Futter für die Bestie
Futter für die Bestie
Gruselig geht's in unserer Horror-Geschichten-
Anthologie zu. Auf Gewalt- und Blutorgien haben wir allerdings verzichtet. Manche Geschichten sind sogar witzig.
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Oktober 2004
Ãœbriggeblieben
von Elsa Rieger

„Es ist erschreckend.“ Karla zuckte zusammen, denn die Spitze des Zahnstochers, mit dem sie nach einem Kuchenkrümel zwischen zwei frisch verkronten Backenzähnen pulte, stach exakt ins irritierte Zahnfleisch.
„Ich meine, der Zahnarzt ist gut, aber privat ...“
Pauline, die schon das zweite Tortenstück verspeiste, fragte mampfend: „Wieso? Was ist mit ihm?“
„Na, er hat was mit seiner Sprechstundenhilfe! Dabei drei Kinder und seit Ewigkeiten verheiratet, der geile Bock.“ Endlich war der Krümel draußen, Karla atmete erleichtert auf.
„Das Mädel? Aber die ist doch blutjung! Also wirklich!“ Paulines Augen leuchteten vor Entzücken.
Immer wieder begeisterte sie der Zündstoff, den Karla bei ihren täglichen Zusammenkünften im Café lieferte. Zwar wohnten beide Frauen im selben Mietshaus nebeneinander und begegneten sich beim Polieren der Wohnungstüren täglich, aber dieses süße Ritual erhöhte das Vergnügen erheblich.
Ähnliches Schicksal schmiedete Karla und Pauline zusammen: sie waren beide übrig geblieben, ungeküsst. Und so wienerten sie im Stiegenhaus ihre Eingangsbereiche. Ein wunderbares Alibi für ihre Spionagetätigkeiten. Danach parlierten sie in der Konditorei über Erlauschtes.

„Sieh mal, da kommt die Sprechstundenhilfe.“ Pauline tunkte ihren Busen beinahe in das Sahnehäubchen auf ihrer Torte. Sie beugte sich ganz weit vor, um die junge Frau besser sehen zu können, die gerade die Straße überquerte.
„Ordinär. Kein Wunder, mit so kurzen Röcken laufen die herum, das muss die Männer doch verrückt machen.“
Karla nickte erbittert und die Marionettenfalten um ihren Mund wurden noch tiefer.

Im Gegensatz zu sonst, wo sie recht vergnügt nach diesen Nachmittagen den Fernseher einschaltete, war sie schlecht drauf. Dabei hatte Karla schon die ganze Woche auf die Sendung mit Hansi Hinterseer gewartet.
Vielleicht lag es an dem Sprechstunden-Luder vom Doktor. Als die Kleine vorhin die Straße überquerte, fiel Karla auf, wie sehr sie Marla ähnelte. Wieder kamen Erinnerungen hoch. Wie täglich seit dreißig Jahren.
Sie versuchte es mit einem Aromaölbad. Ihr schlaffer, weißer Bauch ragte wie eine Insel aus dem Wasser. Sanfte Wellen umspielten ihn. Karla schloss die Augen.
Der Geruch von Fichtennadel versetzte sie auf den Dachboden ihres Elternhauses, und sie sah deutlich den Quilt auf den rauen Dielen liegen, Marlas Liebeslager.

‚Ich wusste bald, was da oben passierte.’

Jeden Nachmittag verschwand Marla auf den Dachboden. „Ich brauche Ruhe zum Lernen, Schwesterherz. Unser Häuschen ist einfach zu klein und ich würde dich auch stören beim Studieren, wo ich doch alles laut lesen muss, damit es in meinen Kopf reingeht, gell?“ Und damit flatterte sie leichtfüßig die Treppe hinauf.
Marla log. Karla fiel das Lernen schwer und es waren nur noch zwei Monate bis zum Abitur.
Sie waren Zwillinge, doch seit der Pubertät so verschieden wie Feuer und Wasser. Als kleine Kinder spielten sie die üblichen Rollenspiele. Die Mädchen verkleideten sich als Prinzessinnen oder Heldinnen. Ganz besonders gern tauschten sie ihre Namen, wenn sie zum Kaufmann um Bonbons gingen. Karla liebte es in Marlas Haut zu schlüpfen. Mit Zehn endete das Spiel.
„Ich will jetzt alleine ich sein!“, sagte Marla und lief davon. Karla blieb zurück.
Dann wuchsen ihnen Brüste. Marla glitt von der Kindheit ins Frausein. Sie wurde Mittelpunkt ihres großen Freundeskreises, war überall eingeladen und gern gesehen.

Karla hingegen litt sehr unter Akne. Weil ihr Gesicht und Dekollete mit gelben Pusteln übersät war, wagte sie sich kaum vor die Tür. Ihre Periode war von Krämpfen begleitet. Manchmal hatte sie das Gefühl, dass ihre Arme überlang denen Quasimodos glichen, dann wieder zogen Wachstumsschmerzen in den Beinen.
Die Pubertätserscheinungen raubten Karla den letzten Rest an Frohsinn. Sie wurde gemieden, als wäre sie von einer düsteren Wolke umgeben. Wenn sie auf dem Pausenhof an einer Gruppe Mitschülerinnen vorbeikam, verstummte das Gespräch. Hob sie die Hand im Unterricht, wurde es übersehen.
Gegen ihre Schwester hatte sie keine Chance, weder mit Zigaretten, noch mit den Leckereien, die sie verschenkte.
Marla war das Licht, sie der Schatten.
Und sie fraß Süßigkeiten in sich hinein, wurde fett und ungelenk. Mit siebzehn hatten die Schwestern nichts mehr gemein.

