Burgturm im Nebel
Burgturm im Nebel
"Was mögen sich im Laufe der Jahrhunderte hier schon für Geschichten abgespielt haben?" Nun, wir beantworten Ihnen diese Frage. In diesem Buch.
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Oktober 2004
Durchgefallen
von Ines Haberkorn

Weit draußen am Rande der Galaxis, gibt es einen Planeten, der nicht kugelförmig wie die Erde, sondern so flach wie eine Scheibe ist. Dieser Planet heißt Zweiland, weil es nur zwei Länder darauf gibt, eines auf der Oberseite und eines auf der Unterseite. Das Land auf der Oberseite wird Obenland genannt und jenes auf der Unterseite Untenland. Entsprechend heißen auch die Bewohner von Zweiland Obenländer und Untenländer. In Obenland lebt es sich fast wie auf der Erde. Der Boden ist mit Gras bedeckt. Bäche und Flüsse plätschern von den Bergen in die Täler, wo sich das Wasser in Seen sammeln, an deren Ufern die Obenländer Häuser bauen und Apfelplantagen bewirtschaften.
Die Obenländer lieben Äpfel über alles und in jeder erdenklichen Variante: roh, getrocknet, gebraten, gekocht, flambiert, als Apfelmus, Apfelkuchen, Apfelgelee oder Apfelwein. Bekanntlich sind Äpfel gesund und nahrhaft. Möglicherweise ist das der Grund, warum sie sich zu so kernigen Wesen entwickelt haben, die mit beiden Beinen fest im Leben und auf dem Zweilandboden stehen. Wobei Letzteres natürlich auch an der Schwerkraft liegen mag.
Die hat auf Untenland keinen Einfluss. Dort herrscht nur die Leichtkraft und die hält die Dinge natürlich nicht fest und sicher am Boden. So kommt es, dass die Untenländer nicht wie die Obenländer mit beiden Füßen fest auf dem Untenlandboden stehen und kräftig vorwärts schreiten können, sondern mit den Händen an der Planetenunterseite hängend sich mit affenartiger Behändigkeit von Ort zu Ort hangeln. Als Folge davon sind ihre Beine und Füße kümmerlich, wogegen sie kräftige Schultern, muskulöse Arme und derbe Hände besitzen.
Auch Untenländer ernähren sich ausschließlich von Äpfeln, nur können sie diese nicht pflücken, sondern müssen sie ausbuddeln. In Untenland wachsen nämlich nicht die Wurzeln der Bäume in den Boden, sondern deren Kronen mit den Früchten.* Ebenso wie die Häuser nicht mit den Kellern im Boden stecken, sondern mit den Dachböden. Nicht zuletzt dieser Umstand sollte das Leben des Untenländers Ädga gehörig verändern.

Eben war die Sonne unter Untenland aufgegangen und tastete sich mit ihren strahlenden Fingern durch die Fenster in Ädgas Haus. Der erwachte und rollte sich herzhaft gähnend aus der Hängematte. Während seine Gedanken schon ums Frühstück kreisten, es sollte leckeren Apfelkuchen geben, hangelte er sich ins Bad. Mit einem Mal erschütterte ein dumpfes Grollen die morgendliche Idylle. Die Wände begannen zu wackeln und Ädga, der in der Badtür hing, wurde kräftig durchgeschüttelt.
„Ein Zweilandbeben“, murmelte er erschrocken und flüchtete in den Flur. Dort befand sich eine Stange, die durch ein Loch in der Decke hinauf zum Dachboden führte. In Untenland galt der Dachboden als der sicherste Ort bei einem Beben. Da die Dächer im Boden steckten, konnten sie einem nicht so leicht auf den Kopf fallen. In fieberhafter Eile kletterte Ädga nach oben. Gerade noch rechtzeitig, ehe der Zimmerboden unter ihm barst. Das war eine gefährliche Sache, denn alles, was über 100 Kilo wog, stürzte auf den Himmel von Untenland und riss gefährliche Löcher hinein. Da Ädga höchstens 80 Kilo wog, bestand für ihn zwar keine unmittelbare Gefahr, aber Bruchstücke des Hauses konnten ihn jeder Zeit mit in die Tiefe reißen. Diese Schreckensvorstellung ging Ädga durch den Kopf, während er an einem Balken unter dem Dachboden seines Hauses hing und auf ein baldiges Ende des Zweilandbebens hoffte.

