?”

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