‚Marla hätte mich mitnehmen können zu den Partys, aber nein, es hieß immer, es wären ihre Freunde und ich würde mich ja so unfreundlich geben, so muffig sein. Sie sagte wirklich: muffig!’
Karla drehte ihren schweren Körper zur Seite, ihre Haut quietschte am Email entlang.

Dann fand das Frühlingsfest der Feuerwehr statt und Marla fragte, ob Karla nicht Lust hätte, mitzukommen.

‚Vollkommen aus dem Häuschen war ich.’ Karla dachte an das freudige Herzklopfen von damals. Durch Marlas Aufforderung war sie voller Hoffnung gewesen, dass sie nun doch dazugehörte.

Das Wasser war nur noch lauwarm, trotzdem überzog ein Schweißfilm ihren Körper.

Die Dorfjugend empfing die Zwillinge mit fröhlichem Lachen auf der Festwiese. Marla, die Hübsche, erblühte neben ihrer plumpen Schwester zur Prinzessin. Deswegen war Karla sehr überrascht, als Jan sie zum Tanz holte. Er legte den Arm um ihre dicken Hüften und mühte sich ab, zu Elvis Presleys Return to sender einen flotten Rock’n’roll auf den Bretterboden zu legen. Karla schnaufte, lief rot an und sie brachen den Tanz ab. Jan grinste und Karla setzte sich nach Atem ringend auf die Bank. Dann schnappte er sich Marla. Die beiden wirbelten über die Tanzfläche.
Irgendeiner spendierte Karla ein Bier. Danach drückte ihr ein anderer noch eine Flasche in die Hand. Sie trank immer weiter. Schließlich lallte sie und erbrach sich zum Gaudium der Anwesenden. „Bäh, Karla, was bist du ekelig“, sagten sie und lachten. Betrunken blieb Karla allein auf der Bank zurück. Sie wankte heim, musste immer wieder kotzen. In der Früh kam sie zu Hause an. Sie ertrug die Beschimpfungen ihrer Mutter. Die Worte knallten wie Peitschenhiebe.
„Eine Säuferin habe ich in die Welt gesetzt, schäm dich! Wer weiß, was du die halbe Nacht getrieben hast, betrunken, enthemmt!“
Karla kroch ins Bett. Sie schaute hinüber zu Marla. Diese schlief zusammengekringelt mit einem süßen Lächeln auf den Lippen.

„Ich hasse dich! Immer noch!“, zischte Karla den beschlagenen Fliesen zu. Nach dem Schweißausbruch fröstelte sie. Sie rappelte sich hoch und ließ heißes Wasser nachlaufen.

Und dann begann die Sache mit Jan. Die trieben es miteinander. Auf dem Dachboden. Jeden Nachmittag. Das wäre ja in Ordnung gewesen, wenn wenigstens ein Junge Karla beachtet hätte, und wenn es der hässlichste von allen gewesen wäre. Aber niemand schaute sie an. Das machte sie traurig und wütend. Dazu kam, dass Marla sie nicht einweihte in diese Liebessachen. Zumindest als Vertraute der Schwester hätte Karla dienen können. Wie immer übersah Marla Karlas stummes Flehen.
Jan kam jeden Nachmittag zu Marla. Immer wieder schlich Karla die Treppe rauf und presste das Ohr an die Tür. Sie flüsterten und stöhnten. Karlas Wut wuchs von Tag zu Tag. Schließlich konnte sie es nicht mehr aushalten. Sie stampfte die Stufen nach oben, riss die Tür auf.
Da lagen sie. Nackt, ineinander verschlungen. Braungebrannt, schlank und schön. So schön. Nach einer Schrecksekunde fingen sie zu kichern an. Karla schlug mit der Faust gegen den Türrahmen, dass Holzstaub aus den Dachsparren auf die beiden herabrieselte. Sie knallte die Tür zu, floh die Treppe hinunter. Gelächter verfolgte sie.

Immer lauter wurden die zwei da oben ...’ Karla drehte den Hahn ab und versank bis zum Mund im heißen Wasser.

Einen Tag vor dem Abitur ging der Dachboden in Flammen auf. Das trockene Holz brannte lichterloh, der Dachstuhl fiel schnell in sich zusammen. Die Schreie von Marla und Jan waren längst verstummt, als die Feuerwehr eintraf. Sie waren verkohlte, verschrumpelte Puppen.
Die Untersuchung der Brandursache ergab, dass die beiden unachtsam mit einer Petroleumlampe umgegangen sein mussten, sodass diese wahrscheinlich umgekippt war und den daneben stehenden Kanister entflammt hatte.
Zerschmolzenen Reste von Lampe und Kanister wurden in der Nähe der Dachbodentür gefunden.

Karla fuhr hoch und spuckte das ölige Wasser aus. „Baäh.“ Der Badezusatz roch betörend und schmeckte ekelig. Sie schrubbte sich ab, stieg aus der Wanne. Nach einem Blick zum Fernseher, in dem Hansi Hinterseer mit seinen Gästen den bunten Abend zum Finale gebracht hatte, schaltete sie ab. Mit einer großen Tafel Milchschokolade ging Karla ins Bett.
Morgen würde sie die Messingklinke der Wohnungstür mit Politur behandeln, danach zum praktischen Arzt gehen und sehen, was sich dort im Wartezimmer tat. Später dann in die Konditorei mit Pauline ...

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