Madrigal für einen Mörder
Madrigal für einen Mörder
Ein Krimi muss nicht immer mit Erscheinen des Kommissars am Tatort beginnen. Dass es auch anders geht beweisen die Autoren mit ihren Kurzkrimis in diesem Buch.
mehr ... ] [ Verlagsprogramm ]
 SIE SIND HIER:   HOME » MITMACH-PROJEKT » SCHREIBAUFGABE » G. K. Nobelmann IMPRESSUM
NEWSLETTER
Abonnieren Sie unseren Newsletter.

Jetzt anmelden! ]

UNSERE TOP-SEITEN
1.) Literatur-News-Ticker
2.) Leselust
3.) Forum
4.) Mitmach-Projekt
5.) Schreib-Lust-News 6.) Ausschreibungen 7.) Wettbewerbs-Tipps
Oktober 2004
Hier hat einer gewohnt
von G. K. Nobelmann

“Ich glaub’s nicht”, sagte Nadine, das Auge am Türspion. “Es ist diese Rotznase von nebenan.”
Svenja steckte den Kopf durch die Badezimmertür, bemüht, die Pampe in ihren Haaren zu halten. Schon tropfte es ihr kühl in den Nacken. “Was will der denn, ist es nicht ein bißchen spät für ihn?”
“Ich kann ihn gern fragen”, meinte Nadine fröhlich und riß die Wohnungstür auf, im selben Moment, in dem Svenja sich im Bad einschloß.
Gott, im Gesicht waren auch ein paar Spritzer; sie sah aus wie etwas aus einem Slasher-Film, überall zähe, tiefrote Rinnsale. Svenja mußte an Jörn denken, aufgeregt, fast begeistert – Mensch, Mädels, hier hat einer gewohnt, also krasse Sache! Sie griff sich eine Handvoll Klopapier und begann, an ihrer Stirn herumzureiben.
Aus dem Flur kamen gedämpfte Stimmen. Hatte die blöde Heidi mal wieder keine Nudeln im Haus? Rainer hat wieder nicht überwiesen, äffte Svenja lautlos in den Spiegel. Sie zog sich das Handtuch enger um den Leib und hockte sich mit der Mopo von gestern auf den Klodeckel, um die letzten zehn Minuten des Timers abzusitzen.


Frisch errötet schmiß Svenja die Zeitung in den Altpapierkorb, stellte den Timer zurück ins Regal zu den Eierbechern und Müslischüsseln und griff nach den Erdnußflips; meine Herren, was lief denn heute wieder im Fernsehen? Verheulte Kinderstimme über sentimentalen Geigen...
Die Geigen kamen aus der Glotze, aber der Besitzer der Stimme hockte auf ihrer Couch.
“Was ist denn hier los?” Svenja lehnte sich in den Türrahmen, die Arme vor der Brust verschränkt.
Am anderen Ende des Sofas zuckte Nadine hilflos die Achseln. “Heidi ist durchgebrannt”, sagte sie. Das ließ den Jungen – Marlon, Marvin? – wieder losschluchzen.
“Sie ist weg!” erklärte er, als mache das einen bedeutenden Unterschied. “Sie w-wollte gleich w-w-wiederkommen, und jetzt ist sie weg!”
Svenja, darauf bedacht, daß er es nicht sehen konnte, verdrehte die Augen. Scheiß-Heidi. Ein beschissener Männergeschmack war eine Sache; seinen Achtjährigen über dem aktuellsten Lover komplett zu vergessen eine ganz andere. “Seit wann ist sie weg?”
Marlon schluckte und zog die Nase hoch. Seine Augen hingen an der cremefarbenen Ratte, die sich gerade Nadines Pulli hochhangelte. “Seit einer Stunde. Sie sagte, sie wäre gleich wieder da!”
Nadine und Svenja wechselten einen stummen Blick. Ludwig, zufrieden auf Nadines Schulter angekommen, begann eine ausgiebige Wäsche.
Eine Stunde, na ja. Die würde schon wieder antanzen, mit zerzauster Frisur und überdrehtem Lachen. Aber es war neun Uhr abends, keine Zeit, sein Kind allein in der Wohnung sitzenzulassen, vor allem, wenn draußen der erste richtige Herbststurm die dünnen Straßenbäumchen bog. Marlons Magen knurrte hörbar.
“Sie wollte doch nur die Wäsche aufhängen”, sagte er leise zur Glotze.


