Das alte Buch Mamsell
Das alte Buch Mamsell
Peggy Wehmeier zeigt in diesem Buch, dass Märchen für kleine und große Leute interessant sein können - und dass sich auch schwere Inhalte wie der Tod für Kinder verstehbar machen lassen.
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Dezember 2004
Links von der Apokalypse
von Birgit Erwin

„Das ist nicht der richtige Weg“, zeterte die Pest. „Ich habe dir gleich gesagt, dass das nicht der richtige Weg ist.“
„Stimmt“, sagte der Tod.
„Wir hätten links abbiegen müssen.“
„Wir sind aber rechts abgebogen“, sagte der Tod. „Davon wird die Welt nicht untergehen.“
„Eben“, murmelte der Krieg finster.
Als der Tod ihn ausdruckslos anstarrte, fiel ihm auf, dass das vielleicht ein Witz gewesen war. Er zuckte die Achseln und tätschelte seinem roten Schlachtross den Hals.
„Und was machen wir hier?“
Auch die Hungersnot war inzwischen bei den anderen angelangt. In stolzer Viererphalanx standen sie da, die Pferde schwarz, rot, weiß und fahl und unsichtbar für die Menschen, deren Aufmerksamkeit allein dem Schauspiel galt, das sich vor ihren Augen abspielte.
„Ich muss jemanden abholen“, sagte der Tod.
Seine Worte klangen angemessen endgültig, aber natürlich konnte die Pest den Mund wieder nicht halten.
„Und was ist mit der Apokalypse? Wir sind für das ganze Universum verantwortlich“, keifte sie. „Lichtjahre von hier wartet eine Welt darauf unterzugehen, aber der Herr Tod macht einen Alleingang. Und warum? Um irgendein sterbliches Individuum abzuholen.“
„Ich glaube nicht, dass sie wirklich darauf wartet unterzugehen“, sagte die Hungersnot und kratzte sich am Kopf.
„Wie bitte?“
„Die Welt“, erwiderte die Hungersnot. „Ich bin sicher, wenn wir sie fragen würden, würde sie lieber nicht untergehen …“
„Ach, halt die Klappe, Diät!“, fauchte die Pest. „Und was dich angeht…“, wandte sie sich wieder an den ausdruckslos vor sich hinstarrenden Tod, „wir werden Ärger kriegen!“
Zum ersten Mal huschte ein Grinsen über das Gesicht des Krieges.
„Wahrscheinlich“, bemerkte er erfreut. Dann richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf das Spektakel zu seinen Füßen. „Dann setz uns mal ins Bild. Was zum Teufel geht da unten vor sich?“
„Olympiade.“
Als er nur leeren Blicken begegnete, seufzte der Tod. „Mal ehrlich, man sollte meinen, ihr hättet nach der ganzen Zeit davon gehört. Ich geb euch einen Tip: Es hat mit Sport zu tun.“
„Sport?“ Das rote Pferd des Krieges bäumte sich auf. „Sport? Wo die nur so tun als ob? Mit … mit stumpfen Degen und so? Und hier schleppst du mich hin?“
„Sicher gibt es Fressbuden!“, stöhnte die Hungersnot. „Ekelhaft!“
Nur die Pest entspannte sich. Doch sie kam nicht mehr zu ihrem Vortrag über Doping, denn in diesem Augenblick bemerkten sie, dass der Tod nicht mehr an ihrer Seite war.
„Wo …?“
„Was …?“
„Da vorne!“ Sie sahen die Sense ein letztes Mal über den Köpfen der Zuschauer aufblitzen und verständigten sich mit einem Blick. Schließlich fasste der Krieg in Worte, was alle dachten.
„Wir sollten ihm nachgehen. Er hatte diesen Ausdruck in den Augen.“
Die Hungersnot nickte düster. „Cherchez la femme.“
„Häh?“
„Cherchez la femme.“
„Sag mal, weißt du überhaupt, was das heißt?“
„Ach, halt einfach den Mund“, fauchte die Hungersnot und gab dem schwarzen Pferd die Sporen.

