Honigfalter
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November 2004
Trautes Heim
von Eva Markert

Um fünf Uhr morgens schellte das Telefon. Mit verquollenen Augen tastete sich Gesa ins Wohnzimmer. Auf dem Display war keine Nummer zu erkennen.
„Wohlrath.“
Sie hörte ein Rauschen.
„Hallo?“
Keine Antwort.
„Sie könnten sich wenigstens entschuldigen!“
Gesa legte auf.
Es lohnte sich nicht mehr, ins Bett zu gehen. Sie hatte gerade den Mund voll Zahnpasta, als es erneut klingelte. Diesmal hörte sie heftiges Atmen.
„Was soll das?“, schimpfte Gesa. „Außerdem haben Sie mir zwanzig Minuten Schlaf gestohlen!“
Der Anrufer hängte ein.
‚Wer kann das sein?’, fragte sie sich. ‚Meine neue Nummer steht doch gar nicht im Telefonbuch.’
Es war dunkel, als sie aus dem Haus trat und sich zu Fuß auf den Weg zum Taxistand machte. Warum war ihr so unheimlich zumute? In jedem Eingang, an jeder Ecke glaubte sie eine Gestalt zu erkennen. Nicht zum ersten Mal fühlte sie sich beobachtet. Dabei wusste doch kaum jemand, wo sie jetzt wohnte!
Nachdem sie ihr Taxi acht Stunden durch die Großstadt gelenkt hatte, dachte sie nicht mehr an den Anrufer, sondern freute sich auf ihre neue Wohnung.
„Guten Abend, Frau Wohlrath!“ Der Nachbarssohn lächelte sie im Vorbeigehen an.
„Guten Abend, Sven.“ Was für ein netter Junge! Immer höflich. Ganz anders als viele ihrer Fahrgäste.
Im Briefkasten lag ein Brief ohne Absender. Im Flur riss sie den Umschlag auf. Er enthielt ein computerbeschriebenes Blatt. „Liebste Gesa“, stand darauf, „ich denke immer noch Tag und Nacht an dich. Ich liebe dich.“ Der Brief war unterzeichnet mit „A.“ Dieses krakelige, nach links gekippte A war typisch für Achims Schrift.
Gesa schüttelte den Kopf. Warum bedrängte er sie so? Immer wieder hatte er gefragt: „Was habe ich getan, dass du mich nicht mehr liebst?“ Er hatte nichts getan. Zumindest nichts, was sie ihm vorwerfen könnte. Schließlich war es nicht seine Schuld, dass sie sich mit ihm langweilte. Ihre Gefühle für ihn wurden immer dünner und löchriger. Eines Tages war die Liebe ganz und gar zerschlissen.
Gesa nahm Mäxchen, ihren alten Kater, auf den Schoß und rief Carolin an. „Was soll ich bloß machen? Er lässt mich einfach nicht in Ruhe.“
„Wir finden bestimmt eine Lösung.“ Ihre Freundin sprach sehr laut, wie immer, wenn sie sich selbst überzeugen wollte.
In diesem Augenblick läutete es. „Warte einen Moment.“ Mit dem Hörer in der Hand ging Gesa zur Haustür.
Durch den Spion sah sie das Gesicht eines unbekannten Mannes. Vorsichtig öffnete sie. Der Mann hielt ihr einen Strauß roter Rosen entgegen. „Die sind für Sie.“
„Nehmen Sie das wieder mit!“ Gesa merkte selbst, wie hysterisch ihre Stimme klang.
„Das geht nicht. Ist alles schon bezahlt.“
Der junge Mann drückte ihr die Blumen in die Hand und verschwand. Auf der Karte standen drei Worte: „Auf ewig dein“.
„Jetzt hat er mir auch noch Rosen geschickt. Carolin, ich halte das nicht mehr aus!“
„Versuch einfach ihn zu ignorieren. Tu so, als wär’ er gar nicht da.“
Carolin hatte gut reden! Gesa presste Mäxchen an sich.
Kaum hatte sie es sich auf dem Sofa bequem gemacht, klingelte das Telefon erneut. Gesa setzte Kopfhörer auf und stellte die Dire Straits auf volle Lautstärke. Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen. Ihre Lieblingssongs. Achim mochte sie auch. Früher, da hatten sie ...
Sie sprang auf. Wozu diese Erinnerungen? Sie hatte sich ihre Entscheidung wirklich nicht leicht gemacht. Nun musste sie dazu stehen.
Im Bett fand sie immer noch keine Ruhe. Stickige Luft lastete auf ihrer Brust. Die Decke wand sich viel zu eng um den schwitzigen Körper.
Sie öffnete das Fenster. Kühle strömte ins Zimmer. Einige Wohnungen gegenüber waren erleuchtet. Im Gegenlicht sahen die Figuren und Szenen wie lebendige Scherenschnitte aus.
Eine dunkle Gestalt näherte sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite. In Höhe ihres Fensters blieb sie stehen und wandte den Kopf. Das Gesicht war nur ein bleicher Fleck. Unwillkürlich sprang Gesa zurück. Gleich darauf war die Gestalt verschwunden.