Auf dem Dachboden bauschten sich Laken und Kopfkissenhüllen, dahinter zwei Bettbezüge, alles so ordentlich auf der Leine wie mit dem Lineal gezogen. Der Wind pfiff durch alle Ritzen. Svenja fröstelte mit ihren halbnassen Haaren.
“Das kann doch wohl nicht sein. Hat schnell ihr Zeugs aufgehängt und ist dann abgehauen?” Nadine machte einen ratlosen Schritt in den Raum hinein.
Vielleicht hatte sie ihren Lover auch hier oben getroffen; weder sie noch Svenja mußte es aussprechen. Heidi besaß einen schrägen Sinn fürs Abenteuerliche. Bloß, daß es hier oben saukalt war, und daß der Schlüssel zum Trockenboden an seinem Nagel neben der Tür gehangen hatte, und daß man hier oben ohne Licht nicht einmal seinen eigenen Hintern fand, geschweige denn den Ausgang. Und, natürlich, daß der Boden verlassen war. Svenja seufzte.
“Laß uns wieder nach unten gehen. Hier ist sie nicht, siehst du doch. Und wer weiß, was Marlon deiner armen Ratte gerade zu essen gibt.”
“Findest du das nicht irgendwie seltsam?” Skeptisch musterte Nadine die ausgefransten roten Leinen, die sich in ordentlichen Parallelreihen durch den Raum zogen. “Wenn sie wieder gegangen wäre, hätte sie doch hinter sich abgeschlossen, oder? Seit der Sache mit der Kampinski und ihren Höschen läßt doch keiner mehr seinen Kram unbewacht hängen.”
“Hat sie eben vergessen”, sagte Svenja mürrisch. “Dafür hat sie das Licht ausgemacht. Im Dunkeln wird die ihre Wäsche wohl kaum so auf die Leine bekommen haben.”
Nadine schüttelte den Kopf, aber sie kam endlich. Niemand konnte Svenja erzählen, daß sie nicht selbst die Horrorgeschichten ihres blöden Jörn im Kopf hatte.
Svenja löschte das Licht und schloß die Tür, und in dem Moment, in dem sie die Klinke heranzog, fiel ihr Blick auf die geisterhellen Rechtecke der Evertschen Bettwäsche, gerade noch zu erahnen in der Dunkelheit. Hinter ihr polterte Nadine die Treppe hinunter zur Wohnung, zu Marlon und Miracoli und heißem Kakao, und der Sturm ließ das Gebälk knistern, aber die Kissenhüllen und Laken hingen sehr still in der Schwärze, und für einen Augenblick mußte Svenja an Zähne denken, ein Gebiß aus breiten, weißen, gigantischen Zähnen. Und dahinter der schwarze, zungenlose Schlund.
Sie schlug die Tür zu und drehte den Schlüssel im Schloß, nur für den Fall.


