Madrigal für einen Mörder
Madrigal für einen Mörder
Ein Krimi muss nicht immer mit Erscheinen des Kommissars am Tatort beginnen. Dass es auch anders geht beweisen die Autoren mit ihren Kurzkrimis in diesem Buch.
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November 2004
FENSTERS(I)MS
von Albertine Sprandel

„Ich liebe Dich“ stand in fetter Schrift auf dem Papier am Fenster gegenüber.
Gesa sah ein zweites Mal hin. Tatsächlich, ihre Augen täuschten sich nicht.
‚In was für eine Geschichte bin ich da rein geraten?’
Es hatte so nett angefangen. Wie ein Spiel. Der Mann von gegenüber schien Humor zu haben. Und er sah herrlich normal aus. Jeans, T-Shirt, kurze, leicht angegraute Haare. Eigentlich zu gutaussehend, um allein stehend zu sein.
Kurz nach ihrem Einzug begann es mit unverbindlichem Zunicken. Dann öfters ein flüchtiges Winken, wie um „Guten Morgen“ zu sagen.
Sie zeigten sich ihre Tagesstimmungen per Daumen an. Neulich führte er ihr den Braten vor, den er in den Ofen schieben wollte. Er zog die Vorhänge zu, wie immer wenn Besuch kam. Es folgten etliche Tage ohne Nachrichten, denn sie hatte sieben Nachtschichten hintereinander, tagsüber schlief sie. Gesa vermisste den schalkhaften Humor ihrer Zeichen.
Heute Abend hatte sie frei. Sie stellte den Fernseher in die Küche, kochte Nudeln mit Meeresfrüchten und öffnete eine Flasche Wein. Erst der Vorabendkrimi, dann mit Carolin ausgehen.
Gesa nahm ein Glas Wein und ging zum Fenster.
Und jetzt das. An Küchenfenster gegenüber hing dieser Zettel mit geschwungenen Buchstaben: „Ich liebe Dich“.
Schnell ließ sie sich zu Boden gleiten. Maxwell kam angetrottet und rollte sich auf ihrem Schoß ein. Sie grub ihre Nase in das Fell des Katers, und dachte nach.

‚Was soll das? Will der mich verarschen, ist er ein Spinner oder ist er pervers? Gesa und die verkrachten Existenzen. Teil 5. Georg, Ludwig. Wolfgang, alles Egozentriker, Egomanen, Narzissten. Ach und Achim. Mein egoistischer Missionar. Warum hast du dich nur so saudeppert benommen? Ich musste doch ausziehen.’

Behutsam schob Gesa Maxwell von den Beinen und zog sich am Fensterbrett hoch.
Der Zettel war weg. Dafür war am Fenster daneben ein neuer Zettel:
„Dein Körper fließt.“
‚NEIN! Also doch ein Voyeur, ein Perverser.’
Gebückt hastete sie aus der Küche und verriegelte die Haustür. Ihre zwei Zimmer und die Küche lagen zur Straße, kein Fenster hatte Vorhänge, geschweige denn Gardinenstangen. Es war nicht so, dass die Vorhänge aus Überzeugung fehlten. Gesa war bis jetzt nur nicht dazu gekommen. Besser gesagt, sie hatte sich nicht aufgerafft.
Sie holte ihr Telefon, setzte sich im Bad auf den Klodeckel und starrte auf den Hörer.

‚Was mache ich da eigentlich? Schafft es tatsächlich wieder so ein Schwein, mich zu beherrschen? Ich dachte, hier wäre ich frei! Neue Wohnung, ehrlicher Job. Unabhängig von Männern.’

Maxwell umschmeichelte ihr Bein, ein Schauer lief ihr über den Rücken.
Sie tippte die Kurzwahltaste für Carolin. So richtig eng waren sie nicht befreundet. Aber Carolin hatte ihr innerhalb eines Tages diese Wohnung verschafft. Carolin war die einzige aus der Zeit mit Achim, die sie noch traf. Für Gesa ein Anker, um nicht in ihr Leben vor Achim abzudriften.
“Carolin Finster.“
„Carolin, wir können uns heute nicht treffen. Ich kann mich nicht rühren.“
„Was ist los, Gesa, hast du dir das Kreuz verrissen? Du sitzt zuviel im Auto, du musst endlich Sport treiben! Weißt du, ich bin jetzt in diesem Fitnessstudio und trainiere meine Rückenmuskulatur. Da gibt es ein Programm speziell für Vierzigjährige. Weil wir in unserem Alter einfach mehr für den Körper tun müssen ...“
„Carolin, ...“
„Ja, ja ich weiß, du bist neununddreißig. In einer Woche gehörst du auch dazu, meine Liebe. Schau den Tatsachen ins Gesicht. Lass die Badewanne vollaufen, oder mach dir eine Wärmflasche und leg dich ins Bett. Ich frage Susi, ob sie mit mir ausgeht, ist zwar nicht dasselbe, aber besser als nichts. Morgen hole ich dich zum Training ab.“
„Schönen Abend.“
‚Typisch. Eine richtige Freundin hätte meinen Unterton gehört und nachgefragt,’ maulte Gesa.