Unausgeschlafen quälte sie sich um halb sechs aus dem Bett. Den ganzen Tag wurde sie die Gedanken an Achim nicht los. Es war lächerlich, aber aus irgendeinem Grund hatte sie ihm gegenüber ein schlechtes Gewissen. Liebe entzündet sich an Gegenliebe. Er liebte sie. War es ihre Schuld, dass sie ihn nicht genug wiederlieben konnte?
Nach der Arbeit stieg sie zu ihrer Wohnung hinauf. Von oben näherten sich feste Schritte, die im leeren Treppenhaus widerhallten. Das Geräusch machte ihr Angst. Sie blieb stehen. Am liebsten hätte sie kehrtgemacht. Da erschien auf dem Treppenabsatz der nette Nachbarsjunge. Er nickte ihr zu. Gesas rechtes Augenlid zuckte, während sie zurücklächelte.
In der Wohnung verstärkte sich das Gefühl der Beklemmung. Es roch nicht wie ihr Zuhause. Oder kam es ihr nur so vor, weil alles noch neu und fremd war?
Ein Joghurt zum Abendessen würde heute genügen. Bevor sie zum Kühlschrank ging, hob sie den Schichtplan auf, der von der Pinwand gefallen war, und wischte ein paar Kaffeetropfen auf der Arbeitsplatte weg. Während sie ihren Joghurt löffelte, dachte sie darüber nach: Wieso war ihr die Unordnung heute Morgen nicht aufgefallen? Wieder fiel ihr Achim ein. Wenn der gefrühstückt hatte, musste man hinterher gleich die ganze Küche putzen. Sie hatten oft Streit deswegen. Oder war sie vielleicht doch zu pingelig gewesen?
Als sie ins Wohnzimmer trat, stutzte sie. Das blaue Kissen lag doch sonst auf der rechten Seite des Sofas bei den gelben! ‚Ach Unsinn’, sagte sie zu sich selbst, ‚du siehst Gespenster.’
Gesa stellte den Fernseher an. Bei einem Krimi konnte sie am besten abschalten. Aber ausgerechnet heute ging es um einen Taximörder, der sich in einsame Gegenden fahren ließ, um dann ...
Sie stellte das Gerät ab und trat ans Fenster. In einem Haus auf der anderen Straßenseite saß eine Familie am Abendbrottisch. Gesa beobachtete sie eine Weile, ehe sie die Rollläden herunterließ.

Schon von weitem sah Gesa Carolin, die im Regen vor dem Haus wartete.
„Was machst du denn hier? Warum bist du nicht raufgegangen? Du hast doch einen Schlüssel!“
„Du kannst mir dankbar sein. Ich habe gerade Achim verjagt.“ Sie drückte Gesa eine Schachtel Pralinen in die Hand. Unter das Goldbändchen war ein Brief geschoben. Gesas Hände zitterten ein wenig, als sie ihn öffnete.
„Liebste Gesa,
denk daran,
wie schön es mit uns beiden war!
Niemals kann ich dich vergessen.
Verlassen werde ich dich nie.
Gib mir doch noch eine Chance.
Bitte, liebste Gesa!
A.“
Carolin sah ihr über die Schulter. „Zumindest hat er sich Mühe gegeben“, sagte sie.
Gesa betrachtete die Rosenranken, die das Blatt säumten, und die kursiv gedruckten Zeilen, die wie ein Vers aussahen. „Er ist und bleibt halt ein Kindskopf“, sagte sie. Ein kurzes Lächeln huschte über ihr Gesicht. Dann zerknüllte sie das Blatt. „Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie er mir auf die Nerven geht mit seiner ewigen Bettelei!“ Sie presste die Lippen aufeinander.
„Warum rufst du ihn nicht gleich an und machst ihm das in aller Deutlichkeit klar?“
„Ich hab ihm schon so oft gesagt, dass ich ihn nicht mehr liebe.“
Inzwischen waren sie beide ganz nass geworden.
„Komm doch mit rauf!“
„Nein, ich wollte nur kurz guten Tag sagen. Jetzt muss ich weiter.“
„Warte!“, rief Gesa ihrer Freundin nach.
Sie drehte sich um.
„Weißt du eigentlich, wie Achim mich gefunden hat?“
Carolin zuckte die Schultern.
Gesa zog sich am Treppengeländer hoch. Ihr war richtig übel. Und dann hatte sie wieder dieses merkwürdige Gefühl, als ob sie eine fremde Wohnung beträte. Es roch schwach nach Bier und Zigarettenqualm. ‚Ein bisschen wie in einer Kneipe’, dachte sie.
Bildete sie sich das ein oder stand die Gardine im Wohnzimmer tatsächlich ein ganzes Stück weiter offen als gestern? Bevor sie sich vor dem Fernseher niederließ, schloss sie alle Rollläden.