In der Nacht schlief sie schlecht. Das lag zum Teil am Wind, der das undichte Fenster vibrieren ließ, aber sie mußte auch an Heidi denken, die vielleicht jetzt dort oben... Und dann natürlich Hunger-Hans.
Svenja ärgerte sich über Nadines unreifen Freund, ey, übel Sache, das; fast so sehr wie über sich selbst.
Der Trockenspeicher lag direkt über ihrer Wohnung, und vereinzelt, im Halbschlaf, meinte sie Schritte gehört zu haben; aber wann immer sie die Augen öffnete, herrschte wieder Ruhe, die Ruhe einer stürmischen Nacht im November. Wenn Heidi wirklich da oben war – konnte man erfrieren, auf einem unisolierten Dachboden im Herbst? Es war nicht so kalt, oder? Außerdem, die Alte war nicht da, sie hatten schließlich nachgeguckt, und so groß war der Speicher nicht, daß man eine blondierte Krähe von einer Frau hätte übersehen können.
Sie war gerade wieder eingedämmert, als sie Stimmen vor ihrer Tür hörte. Heimkehr der Rabenmutter vielleicht; aber nein, das war Nadine, die da flüsterte, und da kamen auch schon wieder die erstickten Heulgeräusche des Jungen. Eigentlich konnte Marlon einem leidtun, aber Svenja fühlte sich zu sehr vereinnahmt von ihm und seiner Mutter; es ging doch nicht an, daß Nadine und sie einer Frau, die doppelt so alt war, regelmäßig Nudeln oder Cola oder zwanzig Euro leihen mußten. Von denen sie nie etwas wiedersahen. Und wenn man Heidi wegschickte, klaute sie einem die Post aus dem Briefkasten. Entweder sie oder der greise Säufer von unten. Kein Wunder, daß von den sechs Wohnungen zwei leerstanden, bei dem Pack, das sich hier eingewanzt hatte.
Sie zog die Decke über den Kopf und hätte fast überhört, wie die Wohnungstür zugezogen wurde. Sie setzte sich auf. Im Flur herrschte Stille. Was war das denn jetzt?
Wahrscheinlich holten die beiden nur etwas aus der Nachbarwohnung. Oder der Junge hatte jemanden im Treppenhaus gehört.
Der Boden über ihr knarrte, und sie konnte hören, sehr leise, wie die Speichertür quietschend aufschwang. Keine Schritte, klar, Nadine hatte ihre dicken Schlafsocken an, und der Junge war vermutlich barfuß. Stöhnend ließ sie sich wieder zurückfallen.
Sie schlief ein, bevor sich die Wohnungstür ein zweitesmal geschlossen hätte.


Am Morgen hockte Ludwig allein in Nadines Zimmer, und auch das Sofa im Wohnzimmer war frei. Svenja beglückwünschte sich, daß ihr Seminar erst gegen Mittag begann. Als sie abends von der Uni kam, blinkte es ihr hektisch vom Anrufbeantworter entgegen; Jörn wollte wissen, wo Nadine war und was denn nun mit heute abend wäre.
Der Schlüssel zum Trockenboden hing an seinem Nagel neben der Tür.
Svenja fühlte ein schweres Schweigen über ihrem Zimmer lasten; als wäre die Stille des großen, leeren Raumes über ihr zu massiv geworden für die dünnen Zwischendecken, das Mauerwerk, als begänne die Dunkelheit sich auszudehnen über den Speicher hinaus.
Kein Laut aus der Nachbarwohnung. Auch das Rentnerpaar von unten, das sonst selbstvergessen mit seinem Sherry ganze Tage vor dem brüllenden Fernseher absaß, rührte sich nicht. Wie lange war es her, daß sie das letzte Mal die Kennmelodie von “Explosiv” durch das Linoleum gehört hatte? Svenja kauerte auf ihrem Bett, die Nachttischlampe das einzige Licht auf der Etage, und versuchte, nicht zu lauschen.
Ließ Betty Kampinski.
Svenja griff nach ihren Schuhen. Wenn Betty da war, versprach sie sich, dann hieß das, daß eine gewisse Studentin aus dem zweiten Stock dringend ausspannen mußte.
Auf dem Weg nach unten hatte sie sich schon fast wieder eingefangen. Mit Sicherheit war es auch vorher vorgekommen, daß Wohnungen leer standen und Stille durch die Mauern sickerte, es war ihr nur nicht aufgefallen, und daß unter der Tür der Fernsehrentner kein Lichtstreifen lag – egal. Nichts davon, gar nichts, hatte etwas mit dem Jahr 1956 zu tun und mit einem durchgeknallten Ex-Schuster mit halber Hand. Svenja ließ ihre Hacken auf den Stufen dröhnen.
Im Erdgeschoß konnte man den Verkehr von der Kreuzung hören. Auf Bettys Fußabtreter gaben sich zwei Igel einen Nasenkuß. Svenja betrachtete ihre Füße in den alten Turnschuhen. Es dauerte, bis Betty sich dazu herabließ, die Türklingel zu hören.
“Ach, Sie sind’s”, meinte sie ohne große Betonung und atmete Zigarettenrauch ins Treppenhaus. Augenblicklich wußte Svenja nicht mehr, weshalb sie gekommen war. Dann hörte sie das Quietschen gequälter Bereifung sowie Trommelfeuer, untermalt von drängender Musik.
“Es ist wegen Messerschmidts”, sagte sie schnell. “Ich wollte nur fragen, ob Sie... ich meine...”
Betty musterte sie gleichmütig unter einem dicken Fransenpony hervor, der denselben Farbton besaß wie Svenjas. “Von denen hab ich schon ‘ne Weile nichts bemerkt.” Sie zuckte die Achseln. Das Licht im Treppenhaus erlosch mit einem Klicken. “Sind wohl bei den Kindern.”
“Und wenn ihnen was passiert ist?”
“Wieso, riecht’s schon?” fragte Betty zurück und füllte das Treppenhaus mit ihrem rauchigen Lachen. “Nee, nee, machen Sie sich man keine Gedanken. Die sind doch beide noch ganz gut beisammen. – Und zu zweit”, fügte sie hinzu. “Allein stirbt sich’s leichter”, und Svenja duckte sich unter einer erneuten Lachsalve.
“Ist doch so”, meinte Betty gutmütig und war bereits dabei, die Tür zu schließen.
Von der Straße her kam das Zischen einer LKW-Schaltung; jemand ging am Haus vorbei, ein verzerrter Schemen vor dem Riffelglas der Haustür. Weit entfernt das Knattern einer Vespa. Svenja dachte an die Laut-Losigkeit ihres Zimmers, ihrer Wohnung, der ganzen Etage, und der darunter. Eine Stille, dicht wie Watte. Und über ihrem Kopf, tief und schwarz, der Dachboden, darauf reglos auf Leinen aufgezogen Heidis vergessene Wäsche.
Sie starrte auf die Tür zu Bettys Nachbarwohnung, auf der anderen Seite des Treppenabsatzes. Das silberne Rund des Gucklochs schimmerte matt.
Hunger-Hans mit der halben Hand.
Sie zog die Haustür auf und lief zur Kneipe an der Ecke.


