Futter für die Bestie
Futter für die Bestie
Gruselig geht's in unserer Horror-Geschichten-
Anthologie zu. Auf Gewalt- und Blutorgien haben wir allerdings verzichtet. Manche Geschichten sind sogar witzig.
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November 2004
Einige Nächte im Leben der Gesa W.
von Susy Clemens

„So hab’ ich mir meine Ehe nicht vorgestellt, so ganz bestimmt nicht!“, kreischte die Frau im roten Bademantel aus dem offenen Fenster des Reihenhäuschens.
„Hau bloß ab, verschwinde, und lass’ dich hier nicht so bald wieder blicken, ja!“ Gesa hatte den weißen Jetta mit dem blauen Streifen, der ihn als MiniCar kennzeichnete, auf dem Kopfsteinpflaster am Straßenrand zum Stehen gebracht – das Dörfchen hatte keine Bürgersteige. Die wären sonst jetzt hochgeklappt, dachte sie: es war eine klare Nacht, ein Tag nach Vollmond und zwanzig vor eins.
Der Mann, der das MiniCar bestellt hatte, zog das hölzerne Törchen des Vorgartenzauns auf und stieg mit einem Seufzer der Erleichterung auf den Beifahrersitz. Er trug einen khakifarbenen Kittel und stellte einen Werkzeugkoffer vor seine Füße. Gesa sah ihn fragend an. „Hauptbahnhof“, murmelte er und warf einen Blick über die Schulter, als erwarte er Verfolger von hinten. Gesa nahm das Mikrofon aus der Halterung, drückte den Knopf, der dem Zentralisten anzeigte, dass sie was zu melden hatte, wartete, bis durch das Knistern und Rauschen des Funkempfängers Uwes samtige Stimme zu hören war: “Joh, Gesa, wohin?“ und drückte wieder den Knopf :“Ha-Be-Eff!“ – „Ha-Be-Eff wo?“, flachste Uwe, „München oder was?“ – „Nee, Hamburg, du Flachpfeife“, grinste Gesa.
Der schmalgesichtige Mann mit den tiefen Falten von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln starrte geradeaus, während sie den Jetta auf die Landstrasse zusteuerte. „Stress zu Hause?“, fragte sie teilnahmsvoll. Der Fahrgast zuckte die Schultern. „Das Übliche. Muss nach Frankfurt, Messegelände, Auto ist kaputt, aber wir fangen da früh an zu bauen. Meine Frau ist nachts nicht so gern allein zu Haus.“ Gesa lächelte. „Schenken Sie ihr doch ein Haustier, das beruhigt!“ – „Wir haben schon ein Aquarium“, erwiderte der Mann lakonisch. Gesa beschloss, ihm keine weiteren Fragen zu stellen. Er wirkte traurig und übermüdet, und so stellte sie leise das Radio an und summte mit, als HR3 „Sultans of swing“ von den Dire Straits spielte.
Am Bahnhof der kleinen Stadt fuhr um ein Uhr zehn der letzte Zug nach Frankfurt und Gesa kassierte 18 DM von dem Handwerker, hoffte, auf einen Kaffee „rein“ kommen zu dürfen, denn ihre Schicht hatte um halb sieben abends begonnen, und die MiniCar Zentrale war in der Nähe des Bahnhofs, aber als sie Bescheid gab, dass sie wieder „frei“ war, hatte Uwe schon die nächste Fuhre für sie.
„Fahr mal Oberstadt, Heilpraxis Lumosnick, da wartet eine Frau vor der Tür“, sagte er.
„Okay, Uwe, aber ich mach pünktlich Feierabend!“ Es war Dienstag, und da fuhr Gesa nur die halbe Schicht, bis halb drei.