Das Schrillen des Telefons ließ sie zusammenfahren. Schon das fünfte Mal heute.
„Hallo, Gesa!“, hörte sie Carolins muntere Stimme. „Hast du nicht Lust, heute Abend mit mir essen zu gehen? Ich habe ein tolles italienisches Restaurant ausfindig gemacht.“
„Ich weiß nicht ...“
„Komm schon! Das bringt dich auf andere Gedanken.“
Zu Fuß gingen sie durch dunkle Straßen zum San Marco.
Von Zeit zu Zeit blickte Gesa sich um.
„Nur keine Angst, wir würden schon mit ihm fertig!“
Dennoch war Gesa froh, als sie das hell erleuchtete Restaurant erreichten.
„Ich fürchte, er geht in meine Wohnung, während ich Taxi fahre oder hier mit dir sitze.“ Sie schob das Essen auf ihrem Teller hin und her.
„Wenn wir bloß wüssten, wie er reinkommt!“
„Ob ich zur Polizei gehe?“
„Und was willst du denen erzählen?“ Carolin zog an ihrer Zigarette.
„Du hast Recht. Die tun erst was, wenn er mich ermordet hat.“
Carolin runzelte die Stirn. „Ob er wirklich gefährlich ist?“
„Ich weiß nicht. Nein, ich glaube nicht.“
„Andererseits“, gab Carolin zu bedenken, „wer sollte sonst ein Interesse daran haben, sich heimlich in deiner Wohnung aufzuhalten?“
Auf dem Rückweg sprachen sie immer noch über ihn.
„Eigentlich ist er gar nicht so übel“, stellte Carolin fest. „Dieser Mann hat was. Breite Schultern, schmale Hüften. Und wenn ich an seinen knackigen Po denke ...“
„Na und?“, unterbrach Gesa sie, „Was habe ich denn davon?“
„Hm, mir fiele da so einiges ein ...“
„Du bist unmöglich!“
Carolin grinste.
„Weißt du, was mich am meisten an ihm stört?“, fuhr Gesa fort. „Dass er nichts richtig auf die Reihe kriegt.“
„Nur weil er keinen Job findet?“
„Wieso verteidigst du ihn jetzt?“
„Psst!“ Carolin packte Gesa am Arm und blieb stehen. „Hörst du was?“
In der engen Gasse war es totenstill. Gesa fuhr herum. Ein Schatten huschte in einen Hauseingang.
Sie fassten sich bei der Hand und rannten los. Keuchend erreichten sie Carolins Wagen, warfen sich auf die Sitze und verriegelten die Türen.
Sie warteten lange. Die Straße blieb menschenleer. Endlich wagte sich Gesa aus dem Auto.
In dieser Nacht nahm sie Mäxchen mit ins Bett.