Am Morgen erwachte sie mit zwei unumstößlichen Erkenntnissen: 1. – sie hatte zuviel getrunken. 2. – sie war bekloppt. Diese blöden Geschichten, das hatte sie doch vorher auch alles nicht tangiert.
Fahles Herbstlicht fiel durch die offene Jalousie, so grau, daß die Sonne gerade erst aufgegangen sein konnte. Svenja schleppte sich in die Küche. Alkohol ließ sie nie gut schlafen; um elf hatte sie die “Reichsreform im 15. Jahrhundert”-Einführung, und die Stunden bis dahin konnte sie genausogut mit Lernen verbringen. Sie löffelte das Kaffeepulver in den Filter. Neben Nadines leerem Bett rumorte Ludwig in seinem Käfig. Mal wieder typisch. Pennte bei ihrem Freund, und wer durfte sich um ihre Ratte kümmern? Hätte sich wenigstens mal melden können, die Alte.
Aus dem Treppenhaus klang brüchiges Pfeifen; Svenja mußte nicht zum Türspion eilen, um zu wissen, daß dort Betty in ihren Leopardenprint-Bademantel gewickelt den Wäschekorb nach oben trug. Betty ging spät schlafen und stand früh wieder auf. Mehr Zeit zum Rauchen. Sie konnte nicht älter als fünfzig sein, aber einer Arbeit schien sie nicht nachzugehen, oder vielleicht steckte sie Broschüren in Umschläge oder leitete einen Callgirl-Ring, wer wußte das schon.
Von der Küche aus hörte man wirklich jeden Piep. Jetzt klackte der Schlüssel zum Speicher im Schloß; es quietschte, und Bettys Pfeifen stockte kurz. Svenja merkte, wie sich ihr Hals zusammenzog.
Hier hat einer gewohnt, also krasse Sache; total fertiger Typ, Hunger-Hans hieß der, und eines Abends
Dann knallte die Tür gegen die Wand, Bettys Straßpantoffeln klapperten über die Speicherdielen, und mit etwas Phantasie konnte man meinen, der Wind oben in den Dachsparren versuche sich nun an “Feel”, oder möglicherweise “Barbie Girl”.
Svenja griff ihre Kaffeetasse, stellte sich den Rattenkäfig auf den Schreibtisch und schlug den Hlavacek auf. Reform von Kirche und Reich zur Zeit der Konzilien von Konstanz und Basel. Trockener Stoff; aber zum Glück war es heute immer noch still genug, daß nicht mal der Berufsverkehr auf der Kreuzung sie ablenken konnte. Auf dem Dach seines Häuschens lag Ludwig zu einer Plüschkugel zusammengerollt und raspelte dann und wann zufrieden mit den Zähnen.
Als sie die Augen wieder aufmachte, hatte sie den Abdruck ihres Kugelschreibers an der Wange, und der Digitalwecker stand auf siebzehn Uhr zwanzig.