Dieses Beben war so heftig, dass man es sogar in Obenland spürte. Wie von Geisterhand geschüttelt erzitterten die Apfelbäume in den Plantagen und die reifen Früchte prasselten auf den Zweilandboden. Obenländer Schakk, der gerade beim Pflücken war, bekam einen besonders großen, drallen Apfel auf den Kopf. Er heulte vor Schmerz auf und rannte er aus dem Gefahrenbereich. Wie gut er daran getan hatte, sollte er gleich darauf merken, als sich mit lautem Getöse zwischen den Bäumen ein breiter Riss auftat. Damit war der Spuk auch schon vorüber. Trotzdem brauchte Schakk noch eine Weile, um sich von dem Schrecken zu erholen. Erst dann wagte er sich näher. Vorsichtig beugte er sich über den Riss, von dem er kein Ende erkennen konnte. Um die Tiefe trotzdem zu prüfen, nahm er einen Apfel, warf ihn hinein und harrte des Aufpralls. Als er nichts hörte, ließ er einen zweiten Apfel folgen, danach einen dritten. Nach dem vierten endlich vernahm er ein leises, fernes Geräusch.

Als das Beben vorüber war, hing von Ädgas Haus nur noch das Dach am Boden von Untenland. Der Rest war auf den Himmel gefallen oder schwebte mit anderen Trümmern unter den Häusern herum. Ädga hatte so ziemlich alles verloren: sein Haus, seine Hängematte, seine Vorräte, einzig das Dach über dem Kopf war ihm geblieben, wie lange noch, dass konnte er nur vermuten, denn im First klaffte bereits ein Riss. Zu diesem hangelte er sich hin, um ihn zu begutachten. Glücklicherweise war Ädga als Handwerker nicht ungeschickt. Doch kaum war er bei dem Riss angelangt, da erlebte er eine böse Überraschung. Ein Apfel schoss daraus hervor und prallte auf seine Nase, sodass sie zu bluten anfing. Kurz darauf trafen ihn ein zweiter Apfel an der Stirn, ein dritter mitten auf dem Kopf und ein vierter an der Schulter. Vor Schreck und Schmerz brüllte Ädga laut auf.
„Hey, ihr da oben! Was soll das? Seid ihr verrückt geworden? Gleich komme ich rauf. Dann setzt es was!“ Für ihn stand nämlich fest, dass hinter der Apfelattacke die Obenländer steckten. Es kam nicht von ungefähr, dass Gerüchte über diese Obenländer kursierten. Hochnäsig sollten sie sein, geizig und den Untenländer überhaupt nicht wohl gesonnen. Nach dieser Attacke stand für Ädga fest, dass jedes dieser Gerüchte stimmen musste, mehr noch, in ihm keimte der schlimme Verdacht, die Obenländer hätten das Zweilandbeben sogar ausgelöst, um die Untenländer zu vernichten. Von gerechtem Zorn entflammt, beschloss er diese Angelegenheit ein für allemal zu klären.

