Madrigal für einen Mörder
Madrigal für einen Mörder
Ein Krimi muss nicht immer mit Erscheinen des Kommissars am Tatort beginnen. Dass es auch anders geht beweisen die Autoren mit ihren Kurzkrimis in diesem Buch.
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Oktober 2004
Wertvorstellungen
von Thom Delißen

Sie sitzt da, an dem säuberlich abgeschmirgelten Holztisch, in der Stube unter dem Dach.
Der Rücken gerade, die schlanken Beine übereinander geschlagen.
Sie stützt die Ellenbogen auf die Platte, hält ihr Gesicht in den Händen.
“Was tun?“
fragt sie sich.
Und kann die Antwort nicht finden.
Gibt es eine Antwort?
Bilder blitzen auf, Gedankenfetzen.
Vom Mittagstisch weg hatte man sie verhaftet. Die ganze Familie.
Der gestrige Nachmittag in der Kommandantur.
Der Geruch nach Schweiß, dumpfe Schreie hinter geschlossenen Türen..
Sie ließ die Geschehnisse zum Tausendsten Male Revue passieren.
Der Offizier, der die Verhöre leitete.
Frisch, mit braungebranntem, irgendwie edlem Gesicht, saß er hinter seinem Schreibtisch.
Seine dunkelbraunen Augen schienen in ihr Innerstes zu blicken.
Ihr Gesicht nahm eine rosige Tönung an.
Mit einem langstieligen, wohl mit Rotwein gefüllten Glas, dass er elegant mit den schmalen Fingern seiner linken Hand hielt, deutete er auf sie und ihre zwei Brüder, die Mutter und den Vater.
„Die klassische Patriotensippe. Wie rührend.“
Er schob seinen Stuhl nach hinten, stand auf und wandte sich an einen der Soldaten, die im Türrahmen standen.
„Von dem Bauernhof da hinten oben? Nähe dieses Steinbruchs bei Bersenheim? Liegt ja außerordentlich günstig.“
Marta hatte ihn ständig von der Seite her betrachtet.
Was für ein feingeschnittenes Gesicht! Sie bemerkte, dass der gepflegte Schnauzer schon silberne Strähnen aufwies, auch in seinem ungewöhnlich langen Haar schimmerte es.
Er nahm einen kleinen Schluck aus dem Glas und stellte es auf dem Schreibtisch ab.
Dann stand er auf, ging um den Tisch herum, stellte sich, leicht auf den Fußzehen wippend, vor sie hin.
„Wir werden von euch Landesverrätern alles erfahren was wir wissen wollen. Es existiert da ein wunderbares Instrumentarium im Keller.“
Sie hatte gefühlt, bemerkt, wie er sie aus den Augenwinkeln fixierte.
Er kehrte zu seinem Stuhl zurück, setzte sich mit Elan.
„Die Männer ab in den Keller, zum Verhör. Die Alte raus, die Kleine bleibt hier.“
Ihre Mutter hatte an zu greinen begonnen, leise, fast ein Wimmern.
Die Wachposten trennten die sich heftig sträubende Frau von ihrem Ehemann.
“Meine Kinder! Mein Mann!“
Immer wieder rief sie es jetzt laut, als die Wachen sie aus dem riesigen Büro zerrten.
Die Männer, ihr Vater, die Brüder wurden abgeführt, fügten sich schweigsam.
Die Soldaten verschwanden mit Ihnen. Marta war allein mit dem Offizier.
Er hatte sich in den Stuhl zurückgelehnt, die zum Scheitel gekämmten Haare über der hohen Stirn verliehen ihm im Licht der kahlen Glühbirnen das Aussehen eines wahnsinnigen Künstlers.
„Du!“
sagte er.
„Mädchen! Hör mir gut zu, ich sage das nur einmal.
Du weißt was da im Untergeschoss passiert? Nein, es ist nicht das, was Du Dir in deinem
naiven, süßen Köpfchen einbildest. Nein.“
Er versuchte wohl zu lächeln, Marta sah nur seine blendend weissen Zähne.
„Nein. Tausendmal schlimmer.“
Er deutete mit seinem Zeigefinger auf sie.
„Morgen werde ich dich auf dem Hof besuchen kommen. Wenn Du freundlich zu mir bist und kein Mensch davon etwas erfährt, bleiben Deine Leute am leben. Muss ich mehr sagen?“
Er hatte sich eine Akte vom Tisch gegriffen und sie mit einem Wink entlassen.
Sie war hinausgestolpert, ihrer Mutter in die Arme, schluchzend standen sie beisammen.
Kein Wort zu ihr über den Inhalt des kurzen Gespräches mit dem Oberleutnant.
Die Sache war zu ungeheuerlich.
In der Nacht tat sie kein Auge zu.
„Was tun?“
Am Morgen hatte Marta, als ihre Mutter den Abtritt besuchte, die Waffe des Vaters unter den Dielenbohlen hervor geholt und sie auf ihr Kämmerlein unter dem Dach geschafft.
Ein leichter Damenrevolver, von dem alle im Haus wussten.
Nun saß sie hier, an diesem Tisch.
Wusste nicht was sie denken sollte.
Sollte sie sich vorstellen, dieser Mann …
Ein heisses, wohliges Brennen in ihrem jungfräulichen Schoß.
“Um Vater und die Brüder zu retten!“
Durch das schräge Fenster war in diesem Augenblick, weit weg noch, das typische Geräusch eines Kübelwagens zu hören.
„Was tun? Das Unaussprechliche?“
Sie keuchte.
“Würden sie denn gerettet werden?“
Ihre Gedanken wirbelten in einem wilden Kaleidoskop. Schauer liefen über ihren Rücken.
Wie könnte es sein?
Tat es weh?
Es war Sünde. Eine Todsünde.
Sie hörte den Lastkraftwagen unten vorfahren, den blechernen Klang der Autotür.
„Was tun?“
Der unbekannten Wollust nachgeben?
Dann die Glocke der Haustür, die Protestrufe der Mutter, schließlich die schweren Schritte auf der Stiege zu ihrem Kämmerchen auf dem Dachboden.
Der hübsche Oberleutnant klomm die letzten Stufen hinauf.
Schließlich stand er in der Stube.
„Was tun?“
Marta holte die hinter ihrem Rücken versteckte Pistole hervor, zielte auf die Brust des Offiziers und drückte entschlossen ab.
Mit einem verblüfften Gesichtsausdruck griff sich der Uniformierte an das Revers, starrte einen Augenblick lang seine blutverschmierten Hände an und brach zusammen.
Tatsächlich war der Offizier allein gekommen, sein Verschwinden wurde nie aufgeklärt.
Das Armeefahrzeug fand man in weiter Entfernung des Hofes.
Vater und Söhne starben in den Kellern des Rathauses, ohne ihre Geheimnisse preiszugeben.
Auf dem Grab des Oberleutnants, den Mutter und Tochter hinter dem Hühnerhaus verscharrten, ist in diesen Tagen, wie der Zufall es will, eine stämmige deutsche Eiche zu bewundern

Heute ist Marta 70 Jahre alt.
Unverheiratet.
Den Revolver trägt sie immer bei sich.


TD

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
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