Der Cousin im Souterrain
Der Cousin im Souterrain
Der nach "Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten" zweite Streich der Dortmunder Autorinnengruppe "Undpunkt".
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Dezember 2004
Way out
von Thom Delißen

Niemand hatte es ihm damals erklären können.
Kein Mensch hatte überhaupt Zugang zu ihm gehabt.
Er hatte keinen Vertrauten, dem er die Ängste und die Pein realistisch vor Augen führen hätte können.
Dieses diffuse Gebilde, dieser Knoten, diese Verschlingung von Umständen, Gefühlen, Schmerzen, Unzulänglichkeiten.
Sie war so dicht, gleichzeitig aber verschwommen und nahezu unsichtbar, war so überlebensgroß, so diffizil – dass da kein Lebender zu finden sein könnte, es wahrhaftig zu verstehen.
Er sah diese Sekunden, die sein Leben so entscheidend verändert hatten, immer wieder vor sich. Vor allem in den langen schlaflosen Nächten, in denen sich sein Gehirn verzweifelt bemühte, Nervenbahnen zu aktivieren, die schon lange ein totes Geleis in der Wüste waren.
Da war dieses Stadion, dieses riesige Stadion.
Gefüllt mit Abertausenden von aufgewühlten Menschen.
Die Scheinwerfer, die Fernsehkameras.
Dort drüben, keine 10 Meter entfernt seine Teamkollegen.
Auch sie machten sich warm, dehnten ihre Muskeln, wie er es tat.
Es galt, die Medaille zu holen.
Heute.
Jetzt.
Den Ruhm zu erlangen, ihn zu konservieren.
Er spannte die Oberschenkel, bis sie schmerzten, ebenso die Waden.
Er drehte den Rumpf, lockerte die Schultern- und Nackenmuskulatur.
Du bist gut!
Kurz vermeinte er, den säuerlichen Geschmack eines Krampfes im Handgelenk zu verspüren.
Das Gefühl verschwand, der Krampf entstand erst gar nicht.
Du bist der Beste!
Ein Ruf des Trainers.
Mit routinierten Bewegungen übernahm er die Sprungstange aus Fieberglas, etwa 5 Meter lang, vielleicht 5 Kilo schwer.
Er balancierte sie aus, seine behandschuhten, mit Talkumpulver geweißten Hände umfassten den Stab, suchten festen Griff in der Wickelung aus Leinen.
Fast tänzelnd trat er an die Startlinie.
Sein Herzschlag beschleunigte sich, wie ein kleines Erdbeben fühlte er das Adrenalin in seinem Blutkreislauf wallen.
Er stand hier, einer von wenigen, die Augen von Millionen Zuschauern an den Fernsehern auf ihn gerichtet.
Federnd trat er den Sand der Anlaufstrecke, setzte seine Füße fest in den Boden des Stadions.
Nun wollen wir es wagen und gewinnen!
Er atmete tief, bis auf das Zwerchfell, aus, und pumpte dann, mit gewölbtem Mund, Luft in seine Lungen.
Die Verwandlung der Eins zur Null auf der digitalen Anzeige registrierte er wie einen Startschuss in seinem Gehirn.
Er sprintete los, die dreißig Meter entfernte, in Höhe von 6,50 Metern aufgelegte Latte vor Augen.
Wie ein Speer mutete die Sprungstange an, wie ein Gott im Kampf mit Göttern, so fühlte er sich.
Der Bewegungsablauf automatisch, unzählige Male und nochmals geübt, trainiert, einstudiert.
Nun!
Das Ende des Sprungstabes in den Sand, weiter noch nach vorne,- den Augenblick der größten Spannung – Sekundenbruchteile – abwarten.
Jetzt!
Federn, springen.
Die Schwerkraft übertölpeln!
Er fühlt sich fliegen, schweben, hoch über den Zuschauerreihen.
Dort die Messlatte, jetzt abstoßen, die wenigen Zentimeter, die fehlen, mit äußerster Aggression erkämpfen.
Und da, er fühlt den Schmerz, schmeckt ihn, spürt ihn, schreit.
Das rechte Handgelenk. Der saure Krampf.
Der Arm vollkommen nutzlos.
Er fällt unkontrolliert, streift die Konstruktion, ein Klumpen nasser Lehm.
Ein Schrei der Zuschauer, wie aus einem Mund.
Er hört ihn noch.
Er fällt.

Viel später.
Mit unendlich sanftem, zärtlichem Pinselstrich ein wenig Schatten in den blauen Himmel, so fein, so feenhaft.
Er blickt es an, das Bild, voll Stolz und Zweifeln, sucht die Ganzheit zu erhaschen.
Und findet sie.
Das Werk, es zeigt den finstren Wald, in dem der Wanderer sich wohl verirren mag, der Richtung bar, ins straucheln kommt.
Gehalten von der Büsche Dornen, fernab vom holden Sonnenschein, wo die Gedanken dunkle Mäntel tragen.
Doch dort der Fluss, der Bach.
Frohlockt mit munterem Geplätscher, läuft hin zum Horizont zum Ende jenes grauen Weges.
Vieltausendfach gespiegelt hier, die Strahlen hellen Lichts.
Ein Lachen, mehr das wunderschöne Lächeln eines jungen Mädchens, scheint zu flimmern über schneebedeckten Bergen, dort wo des Menschen Unzulänglichkeit ein ruhiges Lager wohl zu finden mag.

Der Maler legt den Pinsel aus dem Mund, befiehlt dem Rollstuhl, der Maschine, zurück zu fahren bis zum Tisch.

Wahrhaftig, des Menschen Kraft und Geist und Kreativität ist ohne Grenzen und sucht sich selbst im Quell der Universen.


TD 2004

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
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