Burgturm im Nebel
Burgturm im Nebel
"Was mögen sich im Laufe der Jahrhunderte hier schon für Geschichten abgespielt haben?" Nun, wir beantworten Ihnen diese Frage. In diesem Buch.
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November 2004
Vier gewinnt
von Ella Jung

Gesa Wohlrath drehte den Schlüssel im Türschloss ihres alten Taxis, zog noch einmal am Handgriff, um sich zu versichern, dass der Wagen auch wirklich verschlossen war und ging dann - schwer bepackt mit drei großen Plastiktüten - auf ihr neues Heim zu. Sie kam von Achim, ihrem Freund, nein, nun Ex-Freund, von dem sie sich vor kurzem getrennt hatte. Die Plastiktüten beinhalteten die Reste ihrer Sachen, die sie bei ihrem überstürzten Auszug aus seiner Wohnung zurückgelassen hatte. Achim und sie hatten sechs - so dachte Gesa - wunderbare Jahre miteinander verbracht, doch in den letzten neun Monaten war ihrer Beziehung zusehens die Luft entwichen. Ihm gefielen ihre Nachtschichten nicht, ihre Freunde, ihre Hobbies, ihr Dickkopf. Immer öfter wurde er laut, wenn sie ihm widersprach oder fuhr ihr vor Freunden über den Mund.

Es gab nur eine Sache, die sie am Ende mit Achim noch in aller Ruhe hatte tun können. Sein Lieblingsspiel spielen: „Vier gewinnt“. Gesa hatte Stunde um Stunde mit Achim im Wohnzimmer verbracht und versucht, vier rote Scheiben (sie hatte immer rot, weil Achims Lieblingsfarbe gelb war), diagonal, vertikal oder horizontal in eine Reihe zu legen. Nur selten war es ihr geglückt, was sie aber nicht weiter betrübt hatte. Sie war kein großer Fan dieses Spiels, es war ihr zu langweilig. Lange hatte sie über eine Möglichkeit nachgedacht, das Spiel spannender zu gestalten. Ihr war jedoch nichts eingefallen.

Irgendwann ging gar nichts mehr zwischen ihnen und nach einem heftigen Streit vor sechs Wochen hatte Gesa kurzentschlossen ihre Sachen gepackt und war erst einmal bei ihrer Freundin Carolin untergekommen. Diese war die meiste Zeit nicht zu Hause. Sie war der unternehmungslustigste Menschen, den Gesa kannte und auch wenn sie sonst gerne mit Carolin um die Häuser zog, war sie zu diesem Zeitpunkt ganz froh über das Alleinsein. In Carolins Wohnung hatte sie wieder zu sich selbst finden können, nur die Wut auf Achim war geblieben. Besonders, als sie im Nachhinein erfuhr, dass Achim sie schon seit geraumer Zeit mit einer seiner Arbeitskolleginnen betrogen hatte.

Vor vier Wochen hatte Gesa endlich ihre neue Wohnung gefunden. Sie lag in einem ruhigen Bezirk der Stadt, war verhältnismäßig günstig und die Nachbarn der drei anderen Mietparteien wirkten sehr nett. Direkt unter Gesa wohnte ein alter Mann, der einen kleinen, ruhigen Hund besaß. Als Gesa die Wohnung besichtigt hatte, war ihr sofort der Hund dieses Mannes aufgefallen. Haustiere waren also erlaubt. Gesa hatte zwar Achim verlassen, aber ihren Kater Mäxchen hatte sie mitgenommen. Mäxchen ist der bessere Mann, hatte sie immer zu Carolin gesagt und leider auch diesmal wieder recht behalten.

Die neue Wohnung hatte im Grunde genommen nur einen Nachteil: Sie lag genau gegenüber des Wohnblocks, in dem Gesa bisher mit Achim gelebt hatte. Wenn Gesa in ihrem Wohnzimmer stand und nach hinten raus über die Wiese und den Parkplatz blickte, die die Gebäude trennten, hätte sie ihrem Exfreund morgens zur Begrüßung zuwinken können. Oder den anderen ehemaligen Nachbarn. Wie oft hatte sie sich über Klaus Herberts, diesen alten, verbiesterten Kerl geärgert, der sich jedes Mal, wenn er sie sah, dazu bemüßigt fühlte, sie über ihren Job als Taxifahrerin („Das ist doch keine Arbeit für eine Frau!“) aufzuklären. Er lebte alleine und Gesa wunderte das nicht.

Dann war da Maria Gorand, diese geschwätzige Ziege. Ihr Leben war der Tratsch und nichts und niemand war vor ihrer spitzen Zunge sicher. Ganz am Anfang ihrer Beziehung hätte sie Achim und Gesa mit ihren Geschichten beinahe auseinander gebracht und seit der Trennung grinste sie jedes Mal besonders anzüglich, wenn sie Gesa begegnete. Kein Wunder, dass ihr Mann die meiste Zeit des Jahres zur Kur war. Gerade vor 2 Wochen hatte Gesa ihn wieder einmal abreisen sehen.

Gesas neue Wohnung war eine helle Zwei-Zimmerwohnung mit Küche, Diele und Bad. Am besten gefiel Gesa der Erker in ihrem Wohnzimmer. In ihn hatte sie sich sofort verliebt. Nun stand dort ein breiter, bequemer Sessel und Gesa hatte die meisten Nächte seit ihrem Einzug damit verbracht, die Wohnungen in dem Wohnblock gegenüber mit einem Fernglas zu beobachten. Mittlerweile war das allabendliche Fernglas-Gucken schon nahezu eine Sucht geworden. Was Gesa durch das Fernglas sah, war besser, als jede Soap oder jeder Krimi im Fernsehen. Und dabei waren Krimis Gesas Leidenschaft.

