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Dezember 2004
Dezemberlavendel
von G. K. Nobelmann

Die letzten zwanzig Minuten, bevor es endlich an der TĂŒr klingelte, hatte Lorenz damit verbracht, seine Kappe vor dem Badezimmerspiegel mal hierhin, mal dorthin zu rĂŒcken, nur um sie schließlich vollends abzunehmen. Er eilte durch den Flur, und wĂ€hrend er öffnete, setzte er mit selbstverstĂ€ndlicher Geste das KĂ€ppi hoch auf seine Stirn.
“Willkommen!” strahlte er, fing sich und fĂŒgte hinzu: “Welcome!”
Dieter musterte ihn stirnrunzelnd und weigerte sich, in die ausgestreckte Rechte einzuschlagen. Hinter ihm wuselten dunkel gekleidete Gestalten in und aus dem Minivan, beladen mit Taschen und SchlafsÀcken und, Lorenz erkannte es mit Dankbarkeit, Kissen. Die Tasmanier hatten ihre eigene BettwÀsche dabei. Ein Problem weniger.
“Danke schön.”
Die Frau erschien neben ihm wie aus dem Nichts. Lorenz fiel fast die Kappe vom Kopf. Groß, modelmager, mit langen, dunklen Haaren, die ihr um die schmalen Schultern fielen; Donnerwetter, wenn so die Trainer in Neuseeland aussahen, mußten die sich um den Fußballnachwuchs da garantiert keine Sorgen machen. Die Frau lĂ€chelte und hielt ihm die Hand hin.
“Ja dann”, sagte Lorenz verdattert. Dieter hob den letzten Koffer aus dem Wagen und tuckerte von dannen, die RĂŒcklichter blutrot in der Dunkelheit; in der Einfahrt blieb eine Handvoll Jungs zurĂŒck, die sich mißmutig bis erwartungsvoll umsahen, dazwischen drei bis vier hochgewachsene Damen. Lorenz spĂŒrte eine Art von Panik. “Na”, sagte er etwas zu laut, “dann kommt doch alle erstmal rein!”
Die dunkelhaarige Frau lĂ€chelte wieder. “Gern”, sagte sie.


Fußballtrainer, das war ein undankbarer Job. Vor allem in der Provinz. Vor allem mit einer C-Jugendmannschaft. Und dann noch mit einer, die zu einem Viertel aus MĂ€dchen bestand, weil es in Hasenheide nicht genug fußballinteressierte Jungs gab. Was ihm die neue Kampfsportschule nicht wegfischte, verlor Lorenz an Gameboy und Playstation. Wenn er ehrlich war, wußte er, daß die Tage seines Herzblutprojekts gezĂ€hlt waren.
Seinen besten StĂŒrmer hatte er bereits in den Sommerferien an diesen Kung Fu-Heini verloren. Danach hatten sie kein Turnier mehr gewonnen. Die Jungs (und drei MĂ€dchen) brauchten dringend ein Erfolgserlebnis, und da kamen ihm die Tasmanier genau richtig. Obwohl, ein bißchen komisch war das ganze schon. Woher hatten sie im fernen Deerwood, Neuseeland von den Kickerbunnies gehört? Vielleicht war die Homepage, die Ludger ihm gebastelt hatte, doch zu etwas gut außer zum Geldfressen.
Zwei Stunden spĂ€ter waren die GĂ€ste bei den Kickerfamilien im Dorf untergebracht, und Lorenz, eine Flasche Holsten in der Hand, fand wieder etwas zu sich. Vier waren ihm geblieben, drei Spieler und die Trainerin, und nicht zum erstenmal fragte er sich, wie er hatte vergessen oder schlichtweg ĂŒbersehen können, daß es sich bei C. Legh um eine Frau handelte. C., das stand fĂŒr Chloe, mit ieh am Ende, und das gh sprach man ein bißchen so aus wie ein weiches ch.
Chloe.
Wenigstens kam ihm das Haus jetzt nicht mehr so schrecklich leer vor.
