Ganz schön bissig ...
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November 2004
Ich fahr` Taxi
von Silvia Both

Gesa Wohlrath sah noch einmal hin. Er war es! Sie war sich ganz sicher. Sie musterte den weißhaarigen Herrn im teuren beigen Kamelhaarmantel im Rückspiegel, gab vor den Verkehr hinter sich zu beobachten. Er trug jetzt eine Brille. Die Falten um den Mund hatten sich vertieft, aber das Älterwerden stand ihm. Ihr Puls beschleunigte sich. „Zum Bahnhof“, hatte er zu ihr gesagt. Die vertraute Stimme mit der norddeutschen Einfärbung. Ihre Freundin Carolin würde staunen. Während sie sich automatisch in die Linksabbiegerspur vor der Kreuzung Roncalliplatz einfädelte, war sie einen Moment lang wieder vierzehnjährig. Sie lag auf dem hellen Flocati in ihrem Zimmer und starrte in den tragbaren Schwarzweißfernseher. Sie sah nur IHN, den Helden hoch zu Ross. Ihre Umwelt versank und sie ertrank vor Glück in seinen markanten Gesichtszügen. Er ritt auf sie zu und fragte: „Könnten Sie bitte hier halten?“
Gesa schrak aus ihrem Tagtraum auf. „Entschuldigung, was haben Sie gesagt?“ stammelte sie verlegen. „Sie haben wohl auch schon einen langen Tag hinter sich“, lächelte er ihr im Rückspiegel zu. „Könnten Sie bitte kurz an dieser Ecke halten? Ich muss noch Geld abheben.“ „Aber natürlich.“ Gesa entdeckte eine Parklücke direkt vor der Bank. „Bis gleich.“ Der Schauspieler verschwand im Gebäude. Einen kurzen Moment fragte sie sich, ob er sie vielleicht gerade um die Fahrkosten prellte. Quatsch.
Gesa liebte Krimiserien. Sie stellte sich vor, er würde die Bank ausrauben, herausgeschossen kommen und in ihr Taxi springen. Mit den Millionen flohen sie quer durch Europa und nahmen in Rom schließlich einen Flieger nach Südamerika. Die Tür zur Bank öffnete sich. Ob sie ihn wohl nachher um ein Autogramm bitten konnte? Oder fühlte er sich von Autogrammjägern genervt? Da war er ja.
Der Schauspieler wurde von einem anderen Mann begleitet, der ihn vor sich herschob, fast stieß. Etwas stimmte nicht. Gesa hatte keine Chance zu reagieren. Der Andere riss die Beifahrertür auf, schmiss sich auf den Sitz, hielt ihr eine Pistole unter die Nase. „Keine Dummheiten. Ich will nur weg. Solange seid ihr meine Geiseln.“ Das war kein Traum. Sie starrte erschrocken in ein aufgedunsenes Gesicht. Graue Bartstoppeln. Strähnige Haare. Der Mann wirkte zu allem entschlossen. Ihr Schauspieler sank auf den Rücksitz. „Es tut mir leid. Ich bin mitten in einen Bankraub reingeplatzt.“ Er sah sehr blass aus.
Der Bankräuber zielte mit der Pistole auf sie. Mit der anderen Hand presste er eine Plastiktüte an sich, die bis oben hin mit Banknoten vollgestopft war. Es hatte wohl keinen Zweck ihn aufzufordern sich anzuschnallen. Er presste Anweisungen hervor. „Jetzt pass mal gut auf. Du fährst uns hier weg. Ganz unauffällig. Ein Taxi wie jedes andere.“ Gesa handelte wie betäubt. Sie startete, beobachtete den Verkehr, schaute über die linke Schulter, als wäre sie in der Fahrschule. Da, eine Lücke. Sie fuhr los. Wartete auf weitere Befehle. Der Gangster stierte abwechselnd auf sie und auf die Fahrbahn, ließ sie geradeaus fahren. Er verströmte einen durchdringenden Geruch nach Fusel und ungewaschener Wäsche. Langsam setzte ihr Denken wieder ein. Sie schielte auf ihr Sprechgerät. Aber der Mann neben ihr hatte die leichte Bewegung bemerkt, riss das Kabel aus der Armatur. „Keinen Scheiß. Einfach nur fahren.“ Sie schaute in den Rückspiegel. „Tun Sie, was er Ihnen sagt. Das ist am sichersten für uns beide.“ Die Stimme des Schauspielers zitterte leicht. Er verkroch sich in seiner Ecke.