Neben dem Spielen hatte sie die meisten Abende mit Achim auf der Couch gelegen und TV-Krimis geguckt. Gesa liebt es, den Kommissaren bei der Aufklärung ihrer Fälle zuzusehen. Aber noch mehr liebte sie die Verbrecher und deren Einfallsreichtum. Es gab nur wenige Todesarten und Motive, die Gesa noch nicht im Fernsehen bewundert hatte. Besonders wenn es ums Erschießen ging, war Gesa in ihrem Element. Sie war seit einigen Jahren Mitglied in einem Schiesssportverein und wusste, wie man Waffen richtig hielt oder welche Waffen für welche Zwecke genutzt wurden. Damit wusste sie mehr als mancher Regisseur oder Schauspieler, was Gesa immer wieder mit Bedauern feststellte.

Die letzte Zeit blieb der Fernseher aus. Gesa empfand eine diebische Freude daran, die Menschen im Block gegenüber bei ihren Alltäglichkeiten zu beobachten. Allerdings hatte sie so auch über Markus Michels aus dem zweiten Stock erfahren, dass er seine Freundin, mit der er eine Fernbeziehung führte, mit einer anderen Frau betrog. Er hatte immer so souverän und anständig gewirkt. Einmal war Gesa von der Tagschicht nach Hause gekommen und hatte im Treppenhaus eine Spur aus Rosenblättern gefunden, die zu Markus Michels’ Haustür führten. Er hatte sie für seine Freundin vorbereitet, verriet er Gesa am nächsten Tag, als sie sich zufällig an den Mülltonnen trafen. Jetzt fragte sich Gesa, welche Freundin er damit gemeint hatte.

In ihrer Wohnung angekommen, ging Gesa direkt ins Wohnzimmer, um für ihre allabendliche Geräuschkulisse zu sorgen: Dire Straits. Natürlich waren Dire Straits heutzutage nicht mehr wirklich hip, aber mit ihren 39 Jahren konnte Gesa gut dazu stehen, nicht mehr die Charts rauf und runter zu hören. Dire Straits, diese Band war einfach ihre Musik. Sie kannte nahezu jedes Lied auswendig und hatte in ihrer alten Wohnung oft beim Kochen bei ihren Lieblingsstücken laut mitgesungen. Allerdings nur, wenn Achim nicht da gewesen war, er hatte Heavy Metal bevorzugt. Gesas Lieblingsstück war „Sultans of swing“ und auch wenn sie es schon unendliche Male gehört hatte, wusste sie, dass sie es sich niemals würde überhören können. Sie war nun einmal eine treue Seele. Bei Männern und Musikern ganz besonders.

Mit einem Teller Cracker und ihrem Lieblingsdip setzte sich Gesa auf den Sessel im Erker ihres Wohnzimmers. Draußen war es bereits dunkel und auch im Raum selbst leuchtete nur die Anzeige ihrer Stereoanlage. Die ersten Takte des „Alchemy“-Albums füllten die Stille ihrer Wohnung mit Leben. Manchmal, wenn Gesa abends nach Hause kam, hasste sie die Stille. Sie hatte sie vor Achim gehasst und sie hasste sie auch nach Achim wieder. Gesa fühlte sich unausgeglichen, unruhig, wenn es so still war. Bei Carolin hatte sie die Ruhe noch genossen, doch da hatte sie auch gewusst, dass sie spätestens am nächsten Morgen durch Carolins lautes Lachen geweckt werden würde. Jetzt, in ihrer eigenen Wohnung, fehlte ihr meistens ein anderer Mensch.

Heute allerdings konnte Gesa ihr Alleinsein genießen. Während sie mit der linken Hand die Cracker in den Dip tauchte, tastete sie mit der rechten über den Boden, bis sie ihr Fernglas fand. Die ersten Töne von „Sultans of swing“ erklangen.

Das Fernglas vor Augen glitt Gesas Blick über den ersten Stock des Nachbarhauses, bis er an der Wohnung ganz links hängen blieb. Sie war dunkel. Gesa wusste, warum die Lichter seit 3 Tagen nicht mehr brannten. Es gab dort niemanden mehr, der sie hätte anmachen können. Gesa kannte sogar den Namen des Wohnungsbesitzers, in dessen Wohnungen es dunkel war. Klaus Herberts. Nun war seine Wohnung so schwarz wie seine Seele. Eine Etage höher, in der zweiten Wohnung von links war es ebenfalls dunkel. Hier wohnte Markus Michels, der Lügner und Betrüger. In der dritten Etage, in der dritten Wohnung von links, war es Maria Gorand, das alte Schwatzmaul. Und im vierten Stockwerk, in der vierten Wohnung von links, in der Licht brannte, lebte Achim. Ihr Ex-Freund Achim.

Noch.

Gesa griff nach dem Gewehr, das sie vom letzten Training ihres Schiesssport-Vereins mitgenommen hatte. Sie setzte an, blickte durch den Sucher, bis sie im Gegenlicht etwas erkennen konnte. Dann schoss sie.

Gesa lachte kurz auf, als erst Achim tödlich getroffen zusammen brach und dann das Licht in der Wohnung durch den zweiten Schuss erlosch.

Er wäre stolz auf sie gewesen.

Eine diagonale Reihe.

Vier gewinnt!


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