Im Briefkasten nur eine Postkarte für Nadine. Svenja schloß das Fach wieder zu. Betty sah fern; von ihrer Wohnungstür kam blechernes Lachen und frenetischer Applaus, vermischt mit schrillen Pfiffen. Ganz schön laut, eigentlich.
Wie eine Marionette am Faden wandte Svenja den Kopf und sah, daß die Tür nur angelehnt war, der innere Riegel vorgeschoben, damit sie nicht ins Schloß fiel, und wenn das nicht typisch war, wenn das bloß nicht typisch war – den Trockenspeicher abschließen, damit sich niemand an ihren billigroten Spitzentangas vergriff, aber die Wohnungstür auflassen, Mensch, Betty, und wie lang war es her, wie lange, seit sie ihren Kram nach oben geschleppt hatte in ihren bescheuerten klackenden Puschen?
’56 war das, euer Haus stand da gerade mal ein paar Jahre... Also der Typ war echt derbe drauf, muß man sich mal vorstellen – kriegsversehrt, rechte Hand nur noch Matsche, also Schluß mit Schustern... geht der los und ohne jeden Grund
Svenja fühlte sich auf einmal sehr leicht und zerbrechlich, so, als könnte ein falscher Laut, ein heftiger Atemzug sie zerspringen lassen. Sie legte eine Hand auf die Metallkante der Brieffächer.
die Frau von oben zuerst, auf die konnte er wohl, nur wollte sie nichts von ihm, und da hat er gewartet, bis sie
“Frau Kampinski?”
Wäsche
Selbst das Rauschen der Autoreifen draußen auf dem regennassen Asphalt schien leiser geworden zu sein. Svenja holte Luft. “Frau Kampinski? Sind Sie da?”
Das war übrigens die Wohnung von den beiden Hübschen unter euch, muß man sich mal reinziehen. Jedenfalls, das hat ihn wohl erst richtig auf den Trip gebracht, jedenfalls kam dann als nächstes die
Die Jute-Igel lächelten und rieben verträumt ihre Nasen aneinander. Aus dem Spalt der angelehnten Tür drang Johlen und Klatschen. Svenja zog an einer ihrer frisch gefärbten Strähnen und fand Erklärungen, soviele sie nur wollte – Betty, vor dem Fernseher eingeschlafen; Betty im Keller beim Altpapier; Betty oben auf dem Dachboden mit der zweiten Ladung
Wäsche aufgehängt hat, und da hat er
des Tages; Betty rauchend am Balkongitter, vor dem Regen geschützt durch den Balkon der Messerschmidts über ihr.
Als Hausmeister hatte der für die ganzen Räume die Schlüssel, für die Wohnungen übrigens auch, und er hat sie dann in ein Laken gewickelt und runter zum Keller geschleift, und da unten
Auf dem Balkon stand niemand, nur ein paar verdörrte Topfpflanzen und ein Gartenstuhl aus Plastik. Dafür ragte aus dem Zeitungskasten die aufgeweichte Rolle der Kampinskischen Mopo.
Svenja zog den Kopf zurück durch die Haustür.
große Sache war das damals, versteh gar nicht, wieso das heute keiner mehr
Hinter ihr ein Klacken und abrupte Dunkelheit.
Svenja tastete sich zum Leuchtknopf der Etagenbeleuchtung vor, direkt neben der Klingel von Bettys Nachbarwohnung. Die Treppenhausleuchten gossen ein seltsam dumpfes gelbes Licht über die Stufen. Wie im Traum stapfte sie nach oben, tiefer und tiefer in die Stille hinein.