Die Oberstadt war eigentlich Fußgängerzone, aber es gab Sondergenehmigungen für Firmen und Dienstleister wie Lumosnick, dessen Patienten oft zu krank waren, um zu Fuß zu ihm zu kommen oder von ihm wieder nach Hause zu gelangen. Unnatürlich laut klang das Reifengeräusch auf dem Kopfsteinpflaster, ein paar letzte Kneipengäste taumelten kichernd in Richtung Treppen und Aufzug. Gesa fuhr fast im Schritttempo und bemerkte die Frau in dem langen bunten Strickmantel sofort. Sie löste sich aus dem Schatten des Hauseingangs und stieg rasch ein, erleichtert auch sie, in der Wärme des rollenden Blechhüttchens eine Verschnaufpause zu finden. Sie war so mager, dass sie wirklich kränklich wirkte, ein langer schwarzer Zopf und die leicht gebogene Nase gaben ihr etwas Hexenhaftes.
„Hassenhausen bitte“, lächelte sie Gesa zu. Die gab ihr Fahrtziel durch und freute sich insgeheim: um Vollmond herum war so eine Überlandtour weitaus angenehmer als ständig Besoffene aus Kneipen abzuholen oder durchgedrehte Drogenheinze in der Klappse abliefern zu müssen.
„Der Lumosnick hält aber nachts keine Sprechstunde ab, oder?“ fragte sie neugierig, während sie den Wagen auf die Stadtautobahn lenkte.
„Nee“, erwiderte die Frau. „Aber das war ein Notfall. Ich bin von meinem Mann hergebracht worden, aber der musste wieder nach Hause, auf die Kinder aufpassen. Wissen Sie, ich bin Kinderbuchautorin, und auf mein letztes Buch hab’ ich eine merkwürdige Reaktion von einem Leser bekommen. Zuerst schrieb er mir einen richtig netten Brief, – die Adresse bekommt man auf Anfrage vom Verlag – über den ich mich echt gefreut habe. Er würde selber auch schreiben, ob er mir mal was zur Ansicht schicken dürfe. Ich hab’ ihm geantwortet: dass er das gern tun könne, und ein bisschen geflirtet haben wir auch per Post – er hatte eben einen netten Stil. Daraufhin hat er mir einen sehr merkwürdigen Brief geschrieben, mit Foto: ein Mann mit Hut, der ein bisschen aussieht wie Harry Dean Stanton, falls ihnen das was sagt...Paris, Texas, ja?“ – „“Alien, Teil eins!“ ergänzte Gesa mitfühlend. –
„Naja, und obwohl auch dieser Brief freundlich geschrieben war und keine direkten Drohungen enthielt, machte er seltsame Andeutungen, dass er Zauberkräfte besäße und so was...Also, als dann noch die anonymen Anrufe kamen, konnte ich immer weniger schlafen, fühlte mich regelrecht verfolgt und fing irgendwann an, in jeder Rabenkrähe vorm Fenster diesen Kerl zu sehen – es wurde richtig schlimm mit mir. Deswegen war ich bei Herrn Lumosnick. Er hat mir sehr geholfen.“
Gesa staunte. Was es alles gab! „Und wie hat er Ihnen geholfen – ich meine Kügelchen oder Tropfen können einen Zauberer doch nicht wegzaubern?“ – „Nein, aber die Globuli, die er mir gab, sollen mir die Angst nehmen. Außerdem hatten wir ein sehr gutes Gespräch – Herr Lumosnick meinte, egal, ob der Typ ein Zauberer oder bloß ein ganz normaler Spinner ist – er schiene mir ja nichts Böses zu wollen. Wenn ich schlafen gehen will, lege ich in Zukunft einfach den Hörer neben’s Telefon – und den Rabenkrähen werde ich freundlich zuwinken, hi, Harry!“
Die Frauen lachten vergnügt, schwiegen dann eine Weile – das verschlafene Strassendörfchen Hassenhausen kam in Sicht.