Lorenz dachte an Anke, die vermutlich gerade in Petra Vossens nippesverseuchter KĂŒche saß und Prosecco nippte, wĂ€hrend Lilly Petras CD-Sammlung mißbilligte, und verspĂŒrte eine heimliche Freude. Es war alles viel einfacher, als Anke prophezeit hatte. Das waren wohlerzogene, stille Jungs, keine Fußballrabauken; man merkte kaum, daß sie da waren. Nicht mal was zu essen wollten sie. Und sie sprachen alle deutsch. Klang zwar etwas seltsam, aber durchaus verstĂ€ndlich.
“SiebenbĂŒrger Sachsen”, hatte Chloe (Chloe!) ihm erklĂ€rt; erst vor etwa 150 Jahren waren sie nach Neuseeland emigriert, wegen der politischen Lage. Eine traditionsbewußte Volksgruppe, die stolz auf ihre Wurzeln war und ihr Brauchtum pflegte. Lorenz dachte an fernöstliche Kampfkunst und japanische Unterhaltungselektronik und fand, daß die Leute hier in Norddeutschland sich da ruhig eine Scheibe abschneiden konnten. Zum Beispiel, welche Sportart konnte denn deutscher sein als Fußball? Na?
Lorenz musterte das Knabentrio, das sich um den Fernseher geschart hatte. HĂŒbsche Jungs hatten sie da in Tasmanien. Hoffentlich gab das keine Probleme. Lorenz hatte eine gewisse Ahnung, daß einer der Kleinknecht-Zwillinge ein Auge auf PĂŒppi Abel geworfen hatte, und Marcel Militzki wurde immer noch etwas lauter und noch etwas lustiger, wenn Lilly vorbeikam. Obwohl, vielleicht verschaffte ihnen diese RivalitĂ€t sogar einen Vorteil.
Er genehmigte sich einen langen Schluck, bevor er sich an seine Manieren erinnerte: “Ein Bier kann ich Ihnen doch anbieten?”
Chloe schenkte ihm ein LĂ€cheln, das in seinem Innern Kohlen erglĂŒhen ließ. Meine GĂŒte, was fĂŒr Lippen; prall und glĂ€nzend wie Kirschen. Sie legte ihm eine schmale Hand auf den Arm.
“Aber gern”, sagte sie an seinem Ohr, und dann sprach sie seinen Namen aus, daß er klang wie ein exotisches, geheimnisvolles Wort.


“SĂŒĂŸâ€, sagte PĂŒppi Abel und musterte die Gegnermannschaft mit Kennerblick. “Sucht euch aus, wen ihr wollt, aber der Blonde gehört mir.”
Lilly rollte die Augen, aber Tjorven ließ sich nicht einmal zu einer verĂ€chtlichen Reaktion herab. Sie zog ihren SchnĂŒrsenkel straff. In jeder anderen Mannschaft hĂ€tte sie sich lĂ€ngst einen Anschiß wegen ihrer Schuhe eingefangen, aber Tjorven beharrte darauf, daß die zerlöcherten, ausgefransten Chucks ihr GlĂŒck brachten, und Lorenz konnte sich nicht leisten, noch einen Spieler zu verlieren, nicht mal ein MĂ€dchen.
“Die Tussi wohnt bei euch, oder?” Tjorven sah immer noch nicht auf. Bei ihr konnte man nie genau sagen, wie sie etwas meinte. Lilly hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. NatĂŒrlich wußten alle, daß sie und Mama zu Tante Petra gezogen waren.
“Ja.” Sie gab PĂŒppi einen Stups. “Dein Blondi ĂŒbrigens auch.”
“Echt?” PĂŒppis Augen leuchteten. Ihr Blick hing an den Jungs auf dem Spielfeld, die sich so lĂ€ssig warmspielten, daß es demoralisierend war. Die hatten sich nicht mal eingelaufen. Gegen ihre drahtigen, unaufdringlich muskulösen Körper sahen die Hasenheidener Bubis ziemlich alt aus. Kein Wunder, daß Lorenz so blaß war. “Wie heißt er, weißt du das?”
