Der Tod aus der Teekiste
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Oktober 2004
Der Lehnstuhl
von Albertine Sprandel

‚Zuerst die Kisten’, denkt Florian. Er hebt eine Kiste, um sie zur Dachluke zu schleppen, da ist ihm, als ob er eine Stimme hört:
"Ich geh nicht."
Vor einem Jahr deponierte Florian mit seinen Eltern die Hinterlassenschaft seiner Großmutter auf dem Dachboden. Jetzt soll hier der Übungsraum für sein Schlagzeug entstehen. Wenn Florian die alten Sachen wegschafft, dann wird ihm sein Vater beim Umbau helfen. Das ist die Abmachung.

Aus dem hinteren Teil des Dachbodens hört er es wieder:
"Fass meine Sachen nicht an!"
Es rumpelt und kracht, als Florian die Kiste fallen lässt.
Von unten ruft seine Mutter.
"Alles in Ordnung, Flo?"
"Ja. Ich bin nur gestolpert."
"Ich gehe einkaufen. Bin in einer Stunde wieder da!" Er hört, wie sich die Haustür hinter ihr schließt.
"Mach die Luke zu." Florian erkennt die Stimme. Aber das ist nicht möglich. Seine Großmutter ist tot, eingeäschert und die Urne in einer Wandnische eingemauert.
"Mach die Luke zu!", wiederholt die Stimme.
"Ich bin allein," flüstert Florian zitternd. Gleichzeitig wärmt ihn die Erinnerung an die früheren Heimlichkeiten mit seiner Großmutter.
"Was tust du hier?" Auch der Befehlston kommt ihm bekannt vor.
Florian starrt auf die obersten Sprossen der Schiebeleiter.
"Ein Ãœbungsraum. Auf dem Dachboden darf ich mir einen Ãœbungsraum bauen!"
"Meine Sachen bleiben hier."
Florian dreht sich um. Stück für Stück tasten seine Augen den Raum ab. Als ob er nicht finden will, was er zu sehen hofft. Sonnenlicht scheint durch ein winziges Dachfenster auf den Lehnstuhl der Großmutter. Florian sieht sie darin sitzen. Wie früher. Nur die Polster fehlen. Die hatte er mottensicher in Kisten verpackt.
Der Lehnstuhl war aus Kirschholz. Als Junge liebte er es, von hinten an den gedrechselten Stäben der Lehne zu drehen. Sein Vater hatte Rollen am Stuhl angebracht, damit die Großmutter auf die Terrasse geschoben werden konnte. "Bringt mich in die Sonne, ich möchte sie auf der Haut spüren," befahl sie selbst bei der größten Kälte.

Florian kann die feinen Gesichtszüge der alten Frau erkennen. Sie sind mit einem Spinnennetz aus Falten überzogen. Die Augen schimmern blassgrün und lächeln. Fast durchsichtige Haare stehen wie elektrisiert nach allen Seiten ab. Die Gestalt ist dürr. Sie trägt ein weißes Top und drei pastellfarbene Tüllröcke übereinander. Ihre runzelige Haut ist gebräunt.

'Sie ist es wirklich', denkt Florian und schüttelt den Kopf, um sich von dem Bild zu befreien.
"Was hast du denn gedacht?"
"Was?"
"Meine Sachen, mein Lehnstuhl, wo soll das hin?"
"In den Container."
Vom Lehnstuhl kommt kein Laut. Fast eine Minute lang. Florian denkt an die Worte seines Vaters: "Ich setze keinen Fuß auf den Speicher, bevor nicht das Gerümpel weg ist. Wir hätten es gleich fortschaffen sollen." Es war Florian, der sich von den Erinnerungen nicht trennen konnte.
Die Großmutter scheint im Schweigen zu verschwinden. Wie um sie festzuhalten, fragt Florian:
"Warum hast du diese Kleider an?" Das gefällt ihr. Sie strahlt aus dem faltigen Gesicht.
"Ich will tanzen. Tanz mit mir!"
"Ich kann nur Schlagzeug spielen."
"Ich zeig es dir."
"Ich kann es aber nicht! Nicht mit Dir.“
"Tu nicht so. Du kennst mich."
Das stimmt. Er kannte sie. Seine Großmutter sagte immer "Nur du verstehst mich. Du weißt, was für eine Tänzerin ich bin." Er bewunderte sie. Aber da war er zehn, das war vor sechs Jahren. Sie waren gemeinsam in einer Aufführung von Pina Bausch gewesen. Seine Großmutter hatte ihm genau gezeigt, welchen Part sie tanzen werde. Und das tat sie dann zu Hause.
In ihrer Jugend war sie Balletttänzerin in einem städtischen Ensemble gewesen. Nach ihrem ersten Auftritt ging sie mit einem Verehrer aus und wurde schwanger. Ehe sie sich versah, bekam sie noch weitere drei Kinder. Von da an tanzte sie nur noch für die Kinder und Enkelkinder. Florian liebte ihre Kostüme und ihre Bewegungen. Und die Musik! Ja, sie brachte ihm die ersten Rhythmen bei.
"Aber du bist tot!"
"Du bist leblos. Du haust nur auf die Trommeln und Schellen, Kleiner. Ohne Gefühl."
"Du fehlst mir."
"Tanz mit mir. Dann bekommst du deinen Ãœbungsraum."
"Und ich darf alles in den Container räumen, nichts bleibt oben?"
"Nimm meine Hand!"

Florian streckt dem Lehnstuhl seine Hand entgegen. Er fühlt sich, als ob er durch eine Trompete gezogen wird und landet in einer dunklen Bar. Zusammen mit einem jungen, strahlenden Mädchen steht er inmitten eines Lichtkegels. Ein kleines Orchester begleitet sie. In langsamen Bewegungen spüren sie dem Erwachen zum Leben nach. Wachstum, Blühen bis sie nach den schnellen Rhythmen einer Trommel wie Samenkörner im Wind durch den Raum schweben.
"Jetzt spiel du", ruft ihm seine Partnerin zu. Ihre Haut ist gebräunt, die zierlichen Gesichtszüge lassen sein Herz hüpfen.
Er beginnt zu spielen.

Ganz sacht nimmt Florians Mutter ihm die gedrechselten Stäbe aus der Hand. Die Pappkartons sind zerbeult, Regalbretter und Holzfiguren zersplittert.
"Kannst du nicht einmal einfach nur aufräumen?!"


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