Mainhattan Moments
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Susanne Ruitenberg und Julia Breitenöder haben Geschichten geschrieben, die alle etwas mit Frankfurt zu tun haben.
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November 2004
Die Entscheidung
von Robert Stockamp

Die Kommissarin saß auf der Sofalehne und blickte sie an. Hinter ihr stand der dicke Nachbar von Gegenüber. Sie erkannte ihn sofort. Was hatte der in ihrer Wohnung zu suchen? Zwei Polizisten standen bei ihm. Auf dem Sessel saß ihre Freundin Carolin und heulte.
„Gesa Wohlrath, 39; Taxifahrerin“, sagte einer der Beamten. Sie setzte sich auf. „Ja, das bin ich. Was ist denn hier los?“ Sie fühlte sich benommen und legte sich wieder hin. Niemand reagierte auf sie. Nur ihr Kater Mäxchen kam aufs Sofa gesprungen. Er schnurrte und schmiegte sich an sie.
„Sie können dich nicht hören, Schätzchen“, sagte die Kommissarin. Sie schien zu flimmern.
Gesa versuchte, den Nebel aus ihren Gedanken zu verscheuchen. Sie fühlte sich wie ausgepresst. Einen derartigen Kater hatte sie noch nie gehabt. Sie hatte wohl viel zu viel getrunken. Sie betrachtete die Kommissarin genauer. Das war Klara Rothe aus ihrem Lieblingsfernsehkrimi.
„Was ist hier los?“, murmelte Gesa.
Die Kommissarin lächelte spöttisch. „Schau doch mal auf den Tisch. Was denkst du, wonach das aussieht, Baby?“.
Gesa drehte langsam den Kopf. Eine leere und eine halbvolle Flasche Whisky. Der Kerzenständer war umgefallen. Es war ein besonders schönes Stück. Sie hatte es von ihrer Oma geerbt. Papiere lagen durcheinander. Ein zerrissener Brief. Pillen überall verteilt auf dem Tisch. Drei leere Dosen: Aspirin, Johanneskraut – Schlaftabletten.
Sie versuchte sich noch einmal aufzusetzen. Ihr war ein bisschen schwindlig, aber dieses Mal ging es besser. Sie starte auf die Schmerztablettendose. Erinnerungen kamen wieder; schmerzvoll.
Sie war mit Carolin ausgegangen. „Komm schon, du musst mal wieder auf die Piste“, hatte ihre Freundin gesagt. „Du kannst dich nicht ewig verkriechen. So kommst du nie über Achim weg.“
Achim – 14 Jahre waren sie zusammen. Dann hatte sie ihn erwischt mit einer Anderen. Die Welt, wie sie sie kannte, zerbrach im Bruchteil einer Sekunde. „Ich wollte es dir sagen“, erklärte Achim. „Ich hatte bloß den Mut nicht gefunden.“ Sie sah sein Gesicht wieder vor sich. Rennen, nur weg.
Sie waren früh wieder zu Hause. Carolin hatte sich alle Mühe gegeben, aber es half nichts. Gesa wollte nur allein sein. Sie holte sich den Whisky aus der Bar. Die CD war noch im Spieler. Lied Nummer zwei, repeat one. „Romeo And Juliet“, Dire Straits. Das war ihr Lied gewesen. All die Jahre.
„... something like you and me baby, how about it?“, sang Mark Knopfler in diesem Moment. Die verdammte CD lief noch immer. Sie setzte Mäxchen auf die Erde und wankte zur Stereoanlage. Die Katze wich nicht von ihrer Seite. Sie drückte auf Stop. Ihre Besucher sahen verwundert in ihre Richtung.
„Was?“, sagte Gesa.
Die Kommissarin stand auf und stöhnte. „Sie können dich nicht hören, sie können dich nicht sehen.“
Gesa streichelte ihren Kater. „Aber Mäxchen ...“
Die Kommissarin verdrehte ihre Augen. „Katzen haben mehr als fünf Sinne. Im Grunde bist du gar nicht hier.“
„Das ist nicht möglich“, hauchte Gesa.
„Ach ja? Dann wirf doch mal einen Blick auf die Straße.“ Gemeinsam gingen sie zum Fenster. Gesa sah einen Notarztwagen und ein Sanitätsfahrzeug. Das Blaulicht huschte an den Häuserwänden lang. Sanitäter kamen aus dem Haus mit einer Bahre. Auf der Bahre lag – sie!
