Das alte Buch Mamsell
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Oktober 2004
Der mathematische Trommelklang
von Jan Müller

Ich war sprachlos. Nach Worten suchend starrte ich auf den Bildschirm meines Computers, da klopfte es an der Tür. Mein Neffe Matthias kam in seiner Motorradkluft herein. “Hallo, altes Haus! Lebst du noch? Ich hab hier was Feines für dich.”
Ich beäugte das Bündel, das er mir überreichte: eine Art Taucheranzug mit Helm. “Was ist das?”
“Ein Cyberanzug.” Er steckte ein Kabel in meinen Computer, verband es mit dem Anzug und schob eine CD ins Laufwerk. “Damit kannst du dein Nervensystem mit dem Äthernetz verbinden und im Cyberspace leben.”
“Hast du ’s schon probiert?”
Er nickte. “Die Elektrodenstöpsel im Anzug einfach befeuchten und fest auf die Haut drücken. Alles andere läuft von selbst. Ich komm nachher noch mal schauen, ob du ’s überlebt hast. Viel Spaß.” Er grinste und verschwand.
Ich untersuchte den Anzug und fand Elektrodenstöpsel für Kopf, Brustkorb, Fingerspitzen und Fußsohlen. Einen Augenblick überlegte ich, ob die Vernetzung gefährlich sein könnte, dann wurde mir bewusst, dass ich eigentlich schon vor Jahrzehnten begonnen hatte, Teile meines Innenlebens auf die Festplatte meines Computer auszulagern, und zwar mit jedem Satz, den ich eintippte. Sobald der Computer streikte, war es mir immer, als sei ein Teil meiner selbst lahmgelegt, und zwar ausgerechnet der, in dem die kostbarsten und intimsten Daten gespeichert waren: Erinnerungen, Empfindungen, Pläne, Wünsche, Vorstellungen, unwiederbringliche Aufzeichnungen meiner Streifzüge in die entlegensten Winkel menschlicher Fantasie.
Ich zauderte daher nicht lange, zog den Anzug an und klickte auf Start. “Willkommen in Êhta-Mathê, der Welt des Äthers”, las ich auf dem Bildschirm, und ein Männchen im Cyberanzug winkte und begrüßte mich: “Hallo, altes Haus! Bevor ‘s richtig losgeht, müssen wir noch ‘ne kleine Formalität hinter uns bringen. Würdest du das bitte mal lesen und ausfüllen.” Damit breitete er folgendes Schriftstück auf dem Bildschirm aus:

EINVERSTÄNDNISERKLÄRUNG
Ich, (Vor- und Zuname), geboren am (Datum), bin damit einverstanden, dass mein Nervensystem für dieses Spiel mit dem Äthernetz verknüpft wird, damit ich den Cyberspace als Wirklichkeit erlebe. Diese Verbindung wird wieder aufgehoben, sobald ich die acht Silben des Mathematischen Trommelklangs “MATHEMATIKI TAMEHTAM” dreimal wiederholt habe. Ich gehe die Verknüpfung freiwillig und auf eigene Gefahr ein, um ein Abenteuer auf Leben und Tod zu erleben. Sollte ich dabei scheitern, haben meine Hinterbliebenen keinerlei Anrecht auf Schadensersatz oder Schmerzensgeld. Durch Eintragen meiner Daten und Klicken auf “weiter” akzeptiere ich diese Bedingungen.