Die Schriftstellerin erklärte Gesa, wie sie zum dem alten Holzhaus am Waldrand kam, in dem sie lebte. Auf dem Jägerzaun davor hockte ein Waldkauz unbeweglich. „Da!“, flüsterte die leichenblass gewordene Frau und packte Gesa am Arm. „Das könnte er sein, ich bin mir sicher!“ – Seelenruhig kassierte Gesa erst mal den Fahrpreis, plus zwei Mark Trinkgeld, dann stieg sie aus und öffnete die Tür auf der Beifahrerseite, um ihrem verstörten Fahrgast zu helfen und sie zur Haustür zu geleiten. Als der Vogel die Flügel ausbreitete und direkt auf sie zusegelte, duckte auch Gesa sich und hob schützend die Hände über den Kopf. Die Schriftstellerin schrie auf und zerrte Gesa Richtung Haustür. Die wurde aufgerissen, ehe sie sie erreicht hatten und ein finster blickender Ehemann riss eine Flinte hoch und hätte dem davon schwebenden Waldkauz eine Ladung Schrotkugeln hinterhergeschickt, wenn Gesa nicht losgeschrieen hätte. “He, was soll das werden! Denken Sie doch mal an Ihre Kinder, an die Nachbarn – es ist bald zwei Uhr!“ – „Dem Burschen muss der Garaus gemacht werden, das geht jetzt schon viel zu lange so!“ knirschte der Mann und zog seine zitternde Frau ins Haus. Gesa sah zu, dass sie so schnell wie möglich hier wegkam – die waren ja beide völlig balla-balla, dachte sie.
Doch als sie das kleine Sträßchen vom Waldrand hinunter fuhr in Richtung Landstraße, sah sie auf der rechten Seite einen großen hageren Typen mit schwarzem Cowboyhut laufen – ohne sich umzudrehen, bewegte er sich mit wiegenden Schritten ebenfalls Richtung Landstraße und hob grüßend die Hand, als sie an ihm vorbeifuhr. Mit großen Augen blickte sie in den Rückspiegel, als sie an ihm vorbei war; das Mondlicht fiel auf sein bleiches Gesicht unter der Hutkrempe: die Schriftstellerin hatte Recht. Harry Dean Stanton mit Kippe im Mundwinkel.
Gesa Wohlrath liebte spannende Geschichten, aber sie hatte in Hassenhausen keinen Funkkontakt, und nachdem sie soeben hier heraufgefahren war, ohne einer Menschenseele zu begegnen, kam ihr jetzt nichts Besseres in den Sinn, als Gas zu geben und auf dem schnellsten Wege Uwe in seiner Zentrale aufzusuchen.


Als Gesa die Stadtgrenze erreicht hatte, kam ihr die ganze Geschichte wie ein surrealistischer Traum vor, und sie fuhr zur Zentrale zurück, machte mit Uwe die Abrechnung, ohne ein Wort über ihre Fahrgäste zu verlieren, fuhr mit ihrem eigenen Panda zu ihrer neuen kleinen Mansardenwohnung „Unter dem Gedankenspiel“ in einem ruhigen Randbezirk, kroch in ihr kuscheliges Bett unter der Dachschräge und schlief sofort ein, ohne auf Kater Mäxchen zu achten, der sich schnurrend neben ihr zusammenrollte.

Um halb elf vormittags war Gesa in einer furchtbar exaltierten, aufgeregten Verfassung. Sie drehte den Kassettenrecorder laut auf und sang mit:
„Und wenn der neue streicheln kann, und schöner als der alte,
ja, dann bleib ich bei dem neuen Mann, bevor ich ganz erkalte,
– dann werd’ ich von ihm heiß gestreichelt, bis die Matratzen rauchen – jaja, der Mann, das ist ein Lustobjekt – zu sonst nichts zu gebrauchen!“

Dieser Schneewittchen-Song war sogar noch besser als „Sultans of swing“!