Wie gebannt kauerte Schakk vor dem Loch, aus dem er erst das leise, ferne Geräusch vernommen hatte und aus dem jetzt andere, recht unheimliche Laute drangen. Scharrend und schnaufend arbeitete sich unaufhaltsam etwas nach oben, während ihm ein frostiger Schauer nach dem anderen über den Rücken lief. Doch da Schakk kein Angsthase, sondern eher neugierig war, harrte er tapfer aus. Bald stießen zwei kräftige Hände aus dem Spalt. Ihnen folgten muskulöse Arme, ein zerzauster Schopf, ein schmutziges Gesicht und schließlich der restliche Körper eines Untenländers. Ohne lange zu überlegen packte Schakk zu und half Ädga aus dem Loch.
„Willkommen auf Obenland. Herzlich willkommen! Ich freue mich ja so, dass du hier bist“, rief er immer wieder begeistert und zu Ädgas Überraschung. Der hatte alles andere als Willkommensrufe erwartet. Sie überraschten ihn nicht nur, sondern beeindruckten ihn so tief, dass er still Abbitte leistete. Zu Worten fühlte er sich momentan nicht in der Lage. Erstens war er sehr erschöpft und zweitens drückte eine merkwürdige Last auf seine Brust. Sie presste ihn an den Obenlandboden und machte ihm das Atmen schwer. Schakk entgingen Ädgas Probleme nicht.
„Mach dir keine Sorgen. Das ist nur die Schwerkraft“, sagte er tröstend. „Sie hält alles am Boden. Du wirst dich mit der Zeit daran gewöhnen. Bis dahin werde ich dir ein wenig helfen.“ Damit nahm er Ädga, der mit seinen schwachen Beinen nicht aus eigener Kraft laufen konnte, auf den Rücken und trug ihn in sein Haus. Dort überließ er ihm ein nettes Zimmer mit Blick auf die Apfelplantagen, einen See und Bergen und befestigte die Hängematte direkt vor dem Fenster, damit er sich nicht langweilte, sondern ein bisschen in die Ferne sehen konnte. Dazu versorgte er seinen Gast jeden Tag mit neuen Apfelspeisen.
So verging die Zeit. Ädga genoss das neue Leben auf Obenland in vollen Zügen. In seiner Hängematte schaukelnd und Äpfel schmatzend, blickte er zufrieden in die Ferne. Wenn Schakk ihn freundlich darauf hinwies, dass er endlich seine Beine trainieren müsste, winkte er nur lachend ab. Das ging so bis eines Tages Schakk mit gar nicht mehr freundlicher Miene vor ihm erschien.
„Hör zu, Ädga. Ich bin es leid dich zu bedienen“, sagte er in sehr ernstem Tonfall. „Du bist lange genug in Obenland, um dich an die Schwerkraft gewöhnt zu haben. Es ist an der Zeit, dass du aus der Hängematte steigst und dich auf eigene Füße stellst.“
„Aber das geht doch nicht“, entgegnete Ädga erschrocken. „Meine Beine sind viel zu schwach, um mich zu tragen.“
„Woher willst du das wissen, wenn du es nicht versuchst?“ Schakk trat näher an die Hängematte und fasste Ädga bei der Hand. „Du brauchst keine Angst zu haben. Natürlich werde ich dich anfangs noch stützen, damit du nicht fällst, während du deine ersten eigenen Schritte tust. Und nun komm!“
Doch Ädga riss sich los. „Nein, das geht auf gar keinen Fall. Was sollen denn die anderen von mir denken, wenn sie sehen, dass du mich stützen musst. Sollen sie mich für einen Schwächling halten? Willst du mir diese Schande wirklich antun?“
„Wo denkst du hin. Kein Obenländer wird dich für einen Schwächling halten, ganz im Gegenteil. Sie werden sich mit dir freuen, wenn du es endlich schaffst, deine Äpfel mit eigenen Händen zu pflücken.“
„Äpfel pflücken? Das geht überhaupt nicht“, antwortete Ädga mit düsterer Miene. „Ich bin es gewöhnt sie aus dem Boden zu buddeln. Beim Pflücken muss ich in den Himmel gucken und davon wird mir schrecklich schwindlig. Ich werde das Gleichgewicht verlieren, stürzen und mich furchtbar verletzen. Wie kannst du nur so grausam sein?“
„Na gut. Wie du willst.“ Schakk, der sich bis dahin bemüht hatte, freundlich zu bleiben, platzte nun endgültig der Kragen. Er packte Ädga, trug ihn in die Apfelplantage und setzte ihn unter den Bäumen ab. „Hier gibt es Fallobst genug, damit du nicht verhungerst. Wenn du ein Haus willst, dann steh auf und bau dir eins. Möchtest du Gesellschaft, dann mach dich auf den Weg und such sie dir. Ich wünsch dir viel Erfolg dabei.“ Nachdem er das gesagt hatte, ging er weg und ließ Ädga, dem es glatt die Sprache verschlagen hatte, unter den Apfelbäumen zurück.
Da saß er nun, einsam und verlassen, ohne Haus und Hängematte. Voller Sehnsucht dachte er an Untenland, wo er immerhin noch ein Dach über dem Kopf und Freunde besaß, mit denen er abhängen konnte. Auf Schakk und die Obenländer jedoch ergriff ihn heftiger Zorn. Der wiederum verlieh ihm die Kraft zurück zu jenem Spalt zu kriechen, aus dem er gekommen war. Er schlüpfte hinein und begann abwärts zu klettern. Meter um Meter legte er zurück. Bald begannen seine Arme zu schmerzen und an seinen Händen bildeten sich Blasen. Das faule Leben in Schakks Haus hatte seine Muskeln erschlaffen und seine Haut weich werden lassen. Erleichtert atmete Ädga auf, als er endlich sein Hausdach erreichte. Er fädelte seine Beine in das Loch im First, hangelte tiefer und ... steckte plötzlich fest. Da hing er nun und wand sich, zappelte und strampelte, ohne dass sich etwas rührte, bis er auf die Idee kam den Bauch einzuziehen. Kaum gedacht, tat er es und flutschte durch das Loch im Dach. Doch leider erwischte er auf die Schnelle nichts zum Festhalten. Und weil sein Haus keinen Fußboden mehr besaß und er längst über 100 Kilo wog, knallte er hinunter auf den Himmel von Untenland, brach durch die Hülle und driftete, von seiner eigenen Trägheit getrieben, hinaus in den Weltraum.


* Ein solcher Baum kann im Hof des Schlosses Augustusburg bei Chemnitz besichtigt werden. Nur handelt es sich bei besagtem Objekt nicht um einen Apfelbaum, sondern um eine Linde.

Ines Haberkorn
wortstreich@web.de

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