Der Cousin im Souterrain
Der Cousin im Souterrain
Der nach "Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten" zweite Streich der Dortmunder Autorinnengruppe "Undpunkt".
mehr ... ] [ Verlagsprogramm ]
 SIE SIND HIER:   HOME » MITMACH-PROJEKT » SCHREIBAUFGABE » Klaus Eylmann IMPRESSUM
NEWSLETTER
Abonnieren Sie unseren Newsletter.

Jetzt anmelden! ]

UNSERE TOP-SEITEN
1.) Literatur-News-Ticker
2.) Leselust
3.) Forum
4.) Mitmach-Projekt
5.) Schreib-Lust-News 6.) Ausschreibungen 7.) Wettbewerbs-Tipps
Oktober 2004
Fahrt in die Vergangenheit
von Klaus Eylmann

Die schwarze Limousine ließ eine Staubwolke hinter sich und verlangsamte die Geschwindigkeit, als sie in einen Weg abbog, der ins Moor führte. Lerchen schraubten sich in den Himmel. Verkrüppelte Kiefern warfen ihre Schatten auf vertrocknete Gräser. Mücken tanzten über stehendem Wasser und Modergeruch zog durch das geöffnete Wagenfenster. Ein Baumstamm lag quer auf dem Weg. Das Fahrzeug hielt. Robert zog eine Tasche aus dem Wagen und ging zu Fuß weiter. Ein untersetzter Mann mit messerscharfem Scheitel, bleichem Teint und stechendem Blick, in einem grauen Anzug und blankgeputzten schwarzen Schuhen. Die bedeckten sich mit Staub, das Hemd klebte am Körper, als Robert seinen Weg fortsetzte. Vorbei an Birken, Kiefern, Büschen, hohen Gräsern und Wasser, aus dem glucksend Blasen stiegen. Ein Fischreiher flog auf ein langgestrecktes Haus zu, neben dem ein Schuppen stand, durch dessen offen stehendes Tor ein Auto zu sehen war.
Bei dem Gedanken an seine Mutter kroch das Unbehagen in Robert zurück, das er vor Jahrzehnten für immer abgeschüttelt zu haben glaubte. Nach tausend Meilen Autobahn war er wieder dort, von wo er als Jugendlicher weggelaufen war. Vor zwei Wochen war der Schlüssel mit der Post gekommen. Drei Monate hatte der Anwalt gebraucht, um Robert zu finden und ihm mitzuteilen, dass seine Mutter gestorben war. Roberts Schritte wurden schneller.
Er fühlte sich am extremen Ende der Welt. In diese desolate Landschaft gehörte kein Haus, auch kein heruntergekommenes. Es stand in einem verwilderten Garten. Das Blechdach gleißte unter der Mittagssonne. Robert kniff die Augen zusammen und blieb einen Moment stehen. Dann öffnete er die quietschende Gartenpforte und ging auf den Bau zu. Hinter der Tür lauerten Erinnerungen, an seine Mutter, an seinen Vater, der sich während Roberts Kindheit davon gemacht hatte. Robert fragte sich, ob er ihn jemals wiedersehen würde.
Die Luft war abgestanden. Robert ließ die Haustür offen. Während seine Augen sich an das Halbdunkel gewöhnten, erwartete er wider besseres Wissen, dass ihm seine Mutter entgegen käme. Sie war eine zierliche Frau gewesen, die zu Kränzen geflochtene Feldblumen auf dem Markt verkauft hatte.
Roberts Schuhe hinterließen Spuren auf staubigen Brettern. Er öffnete die Fensterläden. Licht fiel auf ein Bild mit Dünen, Wasser, einem Segelschiff. Mutter hatte die See geliebt und seinem Vater nie verziehen, dass er sie in diese Einöde verschleppt hatte. In diesem gottverlassenen Flecken hatte er einen Torfhandel aufbauen wollen. Sein Vater, ein grinsendes Gesicht voller Goldzähne, das sagte: “Ich geh erst von hier weg, wenn ich meine Zähne verkaufen muss.” Dann war er plötzlich fort. Robert warf sich aufs Sofa. Erinnerungen. Seine elektrische Eisenbahn. Bevor sie in dieses Haus gezogen waren, hatte er mit ihr gespielt. Doch hier