Als Gesa Wohlrath eines Morgens aufwachte, fand sie sich in eine Eisverkäuferin des "Gloria-Palasts" verwandelt. Sie rieb sich den Schlaf aus den Augen und blickte sich um. Sie war perplex. Sie lag dahingefläzt in einem plüschigen Kinosessel, auf dem Boden vor ihr eine Kühlbox mit Eiscreme. In ihrem bisherigen Leben als Taxifahrerin war sie stets von vollgekrümelten Autositzen umgeben gewesen, jetzt lag sie inmitten vollgekrümelter Kinosessel. Und wo in ihrem Taxi Rauchverbotsschilder hingen, wiesen links und rechts von der Leinwand Leuchtschilder zu den Ausgängen. Anstelle des vor sich hin dudelnden Autoradios summte hinter der Rückwand ein Filmprojektor.
Gesa schnalzte mit der Zunge. Sie glaubte noch immer nicht, was sie da sah. Dennoch wusste sie instinktiv, dass sie am Anfang eines neuen Lebensabschnitts stand. Der Job als Eisverkäuferin, das spürte sie, lag ihr zehnmal mehr als das Taxifahren. Das Seltsame daran: Es war ihr, als hätte sie jahrelang nichts anderes getan als Eiskonfekt an ungeduldig dem Hauptfilm entgegenfiebernde Zuschauer verkauft. Als wären ihr die lauten Straßen mit ihren abgründigen Verkehrsführungen, Schlaglöchern und Einbahnstraßen grundsätzlich fremd geblieben. Hatte es sie je gegeben, die Zeiten mit zwielichtigen Taxikunden auf dem Beifahrersitz, gut, ein paar Gentlemen, mehrheitlich aber Machos mit unzweideutigen Angeboten? War es Wirklichkeit oder Traum, dass sie neulich drauf und dran war, sich von einem Macho, der seine Rolle überzeugend spielte, abschleppen zu lassen? Praktisch in letzter Sekunde hatte sie sich mit einer Notlüge herausgewunden, als nämlich der Macho verlangte, sie solle ihn "Mäxchen" nennen (der Name "Mäxchen" erinnerte sie fatal an den gleichnamigen Geliebten von Ex-Freund Achim).
Die alten Zeiten – wie weggeblasen! In der Einförmigkeit lag das Glück. Nirgendwo anders als hier wurde sie beherrscht von der Lust, zwischen Kinokiosk und Stuhlreihen berufliche Erfüllung zu finden. Und das alles in fast vollständiger Dunkelheit: Kein Sonnenstrahl verirrte sich in den muffigen Kinosaal, kein Fenster lud ein zu dem elenden Vergnügen, langweiligen Leuten bei langweiligen Verrichtungen zuzusehen.
Gesa fasste den spontanen Entschluss, ihre neue Wohnung zu kündigen, um nur noch im und fürs Kino zu leben und zu arbeiten. Unbegreiflich für sie, dass sie sich jahrelang gequält hatte mit Verkehrsregeln, cleverer Routenfindung, Freundlichkeit gegenüber unfreundlichen Kunden, launigen Mercedes-Getrieben.
Im Halbdunkel des Eisverkaufs konnte sich Gesa als Person zurücknehmen. Kontakte zu Kunden waren flüchtiger als bei endlosen Überlandfahrten, und das schätzte sie. Langeweile, Schmonzettenkino, Kunden ohne Kleingeld reizten sie schlimmstenfalls zu Tränen, Taxifahren nur noch zum Gähnen. Die frühere mobile Hektik, das war nichts als hohler Aktionismus, beruflich sowieso, und privat erst Recht. Stets hatte sich Gesa die Gestaltung ihrer Freizeit von Freundin Carolin diktieren lassen. Die lebte strikt nach der Devise: Party bis zum Umfallen, Abtanzen bis zum Kollaps. Wer da nicht mithielt, trug in diesen Kreisen schnell das Etikett "graue Maus" auf der Stirn.