Sie stahl sich auf den Gang, um alle Lichter zu löschen, holte ihren Bademantel mit Tigermuster und ließ sich ein Bad ein. Aus dem alten Kassettenrecorder tönten die Elements of Crime.
‚Nein. Nein. Nein. In einer Woche werde ich vierzig. Und ich verkrieche mich wegen zwei Zetteln im Dunkeln!’
Gesa schoss aus der Badewanne und rubbelte sich ab. Sie suchte ihre schwarze Karatehose aus dem Schrank, einen schwarzen enganliegenden Pulli, dunkle Turnschuhe und die Jeansjacke. Sie schaltete überall das Licht ein. Die Haustürschlüssel, die Karte vom Videoverleih, das Pfefferspray, alles in die Jackentasche gestopft und Gesa glitt aus der Wohnung.
Auf der Straße überkam es sie das erste Mal: Glück.
‘The cat back on the road,’ schoss es ihr durch den Kopf.
Gegenüber flackerte eine Kerze hinter dem Fenster, von dem sie wusste, dass es zum Schlafzimmer des Perversen gehörte. Die Vorhänge waren zugezogen. Hatte er Besuch?
Gesa kramte ihr Handy heraus und tippte Achims Nummer. An seine Taxifahrerehre konnte sie appellieren, auch wenn er sich noch so tief verletzt fühlte.
‚Das muss man sich vorstellen. Ich erwische ihn mit einer anderen im Bett. Und er trieft vor Selbstmitleid, weil ich sofort ausgezogen bin.’

„Achim, hallo, ich bin es, Gesa.“ Ehe er etwas erwidern konnte, fuhr sie fort:
„Hör mal, ich habe so einen eigenartigen Kunden, den ich abholen soll. Hab kein gutes Gefühl dabei. Würdest du bitte in einer Viertelstunde Alarm schlagen, wenn du nichts mehr von mir hörst? Die Adresse lautet Schillerstraße 15, Charlottenburg. Danke!“

Gesa, the cat, zählte die Stockwerke am Klingelbrett ab. Dann drückte sie den obersten Knopf. Als es in der Gegensprechanlage klickte, rief sie:
“Tschuldigung, ich habe den falschen Knopf erwischt!“
Der Türöffner surrte, sie trat ein und wartete bis sich oben die Tür geschlossen hatte.
Dritter Stock links. Da musste der Eingang sein. Altbau, eine dunkelbraune Kassettentür mit Briefkastenschlitz. Das machte es einfach. Gesa schob die Karte vom Videoverleih zwischen Tür und Rahmen. Der Schlitz war breit genug. Sie tastete die Kante ab, bis die Tür – klick – aufsprang. Der längliche Flur war lediglich durch eine Glühbirne beleuchtet. Links ein Kipp-Schuhregal aus Aluminium. Zwischen zwei Türen ein Biedermeiertischchen. In dieser kalten Atmosphäre wirkte es wie hingestellt und nicht abgeholt. An der Garderobe hingen zwei Männerjacken und ein Frauenmantel.

Wie lange war es her, dass sie das letzte Mal in eine fremde Wohnung eingedrungen war!
Ein wohliges Gefühl durchströmte sie. Es war wie nach Hause kommen.
Innerhalb von fünf Minuten die Wertgegenstände ausmachen, das Fach mit den Barreserven finden und ab. Kreditkarten, Geld, Autoschlüssel, meist war das Wichtigste im Flur zu finden. Einbrechen, wenn die Bewohner beim Zigarettenholen waren, das war Gesas Stärke gewesen. Wolfgang, Ludwig und auch Georg hatten gut von ihr gelebt.
Vor drei Jahren, auf der Heimfahrt von einem Bruch, sprach Achim sie in einem Taxi an. Irgendwie roch er die Diebin an ihr.
“Du hast zwei Möglichkeiten: entweder ich verpfeif dich, oder du kommst mit zum Zentrum. Entscheide dich.“
Neben einem Taxiunternehmen leitete Achim das Projekt ‚legalize your live’. Er hatte eine bewährte Methode, Kleinkriminelle auf die richtige Bahn zu bringen. Dass es eine Tour war, wurde Gesa erst später klar. Als sie Achim kennen lernte, war sie müde. Im Gegensatz zu früher fürchtete sie sich davor, erwischt zu werden. Sie saugte Achims Komplimente, sein Zuhören und seine Streicheleinheiten wie ein Schulmädchen auf. Sie begann das Leben ohne den Kick zu mögen. Da verlor Achim das Interesse an ihr. Er fischte andere Verbrecherinnen aus der Nacht. Nach zwei Jahren überraschte Gesa ihn mit einer jungen Taschendiebin im Bett. Sie packte ihre Sachen und zog zu Carolin. Ihre Freundin war eine der wenigen Klientinnen von Achim, die nicht Taxifahrerin geworden war.
Carolin jobte zeitweise als Kellnerin, sonst bezeichnete sie sich als Performancekünstlerin. Angeblich arbeitete sie mit einem namhaften Typen an einem gigantischen Werk. Gesa lernte weder den Künstler kennen, noch erfuhr sie einzelne Details. Aber das war ihr egal.

