Ganz schön bissig ...
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Dezember 2004
Du fliegst
von Albertine Sprandel

Mir war klar, dass ich das Rennen versiebt hatte. Vielleicht sogar die ganze Saison. Das absurde daran war, dass es mir gut ging.
So gut wie schon lange nicht mehr. Ich fühlte mich „erfüllt“, so komisch das klang. Oder betrunken, obwohl ich das bis dahin noch nicht oft erlebt hatte.
Wulf, mein Vater, half mir wie immer die Skier auf das Autodach zu schnallen. Er sprach kein Wort, während ich die Schuhe wechselte und während er mechanisch den Geländewagen startete.
Wir fuhren die zwei Kilometer von der Talstation zum Dorf durch zwei hohe Schneewände. Ab der Abzweigung zu unserem Haus war die Straße weiß. Es knirschte. Das Schweigen meines Vaters war mir nur recht. Sicher war er enttäuscht und verletzt.
„Egal. Egal.“ Redete ich mir ein.
Erst in der Küche, während wir die feuchten Handschuhe, Mützen und Hosen zum trocknen auslegten, stellte er seine Frage. Beiläufig und verständnisvoll.
„Was ist eigentlich passiert oben auf dem Berg?“
“Nichts.“
“Irgendetwas muss doch passiert sein.“
“Nein, nichts.“
Wulf ging in der Küche auf und ab. Unser Küche war geräumig. Sie war im typischen Bauernhausstil eingerichtet, nur der wintergartenähnliche Anbau und der Korkfußboden machten sie großstädtisch.
“Man versiebt nicht ohne Grund drei Läufe an einem Tag, Mattis.“ Wulfs Stimme klang gedrückt, aber ich wollte dieses Erlebnis nicht erklären.
Mama saß am Küchentisch und hackte Knoblauch. Sicher hatte sie das Rennen über das Lokalradio verfolgt und wusste Bescheid.
„Lass ihn doch.“ Sonst mischte sie sich nie in unsere Gespräche über Sport ein. Jetzt machte sie meinem Vater sogar ein Zeichen. Er sollte sich beruhigen, nicht darüber reden. Ich hasste solche Signale. Als ob ich ein kleines Kind sei.
„Fehler kann man machen. Aber man muss daraus lernen. Und dazu muss man sie analysieren. Sofort! Nicht erst Gras darüber wachsen lassen.“
Mein Vater blieb stehen. Er sprach lauter.
“Du wolltest doch die Qualifikation schaffen. Du wolltest ganz oben mit fahren. Seit du vier Jahre alt bist, willst du jedes Rennen gewinnen. Erster sein! Letztes Jahr bist du deutscher Juniorenmeister geworden!“
“Er hatte einen schlechten Tag.“ Mama stand auf und begann den Tisch zu decken. Sie trug ihre verschmierten Malerhosen.
„Einen grottenschlechten Tag! So fliegt er raus aus der Jugendauswahl!“ Jetzt schrie Wulf.
„Wer Hochleistungssportler werden will, muss sich so weit im Griff haben, dass er in der Spur bleibt! Das kann ich von einem sechzehnjährigen Jungen verdammt noch mal verlangen!“
Ich fühlte mich zurückversetzt in mein erstes Grundschuljahr. Im Zeugnis stand: ‚Mattis ist entweder verträumt oder ehrgeizig. Erst macht er seine Aufgaben mit Feuereifer; dann verliert er plötzlich jedes Interesse.“ Wulf und Mama stritten stundenlang über diese Bemerkung.
Sie stellte die Töpfe mit dem Abendessen auf den Tisch.
„Es war sicher keine Absicht.“
„Keine Absicht?“ Wulf ließ sich auf einen Stuhl fallen. „Dreimal hintereinander einfach die abgesteckte Spur verlassen. So blöd kann man nicht sein.“
„Jetzt lass ihn. Er soll erst mal etwas essen.“
Ich hatte genug. Ich ging in mein Zimmer.