“Sam”, sagte Lilly. “Glaube ich.”
PĂŒppi nickte, als gĂ€be es da etwas zu nicken. “Wir haben die beiden da drĂŒben”, erklĂ€rte sie mit kurzer Geste, “den mit den langen Haaren und den kleinen Punk da. Nathan und Shaun. Was haben die eigentlich fĂŒr blöde Nachnamen in Neuseeland, sagt mal? Gruffner und Kootz. Nee, echt nicht.”
“Dann behĂ€ltst du eben deinen Namen bei der Hochzeit”, meinte Tjorven trocken und stand endlich auf.


Katastrophe, dachte Lorenz nach der ersten Halbzeit, oder eher Massaker. Das gab’s doch wohl nicht. Er war so mĂŒde, daß es ihm schwerfiel, sich auf das Spiel zu konzentrieren, und was er sah, machte ihn nur noch mĂŒder. Elegant unterliefen die Tasmanier jeden Vorstoß der Bunnies; ihr Torwart lehnte nur am Pfosten. Dabei war Marcel gut heute, viel besser als in der ganzen Saison; es tat Lorenz in der Seele weh, den Jungen wieder und wieder scheitern zu sehen. Und dann wurde Marcel wĂŒtend und vergeigte den Ball. Tor fĂŒr die Deerwood Devils.
Lorenz kratzte sich den Skalp unter der Kappe. Mist, verdammter.
Auf der anderen Seite des Spielfelds, schön, dunkel und schweigend, Chloe.
Haua, haua, haua. Besser nicht zu lange hinsehen. Zuviele Augen auf der TribĂŒne. Ankes zum Beispiel, die ihn von ihrem Stammplatz hinter dem Gegnertor aus sehr demonstrativ keines Blickes wĂŒrdigte.
Ein Johlen, gefolgt von plötzlichem Schweigen; die Kickerbunnies hatten erneut den Ball verloren. Shaun lief vor, und im nÀchsten Moment hatten die Gastgeber den zweiten Treffer kassiert.
Na gut, verwunderlich war das eigentlich nicht. In Deerwood nahmen sie ihren Fußball beneidenswert ernst. Chloe tat offenbar nichts anderes, als fĂŒr ihre Burschen Freundschaftsturniere zu organisieren und in den großen Ferien mit ihnen in aller Herren LĂ€nder zu reisen. Jetzt gerade kamen sie von einem Spiel in DĂ€nemark. Und mit so einem Namen konnte man auch nur gewinnen.
Kickerbunnies, na ja.
Was hatte es fĂŒr ein Theater um den Mannschaftsnamen gegeben; vierzehn kleine Jungs, die lautstark beteuerten, sie wĂ€ren aber keine “Bunnies”. Der Gegenvorschlag, “Bunnykickers”, hatte dann die MĂ€dchen aufgebracht. Und “FC Hasenheide” verbat Lorenz sich, nachdem Evert und Voß vom SV sich so ins Hemd gemacht hatten wegen der Platzzeiten. Als Ausgleich zum Namen trugen die Kickerbunnies einen feuerschnaubenden Cartoonhasen mit kampflustig geblecktem Pitbullgebiß auf dem Trikot, aber das rettete heute auch nichts.
Ein leichter Regen nieselte auf sie nieder, als hĂ€tten sie September und nicht kurz vor Weihnachten, und es war nicht einmal kalt. Lorenz hĂ€tte schwitzen mĂŒssen in seiner Steppjacke. TatsĂ€chlich stand es ihm kĂŒhl auf der Stirn, hinter dem Band des KĂ€ppis, aber Lorenz fĂŒhlte sich verfroren, wie unausgeschlafen. DafĂŒr waren die Lichter umso gleißender.