Gesa schreckte auf. Es war zu still hier.
‚Konzentrier dich. Alles soll schön an seinem Platz bleiben. Du willst diesen Perversling nur erschrecken. Der soll nicht glauben, dass er mit dir spielen kann.’

Sie schlich zur letzten Tür, dem Schlafzimmer. Die Ex-Professionelle kramte ihr Pfefferspray heraus, legte ein Taschentuch darüber und öffnete mit einem Ruck die Tür:
Ein hellblau bezogenes Bett prangte in der Mitte des Raumes. Am Fenster ein Stativ mit einer Videokamera. Davor ein gelber Plüschsessel mit lila Blümchen.
‚Noch schlimmer als ich dachte. Er hat mich gefilmt.’

Neben dem Sessel ein kleiner runder Tisch mit einer Kerze. Das war die einzige Beleuchtung.
Gesa hörte die Klospülung. Hastig schloss sie die Tür und setzte sich in den Sessel.
Ehe die Schlafzimmertür aufging, löschte sie die Kerze.

Im Türrahmen stand nicht der nette Nachbar, dem sie zugewinkt hatte, sondern eine Frau. Im Gegenlicht war nur ein Schatten auszumachen. Die schlenkernden Bewegungen kamen Gesa bekannt vor. Wie ein Teenager, der gerade einen Wachstumsschub hinter sich hat. Gesa mochte gerade das an Carolin. Ihr Pfefferspray auf die Tür gerichtet, fragte sie:
“Du? Was ist los hier?“
„Schau“, sagte Carolin völlig ruhig „ich zeig es dir.“
Den Fernseher in der Zimmerecke bemerkte Gesa erst jetzt. Carolin ging zum Bett und griff nach der Fernbedienung. Ein Videoclip zeigte abwechselnd Bilder von Gesa beim Putzen und am Fenster mit gesenktem Daumen. Montagen mit ihr im blauen Bett und dem Nachbarn auf dem Sessel. Keine Pornos. Phantasien in gelb, grün und himmelblau. Nach Gesas Geschmack ziemlich scheußlich.
„Das ist ein Kunstprojekt. Wir nennen es ‚FensterS(I)MS’. Es fehlt nur noch der Sprung vom Sims. Aber den wirst du auch noch für uns tun.“ Carolins Stimme klang gedopt.
„Die Kleinkriminelle, die im legalen Leben am Alltag scheitert. Keine Sorge, auf meinem Video wirst du nicht zu erkennen sein.“
Der Mann von gegenüber trat hinter Carolin hervor.
Gekräuselte Augenbrauen, unrasiertes Gesicht und krank glänzende Augen, aus der Nähe betrachtet, fand Gesa ihn nicht mehr gutaussehend.
Mit erhobenen Armen bewegte der Mann sich in Richtung Sessel.
„Das ist ein Scherz!?“ Gesa war zu perplex um rechtzeitig den roten Knopf ihres Sprays zu drücken. Er drehte ihr den Arm um. Die Dose fiel zu Boden.
Die Szene erinnerte Gesa an einen ihrer Vorabendkrimis. Der Nachbar zog sie hoch und sagte seinen Text auf: “Jetzt werden wir beide in deine Wohnung gehen. Dort bereiten wir den Sprung vor. Es sollte zwar noch nicht heute sein, aber wir sind flexibel. Ein großartiges Projekt und du bist die Hauptfigur!“
Sein Griff war fest.
Mit einem Ruck arbeitete Gesas Gehirn wieder.
Sie fragte sich wie viel Zeit vergangen war, seit sie Achim angerufen hatte.
„Dürfte ich vorher auf Toilette gehen?“
„Carolin, geh mit.“ Der Nachbar behielt den künstlichen Ton bei.

„Was habt ihr mit dem Film vor?“
Carolin erzählte ausführlich. Gesa schnappte ein paar Worte auf, um weitere Fragen zu stellen. Videokunst. Lifeact im Internet. Sie musste Zeit schinden.
Als Carolin vom Sprung sprach, glühten ihre Wangen vor Begeisterung.
„Beeilt Euch!“ tönte es aus dem Gang.
Carolin schob Gesa aus der Toilette heraus.
Das Gesicht des Künstlers war hochrot, die abgeklärte Rolle schien ihn mittlerweile anzustrengen.
“Wenn du schreist, werde ich erzählen, wie du bei uns eingebrochen bist.“
Gesa spürte eine Messerspitze in ihrem Rücken.

Als sie aus der Haustür traten, hörte Gesa es schon: Dieselrattern von mindestens fünfzehn Taxen. Die Scheinwerfer gingen an und beleuchteten den Eingang.
Die Fahrer stiegen aus. Sie umringten Gesa und den Nachbarn.
Achim strahlte. Diesmal durfte er sie wirklich retten.

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