Klasse, dachte ich, so gefällt mir das! Man bekommt tatsächlich das Gefühl, jetzt wird es ernst. Ich las den Text ein zweites Mal und prägte mir die acht Silben mit Hilfe eine Eselsbrücke ein: mathematíki – mathematischer; Tam-eh-Tam – Tamm-und-Tamm – Trommelklang. Zusätzlich griff ich zum Kuli und schrieb mir die acht Silben in großen Buchstaben auf ein Blatt, das ich neben den Computer legte: MATHEMATIKI TAMEHTAM. Sicher ist sicher, dachte ich. Ich trug meine Daten ein und klickte auf “weiter”.
Sofort griff das Männchen auf dem Bildschirm nach dem Blatt, faltete es zusammen und steckte es in die Tasche. “So, du Hornochse, jetzt kann ’s losgehen. Ich bin Kit und verwalte deinen Werkzeugkoffer. Wie soll ich dich nennen? Drecksack? Saftsack? Knallfrosch? Kröte? In Êhta-Mathê braucht jedes Wesen einen Namen und eine Form. Bitte wähle ein Symbol.”
Er deutete auf zehn verschiedene Formen, die auf dem Bildschirm erschienen: Wanze, Schnecke, Knallfrosch, Kröte, Drecksack, Saftsack, Lachsack, Hornochse, Rhinozeros und schließlich ein altes, halb verwittertes Herrenhaus in einem verwilderten Park. Ich bezweifelte, dass ich mich als Wanze oder Drecksack wohl fühlen könnte, und klickte auf das Bild des alten Hauses, das sofort eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf mich ausübte. Ich begann das windschiefe Dach zu lieben, die schräg hängenden Fensterläden, die herbstlichen Laubbäume, die sich wie zum Schutz ums Haus drängten, und bemerkte staunend, wie sich meine Umgebung zusehends verwandelte: Zwar saß ich weiterhin im Cyberanzug auf dem Stuhl vor meinem Schreibtisch am Computer, aber die übrige Einrichtung, Wände, Bilder und die Aussicht sagten mir, dass ich mich jetzt im alten Haus befand.
Es klopfte an die Tür, ich rief “Herein!”, und das Männchen im Cyberanzug trat ins Zimmer, genauso leibhaftig wie vorhin mein Neffe. “So, altes Haus, das Wichtigste ist geschafft. Von nun an ist das alte Haus dein Ätherleib, in dem du dich bewegen kannst. Jetzt musst du dich nur noch entscheiden, gegen wen du antreten willst. Zur Zeit spuken in hier verschiedene Bösewichte durch den Äther.”
Er trat an meinen Schreibtisch, öffnete eine Hängekartei und zog vier Akten heraus. “Da wäre zum Ersten ein Dornbusch namens Dschordsch Dabbeljuh, zum zweiten ein Lindwurm namens Biegel, drittens ein Giftzwerg namens Farma, viertens ein Mutator namens Gentek Fud ...”
Zu jedem Namen zeigte er mir einen Steckbrief mit Fahndungsfoto, und ich entschied mich spontan für den Lindwurm, einen dunkelgrünen Feuer speienden Drachen, gegen den zu kämpfen mir besonders heldenhaft und abenteuerlich erschien. Kit klopfte mir auf die Schulter. “Bravo, altes Haus, in dir fließt echtes Abenteurerblut. Mit dem Wurm ist allerdings nicht zu spaßen. Ich rate dir dringend, vorher eine Sicherheitskopie deines Gedächtnisspeichers anzulegen. Dauert knapp zwanzig Minuten. Möchtest du diese Kopie jetzt erstellen?”
So ein Schwachkopf, dachte ich. Sollte ich etwa zwanzig Minuten tatenlos herumsitzen und warten, bis mein Computer wieder spielbereit war? “Das nennst du Abenteuer?”, fuhr ich ihn an. “Seit einem halben Jahrhundert lebe ich glücklich und zufrieden ohne Haftpflicht-, Unfall- und Lebensversicherung. Willst du mich jetzt zum Spießbürger trimmen, ausgerechnet du?”