Der Andere zischte: „Zur Autobahn. Richtung Norden. Los, mach schon.“ Arschloch, dachte sie. Die Straßen waren noch nicht ganz vom Berufsverkehr verstopft. Der Bankräuber hatte sich eine günstige Zeit ausgesucht. Und ein unauffälliges Fluchtauto. „Schneller“, kam es von rechts. „Aufblenden.“ Gesa wechselte auf die Überholspur. Die Wagen vor ihr scherten hektisch ein. Nach einem Blick in den Rückspiegel fragte sie nach hinten: „Geht es Ihnen gut?“ Sie sah, wie der Schauspieler eine Hand aufs Herz presste, viel zu schnell atmete. Auch nicht mehr der Jüngste. Er lächelte mühsam. „Nicht besonders. Ich soll mich nicht aufregen, hat mein Arzt gesagt.“ „Ruhe dahinten“, brüllte der Gangster, „du redest nur, wenn du gefragt wirst.“ Gesa hasste ihn ausgiebig. Es kam ihr vor, als wäre sie schon Stunden unterwegs, dabei fuhr sie erst seit zwanzig Minuten. Wie lange noch?
Wie zur Antwort kam es prompt: „Nächste Ausfahrt raus.“
Hier? Aufs Land?
Der Bankräuber dirigierte sie weiter. „Rechts. Auf der Landstraße geradeaus.“
Nach etwa zehn Kilometern ein Feldweg. „Hier rein.“
Der Mercedes holperte durch Schlaglöcher. Abgeerntete Felder. In der Ferne ein Wald. Kein Haus weit und breit. Sie fuhren auf den Wald zu. Hinein. Der Weg bestand nur aus zwei tiefen Fahrrinnen. Fürchterliches Geschaukel. „Rechts!“ Düstere Tannen. Ein Wochenendhaus mit einer Scheune. Der Bankräuber zeigte auf die Scheune: „Da drin parkst du.“ Er sprang aus dem Auto, klemmte die Geldtüte unter den Arm. Während er weiter auf sie zielte, schob er mit der anderen Hand einen Holzriegel zurück und öffnete das Scheunentor. Gesa fuhr hinein. „Aussteigen!“ befahl ihr Quäler. Aus einem Regal nahm er eine Axt, hackte Löcher in alle vier Reifen. Das Auto sackte tiefer. Platt. „Was passiert jetzt mit uns?“ fragte sie mit einer Mischung aus Angst und Wut. „Da rein“, zeigte der Verbrecher auf das Holzhaus. Er trat die Tür ein. Der Schauspieler schwankte. Gesa hakte ihn unter und stützte ihn.
Sie traten ein. Es gab nur einen großen Raum. Das Mobiliar war ebenso einfach wie praktisch. Ein Tisch, mehrere Stühle und eine Bank, ein Schrank, ein Bett. Die beiden Geiseln mussten sich auf zwei Stühle setzen, mit den Rücken zueinander. Der Bankräuber schlang ein langes, muffig riechendes Hanfseil um sie, das er mehrmals verknotete. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren verschwand er, schlug die Tür hinter sich zu. Wenig später hörten sie die Geräusche eines Motorrads, das sich schnell entfernte. Sie waren allein. Saßen im Halbdunkel, weil die Fensterläden verschlossen waren.
„Leben Sie noch?“ fragte Gesa über die Schulter.
„Halb und halb“, versuchte der Schauspieler zu scherzen.
Zeit sich vorzustellen.