Der Tod trat lautlos ein. Er mochte seine Kollegen. Ãœber eine Zeitspanne von Jahrtausenden konnte das wahrscheinlich gar nicht ausbleiben, aber manchmal gingen sie ihm auf die Nerven. Sie konnten ihn nicht verstehen. Er konnte sich ja selber nicht verstehen. Wie schon so oft wiederholte er die Worte, die ein Dichter ihm vor langer Zeit in den Mund gelegt hatte, ohne zu wissen, wie nahe er der Wahrheit gekommen war:
„Gib deine Hand, du schön und zart Gebild!
Bin Freund, und komme nicht, zu strafen.
Sei guten Muts! Ich bin nicht wild,
Sollst sanft in meinen Armen schlafen!“
Der Tod und das Mädchen, nur dass sie kein Mädchen gewesen war sondern eine junge Frau voller Geist und Lebenskraft. Noch immer wagte er nicht, dem Gefühl, das ihn an diesem einen Totenbett geschüttelt hatte, einen Namen zu geben.
Er blieb an dem Bett stehen und starrte auf das bleiche Gesicht hinunter. Das also war ihre Urenklin. Die Züge sahen anders aus, aber das Gefühl erkannte er unweigerlich wieder. Es war wie ein verstörender Blitzstrahl in der kalten Unendlichkeit seiner Existenz.
Er suchte ihren Blick, aber noch konnte sie ihn nicht sehen. Ihre Hand zuckte über das Laken, bis sie sich um die fleischigen Finger eines Mannes krallte, der an ihrem Bett saß. Der Tod starrte ihn wütend an, aber der Kerl fühlte nicht, dass er störte.
„Bitte …“, flüsterte das Mädchen. „Ich muss gesund werden.“
„Das wirst du auch. Wir bringen dich ins Krankenhaus und …“
„Nein, ich muss doch nachher an den Start! Verstehst du das denn nicht? Ich muss! Das ist die verdammte Olympiade! Ich habe hart gearbeitet! Glaubst du, ich bleibe wegen einer blöden Lebensmittelvergiftung im Bett?“
„Inge, nicht nur du bist betroffen. Die halbe Equipe ist krank! Horst, Peter und Wolfgang. Glaubst du etwa …“
„Das ist mir egal! Ich muss antreten!“
Die blauen Augen waren stahlhart, aber ihr Körper versagte. Zitternd vor Wut und Schwäche brach sie in wütendes Schluchzen aus.
„Es ist die Chance meines Lebens!“, keuchte sie. „Wenn du nur einen Funken Gefühl hast, lässt du mich antreten!“
Der Tod taumelte zurück. Er wusste, dass er nicht gemeint war. Nicht wirklich.
Oder doch?