Oben in der Wohnung hing das Schweigen so dick, daß man es beinahe körperlich fühlen konnte. In ihrem Zimmer war es kühl. Durch das Fenster konnte man auf die Gärten hinter dem Haus hinuntersehen, regengrüne dunkle Parzellen, abgeschnitten von der Rückseite des nächsten Wohnblocks. Golden leuchtete es von den Fenstern herüber. Ludwig stand am Gitter und sah ihr entgegen.
Vorsichtig steckte Svenja die Hand in den Käfig und hob den kleinen Körper heraus; der Ratterich kletterte ihren Arm hinauf und schlängelte sich von ihrer Schulter aus weich in ihren Ausschnitt. Svenja konnte fühlen, wie der Pulliärmel sich unter seinem Gewicht dehnte. “Dann gehen wir mal gucken”, sagte sie leise.
Das Licht im Treppenhaus glomm jetzt rostorange, wie im Inneren einer roten Kerze. Alle fort, hämmerte es in Svenjas Kopf, die Silben im Takt ihrer Schritte auf den Stufen; allefort, allefort. Niemand in diesen Mauern außer ihr und Ludwig, vom Boden bis zum...
Die Birne auf dem Wäschespeicher blieb dunkel, aber darauf war Svenja vorbereitet. Jemand hatte die Bettwäsche in einem halbwegs ordentlichen Stapel neben der Tür abgelegt; an ihrer Stelle hingen Blusen auf der Leine, T-Shirts, Röcke und Strumpfhosen, ein wildes Durcheinander von Farben und Mustern und glitzernden Pailletten. Svenja ließ den Strahl der Taschenlampe über die Kleiderreihen wandern; dort der rote Minirock, das Top mit dem goldschimmernden Löwenkopf. Dahinter die Stretch-Jeans mit dem Zebramuster, über die Nadine sich immer so aufregen konnte, hauteng klebte die auf Bettys Hintern, aber wo steckte der jetzt, und wo war seine Besitzerin?
Svenja leuchtete den Boden ab, in der halben Erwartung, irgendwo einen Straßpantoffel liegen zu sehen, vielleicht in dem Winkel, wo die Dachsparren die Bohlen trafen. Nichts. Dafür traf es sie zum erstenmal, wie sauber der Dachboden war; nirgendwo ein Krümel Mäusedreck, kein Fetzen Spinnweben in den Ecken, kein Staub, nichts. Sie krauste die Stirn.
Hatte Heidi nicht immer von Ratten geredet, die über ihrer Schlafzimmerdecke trappelten? Und dort hinten, da hatte doch einmal ein Wespennest gehangen, oder zumindest die Ansätze eines Wespennestes.
Es konnte nicht sein, dachte sie. Der Speicher, diese stickige alte Rumpelkammer, für die sich niemand verantwortlich fühlte, war sauberer als ihre eigene Küche.
Sie spürte die Wärme an ihrem Arm, ein seidiges Streicheln, und dann war Ludwig aus ihrem Ärmel geglitten und landete mit einem dumpfen Laut auf den Dielen. Im nächsten Moment war er fort, verschmolzen mit den Schatten jenseits des Lichtkegels, irgendwo dort, wo die Säume von Bettys Leggings fast den Boden streiften. Svenja stieß einen erstickten Laut aus und rannte ihm nach, denn wenn Ludwig einmal fort war, kam er nicht wieder, das hatte Nadine immer gesagt, und jetzt war er irgendwo hier auf dem Wäschespeicher, überall Winkel und Lücken, durch die man hinaus aufs regennasse Dach konnte, zwei Stockwerke tief, oder über die Ziegel zum Nachbarhaus–
“Ludwig!”
Hektisch fuhr der Lichtstrahl über weißen, schwarzen, roten Stoff, verrenkte Schemen an ihrem Leinengalgen, hier und da ein Aufglitzern, ein Blitzen. Svenja kämpfte sich durch einen Wald von Kleidern, alle Sinne konzentriert auf eine kleine dicke cremeweiße Ratte; sie fühlte kaum die feuchtkalte Berührung der Kleidungsstücke. Ludwig war weg und sie mußte ihn finden, das allein zählte.