Kurz vor 20 Uhr hielt Gesas Wagen am Taxistand. Sie gähnte. Ihre Schicht war gleich zu Ende. Die hintere Tür des Wagens wurde aufgerissen. Die letzte Fahrt für heute. Sie setzte ihr verbindliches Berufslächeln auf und drehte sich um.
„Hallo, Gesa“, sagte Achim, „dann fahr mal los.“
„Was willst du?“
„Mit dir reden natürlich.“
„Steig sofort aus!“
„Aber du warst doch einverstanden.“
„Wie kommst du darauf?“
„Carolin hat es mir gesagt.“
Jetzt fiel es Gesa ein. Carolin hatte Achim ja neulich vor ihrem Haus vertrieben. „Da musst du was missverstanden haben.“
„Nun hab dich doch nicht so! Stell dir einfach vor, ich bin ein Fahrgast.“
„Wenn du nicht sofort aussteigst ...“
„Schscht.“ Er legte ihr ganz leicht seine Hand auf den Mund. Seine Finger rochen nach Babyseife. Der Geruch war ihr so vertraut! Wie oft hatte sie darüber gelächelt, dass dieser große, kräftige Mann mit dem dunklen Oberlippenbart am liebsten Babyseife benutzte.
Sie wich seiner Hand aus.
„Ich habe mir was überlegt“, sagte er. „Ich könnte eine Zeit lang bei dir wohnen. Auf Probe sozusagen.
„Achim“, unterbrach sie ihn, „das hat doch keinen Zweck ...“
„Du würdest es nicht bereuen“, fuhr er fort, als hätte er nicht gehört. „Während du Taxi fährst, mache ich den Haushalt.“
Gesa schnappte nach Luft. Achim war der unordentlichste Mensch, den sie kannte.
„Lass uns an den Rhein fahren. Zu unserer Bank. Da besprechen wir alles.“
Der Fahrer eines anderen Taxis öffnete die Wagentür.
„Alles in Ordnung, Gesa?“
Sie sprang aus dem Auto. „Der Herr möchte zum Rhein. Ich habe jetzt Feierabend. Übernimm du die Fahrt.“
Achim stieg ebenfalls aus. „Vielen Dank“, sagte er. „Ich habe es mir anders überlegt.“
Er lief neben Gesa her und redete weiter auf sie ein. „Du willst es nicht wahrhaben, aber ich weiß genau, dass du mich auch noch liebst.“
Sie überholten einen jungen Mann. Ein Glück, es war Sven! „Guten Abend, Frau Wohlrath. Guten Abend, Herr Ebert.“
„Sven, ich gehe mit dir zusammen nach Hause.“
Endlich blieb Achim stehen. „Eines Tages“, rief er ihr nach, „wirst du es vielleicht bereuen!“

„Wie hat er das wohl gemeint?“
„Es klingt fast wie eine Drohung“, sagte Carolin.
Gesa hatte Carolin eingeladen, und nun saßen sie im Wohnzimmer und tranken Bier aus der Flasche. Gesa stand auf und ging zum CD-Ständer.
„Zur Abwechslung mal die Dire Straits?“ Carolin kicherte.
Gesa antwortete nicht.
„Was ist los? Warum starrst du so auf die CDs?“
„Carolin, bist du an den Alben von den Dire Straits gewesen?“
„Nein, wieso?“
„Hier stimmt was nicht. Ich ordne sie immer nach ihrem Erscheinungsjahr.“
„Vielleicht hast du dich vertan?“
Gesa kam an den Tisch zurück und nahm einen tiefen Schluck. Sie war ganz blass. „Ich bin nun sicher, dass jemand in meiner Wohnung war. Und das nicht zum ersten Mal.“
„Langsam, langsam. Die CDs sind kein Beweis. Lass uns nach weiteren Indizien suchen.“
Gemeinsam gingen sie durch die Räume.
„Ich weiß es nicht genau“, sagte Gesa, „aber ich glaube, in dieser Geldkassette war mehr drin.“
„Das geht mir auch immer so. Jedes Mal, wenn ich mein Geld betrachte, bin ich erstaunt, dass es nur so wenig ist.“
„Mir ist nicht nach Scherzen zumute.“ Mit fliegenden Fingern durchwühlte Gesa eine Schublade. „Und wo ist der rote Schal, den Achim mir mal geschenkt hat?“
„Wenn der wirklich gestohlen worden wäre“, sagte Gesa, „könnte nur Achim ihn genommen haben. Aber bestimmt hast du ihn irgendwo liegen lassen.“
„Du glaubst mir nicht.“
„Doch. Aber für alles gibt es auch eine einfache Erklärung.
Gesa seufzte. „Vielleicht leide ich ja wirklich unter Verfolgungswahn.“ Sie schaltete die Lampe aus und öffnete das Fenster. „Ich brauche frische Luft.“ In dem gespenstischen Licht, das der bläuliche Vollmond ins Zimmer warf, leuchteten die Gardinen überirdisch weiß. Gesas Schrei durchbrach die Stille.
Carolin stürzte zum Lichtschalter.
Gesa zeigte auf die Gardine. „Ein Loch. In meinen neuen Gardinen. Ein Brandloch.“
„Du hast mich überzeugt“, sagte Carolin. „Und was nun?“
„Morgen bestelle ich den Schlüsseldienst.“