“Schon gut, schon gut.” Kit wehrte stirnrunzelnd ab. “Aber denk dran, altes Haus: Ich habe dich gewarnt. Ich ziehe mich jetzt zurück und überlasse dich deinem selbst gewählten Schicksal. Solltest du irgendwann in Not geraten, kannst du nach mir rufen, sofern du dich an meinen Namen erinnerst: Kit, das Werkzeugkoffer-Männchen. Und vergiss nicht: Nur durch den Trommelklang findest du zurück in deine Welt. Ein letzter Tipp: Oben auf dem Speicher liegt ein Werkzeugkoffer für dich. Im Äthernetz gibt es eine Datenbank für indogermanische Sprachen. Lad sie dir in den Koffer, dann hast du notfalls eine Referenzdatei im Haus. Viel Spaß.” Er zeigte mir das Koffersymbol auf dem Bildschirm, das ich anklicken sollte, grinste mit dem gleichen Ausdruck wie vorhin mein Neffe und verschwand.
Nun saß ich allein vor dem Computer und schaute aus dem Fenster auf den Park. Fern am Himmel bemerkte ich einen winzigen Punkt, der langsam größer wurde. Von Aufregung und Abenteuer keine Spur. Ich klickte auf das Koffersymbol zur Datenübertragung und verfolgte die Namen der heruntergeladenen Sprachfamilien: Babysprache, Altindisch, Iranisch, Griechisch, Slawisch, Romanisch, Keltisch, Germanisch ...
Plötzlich piepste der Computer. Auf dem Bildschirm erschien ein Fenster mit der Meldung: “Virus BEAGLE W32 im Ordner ‚Sprachen‘ gefunden. Starten Sie bitte unverzüglich Ihr AVG-Antivirusprogramm.”
Mist, dachte ich, ausgerechnet jetzt, klickte aber sofort auf AVG. Ein Fenster nach dem anderen öffnete sich, immer mit der gleichen Warnung, bis der gesamte Bildschirm mit übereinander geschobenen Fensterrahmen bedeckt war. Anscheinend ließ sich der Virus nicht so leicht beseitigen. Auch draußen vor dem Fenster tat sich was: Der schwarze Punkt am Himmel entpuppte sich als der von mir bestellte Lindwurm, der jetzt mit seinem Feuer speienden Atem die herbstlichen Bäume in Brand setzte. Ein Sturm erhob sich, riss die angelehnten Fensterflügel auf und wehte das Blatt mit dem achtsilbigen Trommelklang vom Tisch.
Ich sprang hoch und wollte es greifen, aber der Sturm fegte es aus dem Fenster in Richtung der brennenden Bäume.
Jetzt wurde es brenzlig. Ich lief zurück zum Computer, der immer neue Warntöne von sich gab: “Virus BEAGLE W32 im Ord ...” Die Schrift stockte und ich spürte, wie sich neben dem Gefühl der Panik eine völlig ungewohnte Leere und Stille in meinem Gehirn ausbreitete.
“Kit”, rief ich. “Kit!”
Die Tür ging auf und Kit kam rein. “Was kann ich für dich tun, altes Haus? Irgendwas nicht in Ordnung?” Er sah aus dem Fenster auf die brennenden Bäume, dann auf den Bildschirm des Computers und schlug sich mit beiden Händen an den Helm. “Ach du lieber Himmel! Da hilft nur eins. Lauf schleunigst zum Speicher hoch und rette deinen Koffer mit der Sprachreferenz. Du hast sie doch runtergeladen, oder? Dort hinten ist die Wendeltreppe. Wie viele Silben weißt du noch? Sag mir schnell, welche Silben des Trommelklangs du noch im Gedächtnis hast.”
Ich versuchte mich zu erinnern: “...matiki Tam...”
Kit nickte. “Gut, das reicht. Beeil dich! Bevor der Dachstuhl in Flammen aufgeht und deine Daten gelöscht werden, musst du den Speicherschlüssel finden und deinen Koffer retten.”
“Wo finde ich den Schlüssel?”
“In den Silben des Trommelklangs. Sobald du das Passwort aussprichst, öffnet sich die Speichertür.”
“Und wie heißt das Wort?”
“Das kann ich dir nicht sagen. Mach schnell!”