Auf der anderen Seite der Kleidermauer war es sehr dunkel und sehr still. Das Licht vom Treppenhaus sickerte nicht länger auf den Boden, und man konnte den Ausgang nicht mehr sehen.
November 1956
Einmachgläser voller
unten im Keller
Als sie ihn fanden, war er
Einmachgläser voll mit
schon ganz
Gab sogar ein Lied, das haben die Kinder auf der Straße
Hunger-Hans, weil er so dürr war, dabei hatte er
Einmachgläser
immer Hunger
“Drei Stufen zwei Stufen eine Stufe noch
schleicht er hinter dir die Treppe hoch
Eine Klammer zwei Klammern drei Klammern drauf
kommt der Hunger-Hans und
fri–”
In ihrem Rücken ein scharfes Einatmen. Svenja schrie und riß die Lampe herum, das Plastikgehäuse warm in ihrer schweißnassen Hand; kein blasses, eingefallenes Gesicht, keine ausgestreckte fingerlose Rechte, nur Bettys vermaledeite Zebrajeans in einem Knäuel auf dem Boden.
Sie mußte sie mit der Schulter gestreift haben, und Betty war nicht wie Heidi; ihr war es egal, ob ihre Wäsche wie Kraut und Rüben an der Leine baumelte, husch-husch hingehängt. Eine Klammer, zwei Klammern. Svenjas Herz hämmerte, daß man es bis ins Stockwerk darunter hören mußte.
“Ludwig!” zischte sie. Der Schock hatte ihre Angst weggefegt; Svenja fühlte sich, als wäre sie aufgewacht. Zum erstenmal dachte sie daran, einfach den Käfig auf den Boden zu tragen, ein bißchen Pizza rein, und dann würde der faule Rattenmann am Morgen schon in seinem Häuschen liegen. Stattdessen stand sie hier in den Kälte und brüllte hysterisch durch die Gegend.
Sie nahm die Taschenlampe in die andere Hand und bahnte sich ihren Weg zurück zur Tür. Irgendwo schabte und klingelte es leise, und sie konnte sich hundertmal sagen, daß das nur Bettys Paillettenhemdchen waren, sie war doch froh, als sie endlich den Dachbodenschlüssel hinter sich im Schloß drehen konnte.
Die Beleuchtung im Treppenhaus war natürlich längst erloschen. Svenja ließ den Schalter unter ihren Fingern klicken, aber nichts geschah; deshalb hatte das Licht vorhin so seltsam ausgesehen, die Leitung war dabeigewesen, den Geist auszuhauchen. Marode Bude; und sie ließ den Strahl der Taschenlampe vor sich die Stufen hinunterwandern.
Und wenn sie bei Jörn anrief? Eigentlich nicht sehr nett, Nadine heute abend noch von Ludwigs Flucht zu erzählen, aber es wäre beruhigend gewesen, ihre Stimme zu hören, selbst, wenn sie ihr Vorwürfe machte.
Svenja trat auf den Treppenabsatz, noch sieben Stufen bis zu ihrer Wohnung. Hinter der Biegung nur Schatten. Kein Geräusch von der Straße, es war so still, wie es dunkel war, und unvermittelt dachte Svenja an den Fernseher hinter Bettys offener Tür, und daß er eben noch vergessen gelärmt hatte. Sie erstarrte, die Hand auf dem Geländer.
Unter ihr, in der Tiefe des Hauses, schwere Schritte, die langsam die Treppe heraufkamen.


(c) G.K. Nobelmann

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
Dieser Text enthlt 22942 Zeichen.

Druckversion

 LINKTIPPS: Naturwaren Diese Website wird unterstützt von:

www.mswaltrop.de
Copyright © 2006 - 2024 by Schreiblust-Verlag - Alle Rechte vorbehalten.