Sie fütterte rasch ihren Kater, rief dann die Freundin an: „Carolin, Mensch, er hat mich angesehen! Endlich! Ich glaube, er hat mich bemerkt – zum ersten Mal seit acht Wochen!“
Als Gesa aus der Dusche gekommen war und sich gerade ihr rotes T-Shirt übergestreift hatte, war der Mann im Haus gegenüber zufällig am Fenster gewesen – der Mann mit den tiefen Schatten unter den Augen, dem ernsten, sinnlichen Mund und dem langen Zopf, den sie seit zwei Monaten heimlich beobachtete. Nie hatte er sie bemerkt, nie zu ihr rüber gesehen – doch heute Morgen hatte sein wacher aufmerksamer Blick sie plötzlich getroffen. „Kalt erwischt“, dachte sie, und zog sich rasch ins Dunkel ihrer Wohnung zurück.
„Vow, was für ein Mann!“, hauchte sie Carolin teeniehaft ins Ohr, und erging sich danach in Schimpftiraden über ihren abgelegten Freund Achim, dem sie den Laufpass geben musste, weil er sich in den Kopf gesetzt hatte, eine eigene Taxizentrale aufzumachen in einem Nest im Norden, sie mit zu nehmen, zu heiraten und eine Familie zu gründen – wie sterbenslangweilig!
Gesa vibrierte vor Lebenslust, wollte sich nicht wegsperren lassen, Kinder hüten und in Achims Taxiunternehmen die Zentralistin machen, wie er sich das vorstellte. Gähn!
Sie hatte ihn zum Teufel gejagt – bzw. zu den Nordlichtern. Seine Eltern wohnten in der Stadt, und sie wusste, dass er sie manchmal besuchen kam und dabei hoffte, sie wieder zu sehen, aber bis jetzt war es zum Glück nicht dazu gekommen. In der kleinen Universitätsstadt war sie die einzige Nachtfahrerin der Firma MiniCar und erledigte diesen Job ziemlich lässig. Was will ich mehr vom Leben, dachte sie.
„Den Mann von gegenüber“, antworteten die Schmetterlinge in ihrem Bauch.
„Sehen wir uns morgen abend?“, fragte Carolin. „Klar – um acht in der TANZ-Werkstatt!“, gab Gesa zurück. Jeden Donnerstagabend waren in der „Werkstatt“ Abtanzparties für „Arbeitnehmer“, früher Beginn – früher Schluss, die von Leuten ab 35 gerne besucht wurden. Es gab ruhige Ecken zum Plaudern und Radler trinken, doch auch die Tanzfläche war von 20 bis 23 Uhr brechend voll. Nicht selten wurden die Dire Straits aufgelegt, aber ebenso Nina Hagen oder Bob Marley. Deshalb war Donnerstag Gesas freier Abend.

Zu Anfang hatten beide noch keine große Lust zu tanzen, und da Carolin immer darauf brannte, lustige oder spannende Taxigeschichten zu hören, zogen die Frauen sich erst mal in eine Ecke zurück, nippten an ihrem Radler und Gesa erzählte, wie sie zu Beginn der gestrigen Schicht eine Fuhre von Rauschenberg, einem Dorf 20 Kilometer außerhalb des Städtchens hatte.
Im Villenviertel, wo die Leute Swimmingpools und Pferdeweiden hatten, sollte sie einen Afrikaner abholen – wie sich herausstellte, mit Dreads bis über die Schultern, athletischer Figur, Reisetasche und – die allerneueste Erfindung, von der Gesa und Carolin nur träumen konnten – einem Mobiltelefon am Ohr.
“Eine zarte Blonde stand am Fenster der Villa und winkte“, erzählte Gesa kichernd, „und er hat die ganze Zeit auf französisch irgendeiner andern erzählt, dass er nicht fremdgeht, dass sie sich nicht aufregen soll, dass er nicht weiß, was sie überhaupt hat...Es war zum Schießen, er log wie gedruckt! Wusste natürlich nicht, dass ich jedes Wort verstehe, aber wahrscheinlich wäre ihm das auch egal gewesen – ich bin ja bloß eine kleine Taxifahrerin!“ – „Wohin wollte er denn?“, fragte Carolin neugierig. Ihr Vater stammte aus Ghana und hatte ihre Mutter verlassen, als Carolin drei war, deshalb war sie an jeder Geschichte über untreue Briquets mehr als interessiert.