Das Gästebett, das Carolin für sie aufgestellt hatte, war schmal und unbequem. Alle paar Minuten sah Gesa auf die Uhr.
Plötzlich fuhr sie hoch. Merkwürdig, dass ihr das nicht eher aufgefallen war! „Guten Abend, Herr Ebert“, hatte Sven gesagt. Gleich morgen würde sie nachhaken.
Erst als die Schwärze des Nachthimmels bereits fahl wurde, schlief sie ein.
Der Duft des frisch aufgebrühten Kaffees machte das Aufstehen leichter. Carolin hatte auch schon Brötchen besorgt. Nach dem Frühstück machte sich Gesa auf den Heimweg. Mäxchen brauchte Futter und sie frische Kleidung.
Sie schloss ihre Wohnungstür auf. Die Luft, die ihr entgegenschlug, roch nach heißem Wachs. Auf dem Boden glommen viele trübe Flämmchen. Der lange Flur war an beiden Seiten gesäumt von Teelichten und halb niedergebrannten Kerzen. Die Spur führte ins Wohnzimmer.
Gesa ließ die Haustür weit offen stehen. Sie schlich den Korridor entlang. Kein Laut war zu hören. Vorsichtig drückte sie die Klinke hinunter.
Auf dem Tisch, den Schränken, auf dem Boden, überall standen Kerzen. Mäxchen sprang vom Sofa und strich ihr um die Beine.
Gesa musste sich erst einmal setzen. Ihr Blick fiel auf einen Zettel, der auf dem Couchtisch lag. „Das wird dir noch Leid tun!“ stand da in riesigen fettgedruckten Buchstaben.
Sie versuchte, tief und gleichmäßig durchzuatmen, damit ihr Herz nicht mehr so heftig gegen die Brustwand schlug. Als sie sich gefasst hatte, stieg sie die Treppen hinauf und klingelte.
Svens Mutter öffnete.
„Entschuldigen Sie, dass ich so früh störe. Aber können Sie mir sagen, ob jemand einen Schlüssel zu meiner Wohnung hat?“
„Lassen Sie mich mal überlegen – ja, Ihr Vormieter hat uns einen gegeben.“ Sie suchte in einem Schlüsselschränkchen. „Wo ist er bloß? Möchten Sie einen Kaffee?“
„Nein, danke. Kann ich Sven kurz sprechen?“
„Der ist in der Schule!“
„Wissen Sie, woher er Achim Ebert kennt?“
„Herrn Ebert? Den kennen wir schon lange. Das ist ein ehemaliger Arbeitskollege meines Mannes.“
„Und Sven?“
„Er ist auch Anhänger des FC 05. Sie treffen sich regelmäßig in der Stammkneipe der Fans.“
Der FC 05. Achims Lieblingsverein. Darüber hatte sie im vergangenen Jahr mehr gehört, als ihr lieb war. Kein Spiel hatte Achim versäumt.
Gesa sah nun etwas klarer.