Krieg, Pest und Hungersnot erwarteten ihn im Stall, in dem er sein fahles Ross zurückgelassen hatte. Die sterblichen Pferde hatten sich mit rollenden Augen in die Ecken ihrer Boxen gedrängt, um so viel Abstand wie möglich zwischen sich und die vier Rösser zu bringen, die neugierig das unbekannte Futter probierten.
„Können wir gehen? Hast du sie geholt? Äh … oder ihn, natürlich“, setzte der Krieg hastig hinzu. „Ich weiß ja nicht, wer …“ Seine Stimme erstarb.
„Nein“, sagte der Tod. „Und ich werde es auch nicht tun.“
Die drei sahen einander an wie verschreckte Kinder
„Aber das darfst du nicht.“
„Ich bin der Tod. Wer sollte mich daran hindern?“
Darauf wussten sie keine Antwort.
„Es ist trotzdem falsch“, sagte die Pest lahm. „Nur weil du dich vor hundert Jahren oder so in dieses Mädchen ver…“
Sie brach mit einem Aufjapsen ab, als der Krieg ihr mit aller Kraft auf den Fuß trat. In den Augenhöhlen des Todes flammte es auf.
„Ich bin nicht …!“
„Natürlich nicht!“ Die Pest hüpfte mit schmerzverzerrtem Gesicht herum. „Was immer du sagst. Aber du kennst die Regeln. Wenn ihre Zeit abgelaufen ist, dann ist sie abgelaufen. So ist es nun mal.“
„Aber ich will, dass es diesmal anders ist.“
Der Tod klang hilflos. Es war ein entsetzlicher Ton. Er fühlte, wie der Sand ihrer Zeit über seinem Herzen verrann.
„Wo liegt denn das Problem?“, fragte der Krieg beinahe sanft. „Dir muss doch klar sein, dass du und sie … dass ihr nicht … Sie ist ein Mensch!“
„Sie ist Reiterin. Und sie hat diesen Traum. Sie hat mich gebeten … bin ich so mächtig und sollte ihr diesen Wunsch nicht erfüllen können?“
„Nein, das kannst du nicht.“
Der Krieg sah zu, wie sein Ross eine der Stuten in die Ecke drängte und enthusiastisch beschnupperte.
„Aber ich glaube, ich habe eine Idee.“

„Gewonnen! Gewonnen!“ Der Krieg machte wilde Siegergesten, als er das letzte Hindernis nahm. Die Zuschauer johlten.
„Ein phantastischer Durchgang!“ Die Stimme des Reporters überschlug sich vor Begeisterung. „Fehlerfrei! Und diese Zeit! Es ist beinahe unglaublich!“
„Es klappt!“, sagte die Hungersnot zufrieden. Sie zeigte dem Krieg ihren hochgereckten Daumen. Dann kicherte sie. „Die Illusion hält, die halten uns tatsächlich für Menschen. Was ist mit den … den Kranken?“
„Sie schlafen“, sagte der Tod tonlos. „Und die, die überleben, werden sich an nichts erinnern. Sie werden glauben, geritten und dann krank geworden zu sein. Und sie …“
„Es ist besser so.“
„Vielleicht!“
Das rote Ross kam schnaubend zum Stehen.
„Leute, das war unglaublich!“ Der Krieg grinste über das ganze Gesicht. „Hab ich einen Spaß gehabt. Als ich diesen Kerl in den Wassergraben gedrängt habe …“
„Military gehört sowieso verboten“, meckerte die Pest leise. „Außerdem hast du geschummelt, als wir vorhin ausgelost haben. Jawohl, geschummelt hast du! Blödes Dressurreiten, blödes.“
„Nur weil du gepatzt hast.“
„Hallo? Es ist ja nun nicht so, als ob ich das schon mal gemacht hätte?! Rumtänzeln gehört nicht unbedingt zu meinen Aufgaben!“
Der Tod schwang sich auf sein Pferd. Er konnte nur daran denken, wie der goldene Sand verrann.
„Ich muss raus.“ Ein sonderbares Gefühl überkam ihn. „Wünscht mir …“ Er suchte nach dem richtigen Wort. „… Glück.“