Kurz vor vier, und der Himmel schon duster. Vor ihm flitzten die Tasmanier in ihren dunklen Trikots ĂŒber das Wintergras, seltsam schemenhaft; mußte an den Scheinwerfern liegen, alles so grell. Ein schriller Pfiff, und der Schiri trennte einen der Zwillinge von dem ellenlangen Abwehrspieler mit den braunen Zotteln. “Laney” stand auf seinem Trikot.
Der Zwilling, Lorenz konnte nicht erkennen, ob es sich um Marc-Ole oder Jan-Philipp handelte, schimpfte wie ein Rohrspatz. Mit einer LĂ€ssigkeit, die entweder von NervenstĂ€rke oder mangelnden Deutschkenntnissen zeugte, stakste Laney zu seiner Mannschaft zurĂŒck.
Lorenz fing einen Blick von Lilly auf und erkannte mit einem gewissen Erschrecken, daß er sich vielleicht besser auf das Spiel konzentrierte. Nur, das war schwierig. Und außerdem verloren sie ja sowieso. Nachher noch die Aftergame-Party im Clubhaus, Gott, ihm grauste jetzt schon.
In der Halbzeit schloß er sich auf dem Klo ein. Bloß keine Fragen beantworten, keine halbgaren StrategievorschlĂ€ge simulieren, hatte doch alles keinen Sinn, und ein bißchen schlecht war ihm auch wirklich. Vielleicht wurde er ja krank. Er faßte sich an die Stirn, aber die Haut fĂŒhlte sich ganz normal an. Na, vielleicht bis morgen zum Revanchespiel.
FĂŒnf Minuten nach Anpfiff der zweiten Spielzeit foulte Tom Laney Lilly, und fĂŒr Lorenz war der Tag endgĂŒltig gelaufen.


“Ist nur ‘ne kleine SchĂŒrfwunde”, beharrte Lilly, aber Lorenz ließ nicht mit sich spaßen, und den Rest des Spiels saß sie auf der Bank, ein Handtuch an der Stirn. Toll. PĂŒppi wĂ€re bestimmt neidisch gewesen; keine zwei Meter entfernt hockte ihr blonder Sam und wartete darauf, eingewechselt zu werden.
“Scheißspiel”, brummte Pascal Drescher. Er saß dicht genug, daß sie ihn riechen konnte, aber sein Blick klebte an den dunkelgekleideten Devils; insbesondere den rothaarigen MittelstĂŒrmer hatte er auf dem Kieker. Lilly senkte das Handtuch. Angelos Vater hatte es vom Vereinshaus fĂŒr sie geholt; es trug das eingewebte Logo des SV Hasenheide, darunter eine Bierwerbung. Lilly tupfte sich die Stirn; blutete kaum noch. Wenn man so saß, wurde es ganz schön kĂŒhl in Spieltrikot und kurzer Hose.
“Alles okay?”
PĂŒppis Angebeteter hatte grĂŒne Augen. War ihr noch gar nicht aufgefallen. Lilly nickte. Der Blonde lĂ€chelte ihr zu und rĂŒckte etwas nĂ€her heran.
“Tut mir leid, das mit Tom. Manchmal ist er ein wenig...” Seine Augen wanderten, als könnten sie das Wort finden, das er suchte, und blieben an dem fleckigen Handtuch hĂ€ngen. “Gierig”, sagte Sam.
Lilly krauste Stirn und Nase gleichermaßen. “Vielleicht sollte er besser Rugby spielen”, meinte sie in neutralem Tonfall. Sam winkte ab.
“Gibt’s bei uns nicht. An unserer Schule wird Fußball gespielt. Die haben es da gern sehr europĂ€isch. Alte Heimat und so.”
Er zwinkerte. Lilly, fĂŒr einen Moment sprachlos, sagte nur: “Ach so.”
Vor ihr hatte Lorenz seine Kickerbunnies-Kappe abgenommen und umklammerte sie mit beiden HĂ€nden. Das war immer ein schlechtes Zeichen. Im nĂ€chsten Moment fiel ein weiteres Tor fĂŒr die Tasmanier. Der rechte Jubel wollte sich nicht einstellen, aber wenigstens pfiff keiner.