Nachdem sie sich in der Zentrale krank gemeldet hatte, saß sie auf dem Sofa und starrte vor sich hin. Die tiefschwarzen Buchstaben sprangen ihr wieder ins Auge. „Das wird dir noch Leid tun.“
Impulsiv griff sie zum Telefon und wählte Achims Nummer. Sie ließ es lange klingeln. Als sie gerade auflegen wollte, hörte sie seine Stimme. Die Worte klangen verwaschen, die Silben waren lang gezogen.
„Achim, hast du wieder getrunken?“
„Ein bisschen!“, lallte er.
„Hör zu, ich muss dich was fragen.“
Er antwortete nicht. Dann war die Leitung tot.
Gesa rief ein Taxi.
Achims Tür war angelehnt, so als ob er sie erwarten würde. Er lag auf dem Sofa und schnarchte laut. Auf dem Tisch stand eine Whiskyflasche.
Gesa ließ sich in einen Sessel fallen und betrachtete ihn. Sein Mund hing offen und Speichel rann heraus. Kaum zu glauben, dass dieser Mann sonst richtig attraktiv aussah. Ja, sie hatten auch gute Zeiten miteinander gehabt. Achim konnte sehr komisch sein. Niemand brachte sie so zum Lachen wie er.
Sie rüttelte ihn an der Schulter. „Wach auf!“
Er röchelte und murmelte etwas Unverständliches.
Gesa holte einen nasskalten Waschlappen und rieb ihm das Gesicht ab.
Schnaufend richtete Achim sich auf. Er schielte, wie immer, wenn er zu viel getrunken hatte. Bevor er etwas sagen konnte, sank sein Kinn auf die Brust und er schlief wieder ein.
Es dauerte eine Weile, bis Gesa ihn so weit hatte, dass er ihre Fragen einigermaßen verständlich beantworten konnte.
„Ich weiß inzwischen, wer einen Schlüssel zu meiner Wohnung hat.“
Er sah sie aus stumpfen Augen an.
„Hast du ihn dir ausgeliehen?“
Achim schüttelte den Kopf.
„Wie bist du denn in meine Wohnung reingekommen?“
„Ich bin nie ...“ Er rülpste.
„Aber die Kerzen heute. Das warst doch du!“
„Kerzen? Nein!“
Es hatte keinen Sinn. Achim fielen erneut die Augen zu. Er würde sicher noch eine Weile schlafen müssen.
Gesa fuhr zu ihrer Freundin.

Carolin biss in ihr Käsebrot. „Das ist ja eine unglaubliche Geschichte!“, sagte sie mit vollem Mund. „Wenigstens wissen wir jetzt, woher er den Schlüssel hat.“ Sie lachte laut auf. „Der Ärmste! Wenn er aufwacht, wird er einen Kopf haben wie ein Kürbis.“
Gesa nahm noch einen Schluck Wein. „Irgendwie mache ich mir Sorgen um ihn.“
„Warum? Hauptsache, er lässt dich in Ruhe.“
Gesa gähnte. „Es ist zwar noch früh, aber ich muss dringend ins Bett.“
Auf einmal schlug sie sich mit der Hand vor die Stirn. „Der Schlüsseldienst!“, rief sie. „Vor lauter Aufregung habe ich vergessen ihn anzurufen.“
„Willst du lieber hier übernachten?“
Gesa überlegte kurz. „Nein, ich glaube, das ist nicht nötig. Heute stellt Achim bestimmt nichts mehr an.“