Ich stürzte in die Richtung, die Kit mir gewiesen hatte, fand die Wendeltreppe und eilte die Stufen empor, die kein Ende nehmen wollten. Eine Umdrehung nach der anderen, so hoch konnte das Haus doch gar nicht sein! Über mir hörte ich Gepolter, als rollten Steine und brächen Dielen. Endlich stand ich auf dem obersten Podest vor einer wuchtigen Tür. Der Krach verriet mir, dass dahinter etwas wütete: der Sturm, das Feuer, der Lindwurm? Alle drei waren keine besondere Ermutigung für mich, die Tür zu öffnen. Dennoch musste ich versuchen, den Koffer zu retten. Ich spürte bereits, wie mir der Trommelklang Buchstabe für Buchstabe entglitt. Was war mir geblieben? “...atiki...” Wie fand ich das Passwort? Plötzlich ein Geistesblitz: “attic key” – der “Speicherschlüssel” auf Englisch! Das musste es sein! Ich rief “atik-ki” und die Tür sprang auf.
Vorsichtig lugte ich durch den Spalt, sah aber weder Lindwurm noch Feuer. Nur der Sturm heulte durch die zerbrochenen Dachluken. Ich betrat den Boden und suchte nach dem Koffer. Hinter dem Kaminschacht leckten bereits rot-gelbe Zungen nach mir. Der Dachstuhl stand in Flammen, Balken krachten, beißender Rauch legte sich auf meine Lungen. Wo war der Koffer? Wo war K...? Wie hieß noch mein Helfer? Was suchte ich eigentlich? Warum war ich hier? Wer war ich überhaupt?
“Tickticktickticktick ...”
Aus einer Ecke ertönte ein Ticken, das Feuer flackerte auf, neben einem staubbedeckten Spinnrad sah ich den Werkzeugkoffer liegen. Richtig, den suchte ich! Ich kletterte über Kisten, Truhen und Kommoden, ergriff den Koffer und eilte zurück zur Treppe.
“Ticktick ... ticktick ... tick ...”
Hitze und dicker Qualm schlugen mir jetzt auch vom Treppenhaus entgegen, das Podest hing schräg in der Luft. Ich suchte nach Halt, nach dem Namen meines Helfers. “Ticktick ... tick ... ick ... ick ...”
Plötzlich ein tosendes Prasseln auf dem Dach: ein Wolkenbruch. Das war die Rettung! Die Schleusen des Himmels als Feuerlöscher! Lieber Gott, wünschte ich mir, lass eine Sintflut regnen.
“Ick ... ick ... kkk ...”
In diesem Augenblick brachen die Balken unter dem Podest, ich schwankte, der Werkzeugkoffer sprang auf, ein dreigezacktes Werkzeug fiel heraus, ich versuchte, es zu fangen, verlor das Gleichgewicht und fiel ...
Ж
Als ich die Augen öffnete, lag ich am Boden einer anderen Welt. Alles um mich her war dunkelgrün. Die Luft war kühl und fühlte sich flüssig an. Ich schaute mich um und erblickte einen Schatten neben mir, der aussah wie ein Anker. War das nicht das dreigezackte Werkzeug aus dem Koffer?
Es ruckelte hin und her, als hinge es an einer Ankerkette. Wieder spürte ich die Leere im Gehirn. Völlige Sprachlosigkeit. Hatte der Schreck mir die Sprache verschlagen? Musste ich mit Kaltstart neu beginnen?
Irgendwie kam mir der Anker vertraut vor. Plötzlich glaubte ich, ein “K” darin zu sehen. Oder besser ein Spiegel-K, ein “K” in beide Richtungen. Und in der Mitte ein Strich, ein großes “I”. “KI?” dachte ich und glaubte, das französische “qui” zu hören.
“Qui Ik? Wer – Ich?”
Das waren die ersten Worte, die ich wiederfand. Neben dem Anker wuchsen zwei Stangen aus dem Boden.
l Ж l
“IK KI”, las ich. War das wieder eine Frage: “Ik qui?” Oder eine Feststellung: “Ik – key.” War es ein Kauderwelsch aus Englisch, Niederländisch und Französisch: “Ik, qui Ik-key.” Purzelten in meinem Hirn schon alle Sprachen durcheinander? Wie war das Wort für Werkzeugkoffer? “Tick it: Ti kit.”
T l Ж l T
Zu meiner großen Erleichterung bemerkte ich, wie neue Zeichen aus dem Boden wuchsen, sobald ich neue Wörter fand. Kit! So hieß doch mein Helfer, das Koffermännchen!
“Kit!” rief ich.
Nichts rührte sich.
“Kit!”