“Ihr spielt nicht besonders gut”, meinte Sam gelassen. Lilly funkelte ihn an.
“Nein. Ihr spielt besser. Das heißt noch lange nicht, daß wir nicht gut spielen.”
Sam lachte. “Ja, fein. Whatever.” Er stĂŒtzte die Ellenbogen auf die Knie. “Wahrscheinlich sind wir einfach schon lĂ€nger dabei als ihr.”
Lilly, die zum erstenmal kurz vor ihrer Einschulung auf einem Spielfeld gestanden hatte, sah sich zu einem weiteren bösen Blick gezwungen. “Vielleicht gibt’s bei uns einfach mehr, was man sonst machen kann. Wie ich das verstanden habe, ist euer Deerwood ein ziemliches Kaff.”
Sam gab sich mit dem vorbeitrabenden Caleb ein schnelles high five, bevor er antwortete. “Das stimmt”, sagte er im selben gelassenen Tonfall. “Wenn man bei uns nicht Fußball spielt, fĂŒhlt man sich wie lebendig begraben. Das ist die einzige Möglichkeit, mal rauszukommen. Ich glaube, ohne die Mannschaft wĂ€re ich schon lange tot.”
Klang wie Lorenz. Lilly fragte sich, ob in Deerwood die Ehen der Trainer auch so strapaziert waren, oder ob Mama einfach nur mal wieder ĂŒbertreiben mußte.
“Bei uns ist jetzt Sommer”, fĂŒgte Sam hinzu, “wenn man da nicht verschwindet, trocknet einem das Gehirn ein. Die Hitze.” Er verzog das Gesicht. “Und natĂŒrlich alles voller Touristen.”
Ja, klar. Die verirrten sich auch gerade nach Deerwood. “Da werden doch bestimmt ein paar hĂŒbsche MĂ€dchen dabei sein”, stichelte Lilly, obwohl sie sich wie Lorenz vorkam. Lorenz, wenn er witzig sein wollte.
Sam lĂ€chelte auf eine Art, die PĂŒppi auf der Stelle jede Freundschaft hĂ€tte abbrechen lassen. Lilly wollte wegsehen und konnte es nicht; schöne Augen hatte er, das mußte der Neid ihm lassen, und dieser Mund...
“Vielleicht”, sagte Sam halblaut, “ist das ein Grund, wieso Chloe uns um diese Jahreszeit immer durch die Welt schleppt”, und er gab ihr einen leichten Stoß in die Seite. Sein Lachen ließ jeden Gedanken an Lippen und Augen zerstieben, und mit plötzlicher ErnĂŒchterung sah Lilly, wie Nr. 03 mit den terrierhaften Augenbrauen sehr selbstverstĂ€ndlich Tjorven aus dem Weg kegelte, daß sie sich auf dem Winterrasen ĂŒberschlug.
Schrille Pfiffe von der TribĂŒne, der Schiri schritt ein, aber Tjorven stand bereits wieder auf den Beinen, das Gesicht umweht von langen StrĂ€hnen, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatten. Sie war blaß, aber ihre Augen funkelten. Ihr Blick klebte am RĂŒcken von Nr. 03, der bereits wieder inmitten seiner Teamkollegen untergetaucht war; “Nemence” stand da, und zum erstenmal wurde Lilly bewußt, daß auch die Kickerbunnies ihre Namen auf den billigen Copyshop-Trikots trugen. Der Gedanke machte sie unbehaglich.
Noch zehn Minuten, und das Spiel war vorbei. NatĂŒrlich verloren die Bunnies haushoch, sieben zu null stand es jetzt, das hatten sie noch nicht mal gegen die Buxtehuder ButzemĂ€nner erlebt, und die spielten immerhin Bezirksliga.
Lilly griff sich ihr Handtuch und stapfte an den verbliebenen Zuschauern vorbei zum Clubhaus.