Von einer Sekunde auf die andere, so als wäre ein Schalter in ihrem Kopf umgelegt worden, war sie hellwach. Sie hatte das Gefühl, schon lange geschlafen zu haben. Die Eingangstür schabte über den Teppichboden. Unwillkürlich hielt sie den Atem an. Dann ein leises Quietschen. Stocksteif lag Gesa da. Jemand war in ihrer Wohnung.
Die Schlafzimmertür hatte sie angelehnt. Die Dunkelheit, die sie umgab, war rabenschwarz. Sie hörte hastiges, unterdrücktes Atmen. Jemand horchte ins Schlafzimmer hinein. Ihr Herz klopfte so hart, dass es weh tat.
Schleichende Schritte näherten sich dem Bett. Mäxchen miaute im Wohnzimmer.
Keine Sekunde länger hielt sie es aus. Mit einem Ruck setzte sie sich und ließ das Licht aufflammen. Vor ihrem Bett stand eine Gestalt. Mehr konnte sie im grellen Licht nicht erkennen.
„Was wollen Sie?“ Gesa wunderte sich, wie fest ihre Stimme klang.
Langsam wurde das Bild deutlich. Sie sprang aus dem Bett.
„Carolin!“
Die Freundin verzog ihren Mund zu einem schmalen Grinsen.
„Was machst du hier?“
Sie antwortete nicht. Auf ihren Wangen flammten zwei dunkelrote Flecken.
„Carolin, was ist los?“
„Du fragst, was los ist? Tu doch nicht so! Das weißt du genau!“, zischte sie. „Du brauchtest sie nur anzusehen mit deinen dunklen Augen und dir mit den Händen durch die blonde Mähne zu fahren und schon lagen sie dir alle zu Füßen. Jonas, Karsten, Norbert – du hast sie dir einfach genommen. Mir weggenommen. Und jetzt auch noch Achim, den Mann, den ich liebe, wie ich keinen anderen zuvor geliebt habe.“
„Ich wusste gar nicht ...“
„Alles habe ich versucht, aber er hatte nur Augen für dich.“
Fassungslos starrte Gesa sie an. Carolin bleckte die Zähne. „Wie einen Hund solltest du ihn behandeln. Vielleicht wäre er dann von dir losgekommen.“
Gesa blieb stumm. Sie blickte in das Gesicht einer Fremden.
„So viel Mühe habe ich mir gegeben! Aber es hat gewirkt. Du hast ihn weggejagt.“
„Dann“, flüsterte Gesa, „warst du es auch, der immer in meine Wohnung eingedrungen ist?“
„Ja, schlau, nicht wahr?“ Carolins Augen waren zwei scharf glühende Punkte. „Du fühltest dich bedroht. Du solltest ihn fürchten, verabscheuen, hassen.“
Sie sprang Gesa an wie ein Tier. „Ich wollte es nicht. Aber du lässt mir keine Wahl.“
Kalte Finger krallten sich um ihren Hals. Sie war unglaublich stark. Gesa kam nicht gegen sie an. Es klingelte. Verzweifelt suchte sie den Blick ihrer Feindin.
„Heute Nacht“, keuchte Carolin, „nachdem ich bei ihm war, ist mir etwas klar geworden. Solange du lebst, wird er für mich unerreichbar bleiben.“
Einen Augenblick lächelte sie fast träumerisch. Dann strafften sich ihre Schultern. „Und nun sag der Welt Adieu.“ Mit aller Kraft drückte sie zu.
Die Luft begann zu flirren. Gesa spürte, wie es in ihr zu brennen begann. Ihr Brustkorb dehnte sich, weiter, noch weiter. Gleich würde sie innerlich zerreißen. Schwarze Punkte schwammen vor ihren Augen. Sie wurden größer. Ihre Füße spürte sie kaum.
„Carolin!“
Der Druck ließ schlagartig nach. Ihr erster trockener Atemzug war wirkungslos.
„Bleib, wo du bist!“ Carolin zog blitzschnell ein Messer aus der Tasche. Gesa sah die Klinge aufblitzen, spürte Metall an ihrer Kehle.
„Carolin, sei doch vernünftig!“
„Komm ja nicht näher!“ Eine kleine Bewegung. Es tat nicht weh. Etwas Warmes rann Gesas Hals hinunter.
„Carolin, ich liebe dich.“
Sofort ließ Carolin ihre Hand sinken und wandte sich um. Achim ging auf sie zu und nahm ihr das Messer ab. Widerstandslos ließ sie sich zu Sven und seinem Vater führen, die in der Tür standen.
Gesa schwankte und brach zusammen.

Sie saßen auf dem Sofa. Achim hatte den Arm um sie gelegt. Gesa konnte nicht aufhören zu zittern.
„Buchstäblich in allerletzter Sekunde ...“, flüsterte sie. „Wenn du nicht gekommen wärst ...“
Er drückte sie an sich. „Ich hatte so ein ungutes Gefühl, nachdem Carolin gegangen war. Sie erschien mir so merkwürdig, sagte, dass sie mich lieben würde und dass sie es dir heimzahlen wollte.“
„Und was hast du ihr geantwortet?“
„Willst du das wirklich wissen?“
Gesa sah ihn abwartend an.
„Dass sie nicht die geringste Chance hat, weil ich dich immer noch liebe.“
Gesa lehnte ihren Kopf an Achims Schulter. „Ich kann es nicht fassen. Die ganze Zeit war ich mit ihr zusammen und ich habe nichts gemerkt!“
„Ein Glück, dass du mir gesagt hattest, wer außer Carolin noch einen Schlüssel zu dieser Wohnung hat.“
Sie redeten bis zum frühen Morgen. Schließlich schlief Gesa an Achim gelehnt ein.
Der Kaffee, den er später kochte, war pechschwarz. „Ich muss dieses Zeug trinken, selbst wenn ich Magenschmerzen davon bekomme“, erklärte Gesa. „Heute Nachmittag will ich nämlich meine Schicht fahren. Es wird höchste Zeit, dass mein Leben wieder in normalen Bahnen verläuft.“
„Soll ich dich nach der Arbeit abholen? Wir könnten essen gehen.“
Gesa zögerte nur kurz. „Einverstanden.“

E-Mail: evamarkert@arcor.de

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
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