ohne Strom, ohne Fernseher hatten seine Mutter und er abends auf einen Tisch gestarrt, auf drei Stühle, einen Ofen, den sich seine Mutter hatte ins Haus bringen lassen, als der Ölbrenner, der sich in einem Raum hinter der Küche befand, nicht mehr funktionierte. Der Raum war durch eine Eisentür mit der Küche verbunden. Robert drückte den Griff hinab. Verschlossen. Eine Petroleumlampe hing von der Decke. Wo war das Öl? Überflüssige Frage. Robert hatte nicht vor, in diesem Haus zu übernachten, dort, wo ihn die Erinnerungen an seine Eltern nicht zur Ruhe kommen lassen würden. Nun war er selbst Vater und war gekommen, seine elektrische Eisenbahn vom Boden zu holen. Eine Überraschung für seinen Sohn. Damit es eine blieb, hatte er seiner Frau erzählt, er müsse sich auf eine Geschäftsreise begeben. Von wegen. Jetzt, wo seine Mutter unter der Erde lag, hatte Robert den Mut gefunden, die Fahrt in die Vergangenheit zu unternehmen. Er ging auf den Flur zurück und legte den Kopf in den Nacken. Eine Klappe war in die Decke eingelassen. Robert holte einen Stuhl aus der Küche, kletterte hinauf. Er kam nicht heran. In dem Schuppen fand er eine Stange, öffnete damit die Luke und zog eine Leiter herab. Dann entledigte er sich seiner Jacke und stieg die Sprossen empor, zwängte sich durch das Loch in der Decke und kroch in das Halbdunkel des Bodens. Die Hitze nahm ihm den Atem. Das flache Dach mit den hölzernen Querstreben, so tief, dass Robert nicht stehen konnte. Schwalben flatterten an seinem Kopf vorbei. Durch ein Loch im Dach fiel Tageslicht ein. Am Ende des Bodens stand ein abgeschabter Koffer. Darin war die Eisenbahn. Er war schon alt gewesen, als ihn sein Vater auf den Boden gebracht und neben der Klappe abgestellt hatte. Robert wünschte, der Koffer würde dort immer noch stehen. Statt dessen musste er auf den Knien zu ihm hin rutschen. Staub setzte sich an seinem Anzug fest. An den Dachstreben hafteten Schwalbennester. Vögel flatterten um ihn herum. Spinnweben hefteten sich an sein Gesicht, Staub und Vogelkot an seine Knie. Robert kroch weiter. Die Sonne brannte auf seinen Nacken, als er unter dem Loch im Dach entlang kroch, dann gaben die Bretter unter ihm nach, und er stürzte in die Tiefe.
Kopf und Rücken schmerzten, als Robert wieder zu sich kam, doch er konnte Arme und Beine bewegen. Der Ölbrenner beherrschte den Raum. Schlafend, metallen, ein Gigant. Schwaches Licht kam aus dem Loch in der Decke. Ein geborstenes morsches Brett hing herab. Andere lagen vor Roberts Füßen. Mühsam stand Robert auf, umfasste das Brett mit beiden Händen und zog daran. Es löste sich von der Decke und fiel auf den Boden. Robert wischte sich den Schweiß von der Stirn. Blut pochte in seinen Ohren. Die Wände waren so hoch, dass er das Loch in der Decke nicht erreichen konnte. Sein Blick richtete sich auf die Stahltür, dann auf die vergitterten Fenster mit den geschlossenen Fensterläden. Es war auch kein Trost, dass er seinem Vater mit der Zeit immer ähnlicher werden würde, und Robert sah noch einmal zu dem Skelett hinüber, das in einer Ecke saß und ihn mit dem einzigen Goldzahn anlachte, der ihm verblieben war.

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
Dieser Text enthlt 6045 Zeichen.

Druckversion

 LINKTIPPS: Naturwaren Diese Website wird unterstützt von:

www.mswaltrop.de
Copyright © 2006 - 2024 by Schreiblust-Verlag - Alle Rechte vorbehalten.