„To the s-té-schon“, sagte Gesa mit übertriebenem Akzent. „Und das beste war seine Schauspielerei! Er hat gemeint, er wisse gar nicht, was das für Briefe seien auf seinem Schreibtisch, die müssten von einem Groupie sein, das ihn ‚from backstage’ kennt – zwischendurch sprach er englisch, als könne er sich nicht entscheiden – und sie sei es, die mit ihrer dämlichen Eifersucht die Beziehung zerstört – you’re so destructive! So ein Arschloch!“
Carolin schüttelte seufzend den Kopf. „So sinn’ se, die Typen – egal welcher couleur.“
Sie leerte ihr Glas, stand auf, wackelte mit den Hüften, gerade lief Nina Hagens „New York, New York“ – „jetzt gehen wir in die nächste disco, eine disco nach der andern...“, und Carolin tanzte. Gesa stand auf, fuhr sich mit beiden Händen über die kurzen blonden Haare, die ihr wie ein Helm am Kopf anlagen, und lehnte lächelnd an einer Säule, während die Freundin ihre Locken schüttelte und sich einen Platz auf der Tanzfläche erkämpfte.
Als Gesa nach Hause kam, bewegten sich hinter zugezogenen Vorhängen zwei Schatten im Haus gegenüber.
„Er ist nicht allein!“, dachte sie wütend. Da sie ja meistens nachts nicht da war, hatte sie bisher nicht mitgekriegt, dass der Mann von gegenüber nächtlichen Besuch empfing.

„Unter dem Gedankenspiel 10“, befahl Uwe um halb elf bei Gesas nächster Nachtschicht. „Das ist doch meine Straße!“, schrie Gesa ins Mikro. „Mensch, das ist bei mir gegenüber!“
„Krieg dich ein, Gesa“, erwiderte Uwe, „fahr einfach hin, okay? Der Typ hat’s eilig!“
Gesa war in der Stadtmitte und überfuhr zwei rote Ampeln, um so schnell wie möglich ihr Ziel zu erreichen. Wie erwartet war „Unter dem Gedankenspiel 10“ das Haus gegenüber – wie befürchtet, trat der Mann mit den dunklen Augenringen und dem Zopf im Nacken vor die Tür. Schwarze Cordhose, weißes Hemd, Lederblouson – schick!, dachte Gesa. Er riss die Beifahrertür auf und nahm neben ihr Platz: „Uniklinik, Notaufnahme, aber ein bisschen fix, wenn’s geht!“ – Gesa klappte der Unterkiefer runter. „So...so krank sehen Sie aber gar nicht aus“, stammelte sie. Der Mann warf ihr einen irritierten Blick zu. „Darf man rauchen?“, fragte er. Gesa glotzte fasziniert auf den massiven Silberring an seiner linken Hand, mit der er das Feuerzeug zückte. „Wenn’s der Wahrheitsfindung dient!“ Sie gab Uwe Bescheid und bretterte los in Richtung Klinik.