„Ich heiße Gesa Wohlrath.“
„Und ich Ralf Müller.“
„Ich weiß. Sie sind der Schauspieler.“
„Oh.“
„Ich habe Sie gleich erkannt. Wenn wir hier heil herauskommen, hätte ich gerne ein Autogramm von Ihnen.“
„Aber mit dem allergrößten Vergnügen, gnädigstes Fräulein Gesa“, deklamierte er mit Bühnenstimme.
Gesa musste lachen. Prima, er machte Witze. Bekam doch keinen Herzinfarkt, wie sie schon befürchtet hatte.
„Wie kommen wir hier weg?“
„Gute Frage.“
Eine Weile probierten sie gemeinsam das Seil zu lockern. Aussichtslos, es war zu straff, die Knoten saßen fest.
„Wenn wir uns beide gleichzeitig seitwärts mit den Füßen zum Fenster schieben?“, schlug Gesa vor.
„Um das Fenster einzuschlagen?“
„Ja, aber womit?“
Suchend schaute sie umher. Der Besitzer musste ein ordentlicher Mensch sein. Es lag nichts herum. Schade.
„Mit der Stuhllehne“, schlug Ralf vor.
„Es käme auf einen Versuch an.“
Sie schoben und drückten sich zum Fenster, eine mühsame Sache. Um an die Scheibe heranzukommen, mussten sie gleichzeitig aufstehen und den Stuhl zur Seite kippen. Fast kippten sie um Aber sie hatten Erfolg! Klirrend gab die Scheibe nach. Die Scherben fielen nach innen.
Ein großes Glasstück lehnte unterhalb von Gesas linker Hand am Stuhl. Sie bekam es zu fassen, fingerte es weiter hoch, schob es mühsam über das dünne Seil. Hin und her. Hin und her. Als sie einen Krampf bekam löste Ralf sie ab. Bis das Seil endlich riss. Sie waren frei. Gesa rieb sich die schmerzenden Arme. „Wenn wir jetzt ein fahrbares Auto hätten. Oder ein Handy.“
„Hier.“ Ralf zog eins aus der Tasche.
Er gab 110 ein.
Kurz darauf war die Polizei da. Und die Presse. Gleißende Scheinwerfer erhellten das Wochenendhäuschen. Überall Menschen. Neugierige Fragen, Anweisungen, Auträge. Gesas Anspannung ließ plötzlich nach. Routiniert gab Ralf Interviews. Sie brauchte nur zustimmend zu nicken. Mehrmals mussten sie dem Kommissar den Bankräuber beschreiben. Fingerabdrücke wurden gesichert. „Den haben wir bald“, versicherte der Kommissar. „Und mein Taxi?“ fragte Gesa. „Ein paar Tage brauchen wir es noch zur Spurensicherung.“ Gesa nickte genervt. Das Angebot, sie zu einem Arzt zu bringen, lehnte sie ab. Sie wollte nur noch nach Hause. Beim Abschied von Ralf kamen ihr gegen ihren Willen die Tränen. „Was war das bloß für ein Tag.“ Ralf umarmte sie. Sein Mantel umhüllte sie warm und tröstlich.
„Früher habe ich für Sie geschwärmt“, gestand sie.
„Heute schwärme ich für Sie, Gesa, Sie waren toll“, murmelte er. Drückte ihr seine Karte in die Hand.
Auf rosaroten Luftkissen schwebte sie zu dem Polizeiwagen, der sie nach Hause brachte. In ihrer Wohnung legte sie ihre Lieblings-CD auf, die guten alten Dire Straits. Sie schnappte sich das Telefon und sank auf ihr hellblaues Sofa. Bevor sie die Nummer ihrer Freundin Carolin wählen konnte, sprang ihr Kater Mäxchen auf ihren Schoß, wollte gestreichelt werden. „Schau mal, was ich hier habe.“ Mäxchens zielte mit der Pfote nach der Visitenkarte. Da entdeckte sie erst den Satz auf der Rückseite.
„Wenn Sie mal nach H. kommen, spendiere ich Ihnen eine Taxifahrt. Ihr Ralf“
„Wow, er hat mich eingeladen. Er, das Idol meiner Jugend. Träume gehen manchmal doch in Erfüllung.“
Sie lachte.



© Silvia Both

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
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