Von oben kam ein Schatten näher, ein Mann im Taucheranzug, der mit schwimmenden Bewegungen zu mir herunter tauchte. Was war geschehen? Lag ich wirklich unter Wasser?
Es war Kit. Ich sah sein Gesicht durch den Taucherhelm und hörte seine Stimme: “Tick it!”, rief er. “Ti cit!”
Ich schaute ihn fragend an, er deutete auf das Wasser: “Cit – Bewusstsein.” Dann zeigte er neben den Buchstaben auf den Meeresgrund. “Tick it!”, rief er. “Ti Ick-Kit!”
“Ick-Kit”, plapperte ich nach wie ein Baby, das die ersten Wörter lernt. Da tauchte vor meinen Augen aus dem Meeresgrund der Werkzeugkoffer auf. Meine Worte schienen die Form zu erzeugen. Stück für Stück fand ich neue Wörter und die dazugehörigen Bilder.
“Tick it!” rief Kit. “Attic-Città!” Neue Zeichen erstanden aus dem Boden, dahinter Türme, Kuppelbauten, Tore, eine dunkelgrüne Unterwasserstadt.
A T I Ж I T A
Kit nahm mich an die Hand und führte mich durchs Wasser zu dem Ortsschild: “Attic-Città – die Speicherstadt”. Was war geschehen? fragte ich mich. Wo war das alte Haus, der Lindwurm, wieso war ich auf dem Meeresgrund? Aber ich fand keine Worte, um Kit fragen zu können.
“Mati”, sagte er und deutete auf seine Stirn, “der Intellekt, der Unterscheider zwischen ma und ti.”
“Mati”, plapperte ich nach, “ma – ti.” Vor meinen Augen sah ich neue Zeichen.
M A T I Ж I T A M
Kit führte mich in eine Schenke, wo mir ein von Pflanzen umwucherter Wassergeist einen Humpen reichte: “Meht!” sagte Kit und bedeutete mir zu trinken. Ein seltsames Gefühl, unter Wasser Met zu trinken, aber die Wirkung ließ mich alles andere vergessen: mir dämmerte ein Trommelrhythmus, eine Melodie, ein Metrum, und die Buchstabenschlange vor meinen Augen wurde immer länger:
T H E M A T I Ж I T A M E H T
“Themmat ti, qui tameht?”, fragte mich Kit. Das waren schon sechs Silben. – “Dämmert dir, wer sich verdichtet?” Silbe für Silbe dämmerte mir der Trommelklang, und meine Muttersprache kehrte langsam in mein Gedächtnis zurück. “Wieso sind wir am Meeresgrund?”
“Das Antivirusprogramm wollte das Feuer durch einen Wolkenbruch löschen”, erklärte Kit, “aber irgendwas ist schief gelaufen. Plötzlich brach eine Sintflut vom Himmel und überflutete das ganze Tal. Die Stadt stand in der Nähe deines alten Hauses, das der Brand zerstört hat. Jetzt brauchst du einen neuen Körper. Deswegen gab dir unser Wirt den Met zu trinken, der sich im Äther zu einem Metrum und zu einem neuen Ätherleib verdichten kann. Welchen Körper möchtest du annehmen? Wanze, Schnecke, Knallfrosch, Kröte ...?”
Ich schaute ihn entgeistert an.
“... Drecksack, Saftsack, Lachsack, Hornochse, Rhinozeros?”
Ich verstand: Nur die Formen, die ich anfangs auf dem Bildschirm gesehen hatte, standen mir in Êhta-Mathê zur Verfügung. War ich nicht eigentlich ein Mensch? Konnte ich nicht einfach in die Erdenwelt zurückzukehren und in meine eigne Haut schlüpfen? War ich etwa tot, weil mein Haus abgebrannt war? Auf jeden Fall brauchte ich zur Rückkehr in die Menschenwelt alle acht Silben des Trommelklangs. Wie war meine Eselsbrücke? Trommelklang – Tamm-und-Tamm – Tam-eh-Tam ... Ja, das war ‘s. Und mathematisch? Plötzlich durchfuhr es mich wie ein Blitz: der mathematische Trommelklang schloss sich zu einem Kreis, zu einer unendlichen Schleife mit dem Anker ganz rechts, dem Spiegel-K, das mir auf dem Meeresgrund als einzige Referenz geblieben war. Und obwohl die Buchstabenschlange nur aus einem Wort ohne Anfang und Ende bestand, erschien es mir, als enthalte sie ganz viele Wörter.