Die Notaufnahme lag auf einem der bewaldeten Hügel über der Stadt, und als Gesa den Jetta die Landstrasse hochjagte, konnte sie den Blick kaum von dem attraktiven, wenn auch verlebt aussehenden Mann neben ihr abwenden. Der Wagen kam ins Schlingern, und sofort wurde sie angebellt: “Können Sie die Spur nicht halten? Sie sind doch hoffentlich nicht betrunken, oder was?“ – Gesa fühlte, wie ihr Magen ins Rotieren geriet. „Nö, aber wieso...äh, wieso eilt es denn so?“ – „Meine Freundin“, erwiderte der Mann trocken. „Sie ist überfallen worden – im Alten Botanischen Garten. Andere Nachtschwärmer waren noch rechtzeitig zur Stelle, aber jetzt ist sie da oben zur Beobachtung. Hat ‚nen Schock, mehr weiß ich auch nicht. Mönsch, Mädel, jetzt fahr doch mal geradeaus!“
Gesa beeilte sich, die Mitte der Fahrbahn zu erreichen – ihr Mund war trocken, und ihre Gedanken überschlugen sich. Die Abfahrt zur Notaufnahme war plötzlich da, mit quietschenden Reifen bog sie ab.
„Ich kenne Sie“, krächzte sie, bevor der Jetta scharf abbremste. „Weiß ich doch“, erwiderte der Mann von gegenüber ungeduldig. „Unter dem Gedankenspiel 8 – das sind Sie, nicht? Macht ja nix, ich muss hier raus, was kriegen Sie?“ – Nachdem Gesa abkassiert hatte, rief sie dem Mann hinterher: “Moment mal, soll ich nicht besser hier warten? Vielleicht können Sie Ihre Freundin ja gleich wieder mit nach Hause nehmen, und dann wäre es doch nett, wenn schon ein Taxi dasteht!“ Der Mann kam zurück und beugte den Kopf ins Wageninnere.
„Aber nicht mit Ihnen drin, Gesa, vielen Dank“, er zog eine Augenbraue hoch. „Ihr Fahrstil ist mir etwas zu, sagen wir, unkonzentriert – keine Lust, mit Ihnen im Straßengraben zu landen. Ach, und noch was: hören Sie bitte auf, mich von Ihrem Fenster aus zu beobachten, ja? Was auch immer Sie suchen – bei mir finden Sie es ganz bestimmt nicht!“
Er zog den Kopf zurück, drehte sich um und verschwand mit raschen Schritten in Richtung NOTAUFNAHME.
Bevor Gesa sich bei Uwe wieder „Frei“ meldete, rauchte sie hastig eine PS, was sie sonst nie im Taxi machte. Nachdem Uwe ihr eine Fahrt „Zum Alten Friedhof“ aufgebrummt hatte, drehte sie das Radio an. Der neueste Hit von Innercircle schallte ihr entgegen: „Bad Boys, bad boys, watcha gonna do, watcha gonna do,when they come for you...“ – “Witzig”, sagte Gesa laut und zerstrubbelte sich ihr Blondhaar.



Als Gesa am Morgen nach Hause kam, fand sie an ihrer Tür einen Zettel mit der Aufschrift :
„Unvorstellbare Sehnsucht – A.“ und einem gemalten Äffchen, das eine Palme erklomm.
Tränen stiegen ihr in die Augen. Plötzlich hatte sie das Bild ihres langjährigen Freundes vor Augen, mit dem Afro-Look, den großen dunklen Augen und der sanften Stimme – Achim, der typische Softie, von dem frau sich so leichtherzig trennen konnte, weil er einfach zu nett war.
Nett an der Grenze des Langweiligseins. Aber eben nur an der Grenze. Nett genug, um ihn sich als Familienvater und Chef vorstellen zu können. Eigentlich sogar nett genug, um den Rest des Lebens mit ihm zu verbringen, dachte Gesa Wohlrath, wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel und griff nach dem Telefonhörer.

© Susy Clemens, 11/04

Erklärung: Die Orte „Hassenhausen“, „Rauschenberg“ sowie die Strasse „Unter dem Gedankenspiel“ gibt es in Hessen wirklich, der Liedtext ist von der Gruppe „Schneewittchen“, die es wahrscheinlich nicht mehr gibt, Ähnlichkeiten mit tatsächlich lebenden Personen sind aber rein zufällig und nicht beabsichtigt.


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Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
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