Aber seit heute Morgen war von Gesa der Zwang gewichen, unbedingt dazuzugehören. Sie stellte sich vor, wie sie nach dem Konfektverkauf erst einmal schlaff in den Kinosessel sinken und – eintauchend in ein Meer von Geräuschen und Farben dort vorn auf der Leinwand – den vollkommenen Seelenfrieden finden würde. Je hektischer die Filmhandlung, desto gelassener ihr Gemüt. Zuschauen, wenn Leinwandgestalten durchdrehten wie Rumpelstilzchen – das würde ihr den Gelassenheitskick verpassen!. Nein, dem hochtourigen Leben von einst weinte sie keine Träne nach. Möge das neue Leben in Müßiggang erblühen!
Blieb nur die Frage, ob denn auch alle Filme, die sie hier zu sehen kriegte, in punkto Gelassenheitskick verlässlich sein würden? Fast alle, da war sich Gesa sicher, nur nicht "Local Hero"! Sie seufzte. "Local Hero" war recht eigentlich ein wunderschöner Film, poetisch, lustig und britisch, da war alles drin, was man von guter Unterhaltung erwartete. Nur eben, dass die Filmmusik von den Dire Straits war, und die konnte Gesa Wohlrath auf den Tod nicht ausstehen! Popmusik als Begleitmusik zu fetzigen Filmen – aber klar doch, jederzeit. Aber bitte nicht von den Dire Straits! Die Vorstellung der ersten Takte des Local-Hero-Themas jagten Gesa einen Schauer über den Rücken, dass es sie schüttelte. Unerbittlich fühlte sie sich erinnert an jene Taxitour an Silvester, als ihr ein sturzbetrunkener Kunde, der - nach minutiöser Schilderung seiner Leerung eines Kasten Biers, den Beifahrersitz vollgekotzt und ihr obendrein mit baldiger Wiederkehr inklusive Curry-Wurst gedroht hatte.
Gegen unerwünschte akustische Überraschungen im Kino sollte es Kopfhörer geben oder Warntafeln mit Mark Knopfler im Frankenstein-Look, wünschte Gesa voller Inbrunst.
Jedenfalls durfte sie nicht unvorbereitet sein! Jäh setzte sich Gesa auf, dass der Kinosessel unter ihr aufstöhnte. Sie nahm sich vor, die neuen Kinozeitschriften ab sofort genau zu lesen. Denn Gefahr war im Anzug, wenn man etwa nach dem Tod des Schauspielers Burt Lancaster den Film "Local Hero" aus der Mottenkiste holen würden, "aus aktuellem Anlass", wie es in solchen Fällen immer hieß.
Weit schwieriger dürfte es werden, wenn Ex-Freund Achim mit Mäxchen, seinem Geliebten, hier aufkreuzte! Carolin würde als Frühwarnsystem ausscheiden; der war die Schwulenszene schon immer fremd gewesen. Gesa musste der Gefahr ins Auge sehen: Urplötzlich würden die beiden Männer vor ihr stehen. Dann konnte sie froh sein, wenn sie vor Schreck nicht gleich in ein insektenhaftes Monstrum switchte, gegen das sich Franz Kafkas Verwandlungs-Käfer wie ein Kuschelteddy ausnehmen würde!
Gesa befand, dass solche Heimsuchungen zum Berufsrisiko einer Kino-Eisverkäuferin zählten. Auch Gelassenheit hatte ihren Preis. Sollte das Unheil doch kommen! Sie würde sich rechtzeitig frei nehmen oder krank feiern. Auch mal Auszeit vom Kino nehmen, warum denn nicht? Es gab noch anderes als Film: zum Beispiel urgemütliche Abende mit Kater Moritz daheim. Der schnurrte immer in tiefsten Frequenzen, wenn sie ihm Krimis vorlas, die noch nicht fürs Fernsehen verfilmt waren.
Grinsend nahm sich Gesa ein Eis aus dem Eisköfferchen neben sich. Zufrieden schleckend ließ sie ihr früheres Leben vor den Augen Revue passieren.
´Damals als Taxifahrerin´, dachte sie voller Genugtuung, ´war mein "Steckbrief" dermaßen fad und konturlos, dass viele Autoren die Tinte nicht halten konnten und über mich schreiben mussten. Hurra, mein neuer Alltag ist nicht bloß fad und konturlos, er ist auch dröge und eintönig! Allons enfants, für euch Schreiberlinge kann das nur heißen: Strengt euch an und bringt eure Stories auf den neuesten Stand!´