Die Stille, die ihn begrüßte, war Nerven zerfetzend. Der Tod hatte geglaubt, jede Art zu kennen. Er war der Herr der Stille, doch diese traf ihn wie ein Schlag vor den Kopf. Sie war weder friedlich noch drückend, sie vibrierte vor Spannung.
Sie war lebendig.
„Am Start jetzt Inge Wagner für Deutschland“, klang die Stimme aus dem Lautsprecher.
Bis zuletzt rechnete der Tod mit einem hysterischen Aufkreischen, mit einem Blick, der den Mummenschanz durchschaute. Aber es kam nichts. Sie sahen, was sie sehen wollten. Nur die Sterbenden erkannten die Wahrheit. Und doch hatte er sich damals in das Leben verliebt, in den Duft ihres Haares und den Glanz ihrer Augen. Sanft klopfte er seinem Pferd den Hals.
„Gib dein Bestes, alter Junge.“
Der Sand gab unter den Hufen nach. Für ein Wesen, das gewohnt war, über Wolken zu galoppieren, war es beinahe vertraut. Das fahle Ross stellte die Ohren auf und schnaubte sachte. Sein Schweif peitschte. Noch immer füllte die Stimme des Reporters das Schweigen.
„Wenn es einen fehlerfreien Ritt gibt, dann ist der deutschen Equipe die Goldmedaille nicht mehr zu nehmen. Alles hängt nun an dieser jungen Reiterin. Es ist ein unglaublicher Druck, der auf ihr lastet. Ich kann mir kaum vorstellen, was ihr in diesem Augenblick durch den Kopf gehen mag.“
Der Tod fühlte den feinen Lebenssand rieseln. Er hatte keine Zeit mehr.
„Los, Junge“, flüsterte er noch einmal.

Irgendwann trug ihn der Jubel der Zuschauer. Sie waren von ihren Sitzen gesprungen und klatschten frenetisch. Der Tod sah ihre Gesichter wie durch einen Schleier. Er verstand nicht, was gerade geschah, aber er ahnte, dass es einmalig war. Er flog über den Wassergraben und fühlte, wie ihm der Sand um die Ohren spritzte. Für alle musste es so aussehen, als ob eine stolze junge Frau auf dem Pferd saß und ihrem Jahrhundertsieg entgegenflog, aber er wusste es besser, er und die drei Gestalten, die hinter der Bande auf ihn warteten. Er fühlte die letzten kostbaren Krümel durch den Hals der Sanduhr gleiten und ritt schneller.

Der Tod sprang vom Pferd und schüttelte die Hände ab, die sich nach ihm ausstreckten, um ihm zu gratulieren. Rücksichtslos bahnte er sich einen Weg nach draußen. Dort konnte er sich endlich in Unsterblichkeit und Macht kleiden. Eine Sekunde später stand er neben ihrem Sterbebett. Das schlafende Gesicht war bereits gezeichnet. Der Tod hob die knochige Hand und strich ihr über die Augen. Mit einem leichten Seufzen hob sie die Lider. Ihr Blick wurde starr.
„Nein …“, stammelte sie. Sie hatte ihn erkannt. Es war so weit. „Nein, bitte …ich muss …“
„Du hast gewonnen“, sagte der Tod sanft. „Olympisches Gold.“
„Habe ich?“
Er nahm ihre Hand.
„Du warst wunderbar, Inge.“
Noch nie hatte er einen Sterbenden mit seinem Namen angesprochen. Warum auch? Er hatte nicht geahnt, dass es süß schmecken würde, süß und bitter. Das letzte Sandkorn fiel.
Drei Schatten tauchten hinter dem Tod auf. Sogar die Pest hatte nichts zu sagen.
Schließlich berührte der Krieg seine Schulter.
„Wenn wir uns beeilen, kommen wir noch pünktlich zur Apokalypse. Oder doch ziemlich pünktlich“
„Nein.“
„Auch gut. Hey, du hast ihr einen Olympiarekord geschenkt. Und was für einen. So paradox es klingt, auf eine gewisse Weise hast du ihr Unsterblichkeit gegeben.“
Der Tod fuhr herum. In seinen Augenhöhlen flammte es auf, dann ließ er den Kopf sinken. Er warf einen Blick auf ihre blasse Hülle, und zum ersten Mal wurde ihm bewusst, wie lang die Ewigkeit war.
Draußen hörte er bereits die Stimmen der anderen.
„Hey, Diät …“
Die Hungersnot konterte mit einem bissigen: „Ja, Wolfgang?“
Der Tod ließ ihre kalten Finger los und schlug die Hände vor das Gesicht.
„Es gibt keine Unsterblichkeit. Sie hat keine Tochter.“

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