Sie sah noch einmal auf den Tisch. Die Schlaftabletten. Sie hatte in kürzester Zeit jede Menge Whisky getrunken. Sie war benebelt, aber die Schmerzen wollten einfach nicht weggehen. Knopfler sang: „And all I do is miss you and the way we used to be.“ Sie ging ins Badezimmer und holte alle Medikamente raus. Dann saß sie auf dem Sofa und starrte auf die Pillendosen. Macht doch bitte, bitte die Schmerzen weg.
„Bin ich tot?“, fragte sie die Kommissarin.
„Noch nicht ganz. Du kannst von Glück sagen, dass der Dicke gespannt hat und deine kleine Freundin ihr Handy hier vergessen hat.“
Gesa wurde übel. „Was soll ich jetzt tun?“
Die Kommissarin setzte ein mütterliches Lächeln auf: „Das einzig vernünftige, Schätzchen. Lebe weiter.“
Gesa dachte nach. Was für ein Leben denn? Jeden Tag stundenlang mit dem Taxi auf der Straße. Nichts, worauf sie sich hinterher freuen konnte. Außer Mäxchen vielleicht. Und die schöne neue Wohnung. Sie hatte sie genau so eingerichtet, wie es ihr am Besten gefiel. Aber was bedeutete das? Nichts konnte sie von den Schmerzen befreien. Sie fühlte sich unwohl im Moment, aber auch irgendwie frei – anders auf jeden Fall.
„Aber vielleicht will ich gar nicht weiterleben ...“
„Ach Unsinn.“ Die Kommissarin wurde wütend. „Du hast einen besonders schlechten Abend gehabt, weiter nichts.“
War das wirklich so? Natürlich, da war immer eine Chance. Sie würde eines Tages darüber hinweg kommen. „Habe ich die Wahl?“
Die Kommissarin flickerte kurz wie bei einer Bildstörung. Ihre Gesichtszüge verrieten Zorn. „Was heißt die Wahl? Glaubst du, es ist richtig, sich einfach davon zu schleichen? Werde vernüftig, Schätzchen. Selbstmord ist kein Ausweg. Sei nicht so pathetisch.“
Jetzt wurde Gesa wütend. „Ach ja? Und was geht dich das an? Das ist mein verdammtes Leben, und ich kann damit machen, was ich will!“ Sie rannte durchs Zimmer. Der Nachbar und die Polizisten waren mittlerweile im Flur verschwunden. Nur Carolin stand noch im Wohnzimmer und blickte verzweifelt auf den Tisch.
Die Wut machte sie hellwach. „Verdammt nochmal. Ich will wenigstens einmal in meinem Leben selbst entscheiden. Wenn ich ein Recht auf Leben habe, habe ich auch ein Recht auf Tod.“
„Oh, aber natürlich“, antwortete die Kommissarin schnippisch. „Selbstverständlich hast du die Wahl. Aber du weißt doch selbst, dass es im Grunde nur eine richtige Entscheidung gibt.“
Gesa schaute sie mit giftigen Blicken an. „Miss Moral, ja? Und wenn ich einfach keinen Bock mehr auf die ganze Scheiße hab? Was dann? Willst du mich aufhalten?“
Die Kommissarin schritt langsam auf sie zu. Das Flickern wurde stärker. „Ich gebe dir die Chance, es noch einmal zu versuchen. Sieh her.“ Sie kramte in ihrer Jackentasche und holte zwei Umschläge hervor. „In jedem Umschlag ist ein Ticket. Das eine ist die Eintrittskarte zurück ins Leben. Das andere ist für die entgegengesetzte Richtung.“
Gesa starrte auf die Umschläge. Vielleicht sollte sie es doch nochmal versuchen? Die Kommissarin hatte ja Recht. Das Leben könnte besser werden. Auf der anderen Seite könnte es auch die Hölle bleiben. Aber was kommt danach? Jetzt fühlte es sich gut an. Aber sie war ja auch noch gar nicht richtig tot. Oder belog die Kommissarin sie?
Klara Rothes Erscheinung wurde immer verzerrter. Ein weißes Krisseln legte sich über ihren verformten Körper. „Nun greif schon zu, du blöde Gans!“
Gesa geriet in Panik. Was sollte sie nur tun? Was nur? Was? ...- WAS?
Die Kommissarin löste sich auf. Die Umschläge segelten dem Boden entgegen. Blitzschnell griff Gesa zu.

Robert Stockamp

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
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