H Э M A
T T
A I

M Ж

A I
T T
H Є M A

Ich wiederholte die acht Silben immer wieder: MATHEMATIЖITAMEHTAM MATHEMATIЖITAMEHTAM ...
“Mach dich heim zum Ich!” rief Kit mir zu: “Ma the hêm at Ik!”

Als ich mich umsah, saß ich wieder in meinem Zimmer am Computer, und durch meinen Kopf schwirrten seltsame Sätze: “Ta mathematíki Támehtam âthemat îki. Der mathematische Trommelklang atmet in mir. Mâ themmat Ik. Mir dämmert das Ich. Mathemà ti Ik! Erkenne dein Ich! Tick it: ti Ik!”
Auf dem Bildschirm hatten sich viele Fenster übereinander gestaffelt mit der Meldung: “Virus BEAGLE W32 im Ordner Sprachen gefunden. Um den Virus zu beseitigen, starten Sie bitte umgehend Ihr Antivirusprogramm.”
Hatte ich jetzt einen Dachschaden? “Tick-tick-tick ...”, hämmerte es in meinem Kopf, und ich hörte: “... hemmat tick-tick-tick. Ma the hêm at ick-ick-ick. Ki Ick? Kkk ... Ж ...

Ich war sprachlos. Nach Worten suchend starrte ich auf den Bildschirm meines Computers, da klopfte es an der Tür. Mein Neffe Matthias kam in seiner Motorradkluft herein. “Hallo, altes Haus! Lebst du noch? Ich hab hier was Feines für dich.”

Glossar

at – lat.-engl. zum
âthemat – atmet
attic – engl. Speicher
attic-key – engl. Speicherschlüssel
Attic-Città – engl-ital. Speicherstadt
cit [tschit] – sanskr. Bewusstsein
città [tschi'ta] – ital. Stadt
êhta – Äther
Êhta-Mathê – mat. Äther-Materie, die Ätherwelt
hêm – heim
hemmat – hämmert
ick – ndl.-mat. das Ego, das kleine, selbstsüchtige Ich
Îk – ndl.-mat. ich, das Ich, das große Selbst
îki – im Ich, im Selbst, in mir (lokativ)
Ik-key – ndl.-engl. Schlüssel zum Ich
Ik-kit – ndl.-engl. der Werkzeugkoffer des Ich
it – engl. es
Kit – engl. Name des Werkzeugkoffermännchen
kit – engl. Werkzeugkoffer
ma! – babysp. mach!
ma – frz. mein
mâ – mir
mathê – Materie
máthema – gr. Erkenntnis, Wissen, Erfahrung, Unterricht
mathemá! – erkenne!
mathematíki – gr. mathematischer
máti – skr. das Gedachte, der Intellekt
meht – Met
mehta – Meter, Metrum
qui – franz. wer; derjenige, welcher
ta – mat. der, die, das
tameht – skr.-mat. verdichtet sich, verfestigt sich
támehtam – lautmal. Trommelklang, Tammtamm
the – frz. te dich
themmat – dämmert
ti – dein, dir
tick – Tick, Spleen, Einbildung, Vorstellung
tick! – ticke, hake ab, begreife, stell dir vor!

© janmueller.tm@web.de

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
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