Er war jetzt seit vier Jahren Gastronomiechef des SV Hasenheide, aber sowas hatte er noch nie gesehen. Fritz Morskeit konnte sich nur wundern. Gut, die HĂ€schen hatten wieder verloren, aber das war doch immer so, das hieß doch nicht, daß die hier jetzt trĂŒbselig rumstehen mußten, im Gegenteil – sonst wurde doch immer gefeiert wie blöd! Jetzt erst recht und so!
Und wie leer es war. Von den, na, was waren die nochmal – den Australiern hatte sich bestimmt die HĂ€lfte nach Hause fahren lassen. Gewinnen machte wohl mĂŒde; na gut, damit besaß der FC Kickerbunnies keine Erfahrung. Aber sonst kehrten die FußballmĂŒtter immer nochmal fĂŒr einen kleinen Absacker bei ihm ein. Heute waren die einzigen Frauen im Raum die australischen Betreuerinnen.
Obwohl, nicht, daß er sich beschwerte; gegen die mit den hĂŒftlangen Locken kam seine Simone nicht an, gar kein Thema. Und die Trainerin... na, wie die den Kopf mit Lorenz Paape zusammensteckte, da konnte man ja auf Ideen kommen! Gut, daß Anke nicht da war, sonst gab es vermutlich direkt die nĂ€chste Scheidung im Dorf.
Er drehte die Musik höher und wieder leiser. Die Kinder hatten heute wohl keine Lust auf Tanzen, verstand man ja auch. Sein Angelo trank jetzt schon die fĂŒnfte Cola; wenigstens Light, nicht, daß er am Ende wieder zu fett zum Laufen war. Obwohl Fritz persönlich Judo oder sowas ja besser gefunden hĂ€tte fĂŒr einen Jungen, oder nicht gerade Judo, dieses andere da – Ju Jitsu. Jutsi. Jiu. Ach, egal.
“Noch einen Kiba?”
Menschenskinder, die kleine Möhrs, die bekam die Mundwinkel auch nicht hoch. Traniges Nicken. Wie sauer die gewesen war auf diesen Australio, ein Gesicht, als wĂŒrde sie ihn gleich umnieten. Nicht mal jetzt hatte der den Anstand, sich zu entschuldigen. Vielleicht ein bißchen zu tanzen. Saß bei seinen Kumpeln beim Flipper und glotzte durch die Gegend. Die tranken nicht mal was. Lahmer Haufen.
Tjorven nahm ihren Saft in Empfang und verschwand wieder in die MĂ€delecke. Was die da wohl besprachen.
“DĂŒrfte ich Sie einmal stören?”
Es war die Gelockte. Donnerknispel, von der Bettkante stieß die wirklich keiner. Große runde dunkle Augen, das gab’s doch gar nicht, solche Augen... ob die alle so in Australien...
Die Gelockte senkte den Blick und lachte verlegen, daß es Fritz fast den Boden unter den FĂŒĂŸen wegzog.


“Der auch”, sagte Tjorven nur. Sie schlurfte um den Tisch herum und ließ sich auf den Stuhl fallen, den RĂŒcken zum Fenster. Es hatte zu regnen begonnen, kaum, daß das Spiel zu Ende gewesen war; fette, kalte, silbrige Tropfen rannen die Scheibe herunter, Spinnenbeine auf dem dunklen Glas. NĂ€chste Woche sollte Weihnachten sein.
Lilly krauste die Nase. “Wie, Angelos Vater?” Sie warf einen Blick ĂŒber die Schulter, zur Theke, wo die DĂŒnne mit der KrĂ€uselmĂ€hne sehr engagiert in Fritz Morskeits Gesicht hineinlĂ€chelte. Niemand sonst schien es zu bemerken. Die mĂ€nnlichen Kickerbunnies hatten sich nach Hause verzogen oder hingen am GerĂ€teschuppen ab und rauchten; die Devils lungerten an den Kanten des Clubraums wie Schauspieler, die auf ihren Einsatz warteten, konzentriert und doch zutiefst gelangweilt. Von den Betreuerinnen waren nur die KrĂ€uselige und die Blonde mit dem strengen Blick geblieben. Von Lorenz keine Spur, und auch Chloe hatte sich lĂ€nger nicht blicken lassen. Lilly dachte lieber nicht darĂŒber nach.