Ups saß schon im Sessel und verpestete die Luft mit seiner Pfeife. Das war typisch für meinen Großvater. Er war immer in meinem Zimmer, wenn ich Streit mit meinen Eltern hatte. Aber an diesem Tag konnte ich ihn nicht gebrauchen. Ich wollte mich an das Gefühl erinnern, wie es war, mich zu lösen und frei durch den Schnee zu fliegen.
Ups nahm eine CD von dem Haufen vor der Anlage.
„Weißt du,“ murmelte er „ich finde die Bilder hier schöner, als die Musik, die du immer hörst.“
„Weil nur die Bässe durch die Wände dringen. Das habe ich dir schon tausendmal erklärt. Ich spiele dir mal meine Lieblings- CD vor. Demnächst.“
“Deine Musik verstehe ich nicht, aber heute auf dem Berg, da habe ich dich verstanden.“
„Du warst oben?“
“Die Qualifikation lass ich mir doch nicht entgehen. Wie war das Fliegen?“
Ich war von den Socken.
„Was soll ich machen? Die schmeißen mich wahrscheinlich raus.“
„Pass auf Mattis. Ich erzähle Dir jetzt eine Geschichte.“
Mein Großvater legte die CD zur Seite, nahm einen kräftigen Zug aus der Pfeife und blies den Rauch in langsamen Stößen aus. Ich konnte nicht anders, und setzte mich auf mein Bett.
„Ein Zitronenfalter und ein Steinadler treten zum Wettfliegen an.
Sorgfältig helfen alle bei den Vorbereitungen. Die Schiedsrichter berechnen die Geschwindigkeitsfaktoren proportional zur Gesamtgröße. Sie flaggen die Flugstrecken aus, kennzeichnen Hindernisse und nennen die notwendigen Flughöhen nach Größe und Gewicht.
Hochkonzentriert bereiten sich die beiden Flieger vor. Mit leichten Flügelschlägen trimmen sie ihre Muskeln. Mit Atemübungen sammeln sie ihre Energie.
Die Spannung erreicht die letzten Grasbüschel.
Der Startschuss fällt.“
Ups machte eine Pause und sah mich an. Wie um zu fragen, was meinst du? Wer gewinnt den Wettkampf. Ich liebte seine Art zu erzählen.
„Der Steinadler schießt hoch. Raketengleich schneidet er mit eleganten Flügelschlägen durch die Luft.
Gleichzeitig hebt der Zitronenfalter ab. Flink, hin und her wedelnd schwebt er über den Boden. Um die Margerite herum, über den Hügel herüber, durch die Zweige durch.
Der Steinadler verschwindet in den Bergen um sekundenschnell wieder aufzutauchen und zum Ziel zu rasen. Er ist der schnellste, der Größte, der Gewaltigste. Er legt eine enorme Strecke zurück ohne seine majestätische Haltung zu verlieren. In diesem Augenblick geht er in den rasenden Sinkflug über.
Der Zitronenfalter zögert. Er hat einen Hahnenfuß entdeckt. Der strahlt ihn an, lockt ihn, sich zu setzen und von seinem Nektar zu trinken. Soll er es wagen und kurz die Schönheit der Blüten genießen?
Der Schmetterling taucht in den gelben Staub ein und nippt von ihm. Dann fliegt er von Blüte zu Blüte. Kreisend, hüpfend, jubelnd.
Der Steinadler wird der erste sein. Der Zitronenfalter hat nicht gewonnen. Was bringt ihm der Sieg, wenn es der launische Flug ist, den er liebt?“

„Aber ich will kein Zitronenfalter sein! Das ist doch lächerlich.“ Ich sprang auf. „Willst du mir sagen, ich soll die Rennen aufgeben? Raus, lass mich in Ruhe, so bist du mir keine Hilfe!“
Dann passierte es. Ich fing an zu heulen.
Es war so ein herrliches Gefühl gewesen, die abgesteckte Strecke zu verlassen. Bei jedem neuen Lauf dachte ich „Jetzt bleibe ich in der Spur“. Und wieder juckte es mich nach der dritten Fahne. Die Sonne stand schräg, die Piste frei. Es lief und lief und ich fühlte mich wie in einem luftleeren Raum.
Alle Träume dahin. So kann man nicht siegen.

Ups stand auf und ging zur Tür.
“Mach Dir keine Gedanken. Heute wolltest du ein Zitronenfalter sein. Genieß es. Morgen willst du vielleicht ein Steinadler sein. Ich weiß es nicht. Hauptsache du fliegst.“



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