“Ich dachte, der Pudel wohnt bei Kleinknechts”, sagte Tjorven ohne große Energie. Sie hatte das Saftglas vor sich abgestellt, ohne daraus zu trinken.
PĂŒppi seufzte ungeduldig. “Und? Wieso seid ihr eigentlich so–”
“Der war heute gar nicht da”, fĂŒgte Tjorven im selben Tonfall hinzu. “Der Kleinknecht, meine ich. Sonst brĂŒllt er doch immer am lautesten.”
Lilly musterte sie stirnrunzelnd. Tjorven erwiderte ihren Blick unbewegt. Nur PĂŒppi zappelte unruhig auf ihrem Stuhl herum.
“Die Blonde”, sagte Lilly. Tjorven zuckte die Achseln.
“Bei Dreschers. Habt ihr den Drescher gesehen?”
“Nee, wieso?” PĂŒppi sah zu den Jungs in ihren dunklen Ecken und wieder zurĂŒck. “Was ist denn mit–”
“Der ist nicht gekommen”, hörte Lilly sich sagen.
“Und dann noch die mit den Bambi-Augen. Georgia heißt die.” Endlich griff Tjorven nach ihrem Glas. Sie leerte es fast in einem Zug. “Und jetzt ratet mal, wo die wohnt.”
Lilly starrte auf den dunklen Bodensatz in Tjorvens Glas. “Dein Vater war auch nicht hier.” Tjorven nickte nur.
“Ich versteh euch nicht.” PĂŒppi sah aus, als wĂŒrde sie demnĂ€chst mit der Faust auf den Tisch schlagen. “Hallo? Hier ist ein ganzer Raum voller sĂŒĂŸer Jungs, und ihr unterhaltet euch, wer nicht beim Spiel war? Mein Vater ist auch nicht hingegangen, na und? War doch sowieso ein Scheißspiel, und ĂŒberhaupt hĂ€ngt mir diese ganze Fußballkacke zum Hals raus, wir sind doch keine zehn Jahre mehr! Und ĂŒbrigens...” Sie beugte sich vor, daß ihr das Haar ins Gesicht fiel.
“Mein Vater ist nicht gekommen, weil er krank ist. Der liegt mit Grippe im Bett. So. Aber das ist wahrscheinlich nicht geheimnisvoll genug fĂŒr euch, oder pervers genug, oder was weiß ich.”
Die Beine ihres Stuhls schrammten ĂŒber die Fliesen. “Viel Spaß noch. Ich geh jetzt tanzen.”
Lilly sah zu, wie PĂŒppi ihr Kinn durch den Raum trug, direkt in die Schummerecke, in der Sam und Caleb lehnten. Aus den Boxen dröhnte irgendwas Uraltes aus den 80ern, wohl ein ZugestĂ€ndnis an die GĂ€ste – “I come from a land down under”, hohl, mußte man sagen, aber PĂŒppi begann prompt im Takt zu zappeln, und nach kurzem Zögern sowie einem ironischen LĂ€cheln untereinander schlossen die Jungs sich ihr an.
“Down Under” wurde abgelöst von “Mit Pfefferminz bin ich dein Prinz”, was schon fast komisch hĂ€tte sein können, wĂ€re Lilly nicht die eine Zeile aus dem 80er-Lied im Ohr steckengeblieben. Sie drehte sich auf ihrem Stuhl um.
Der Platz hinter der Theke war leer; die Spulen des CassettengerÀts drehten sich unbeachtet durch ihr Programm. Von Angelos Vater und der schönen Lockenhaarigen fehlte jede Spur.
I met a strange lady, she made me nervous
Tjorvens Hand legte sich auf ihren Arm. “Gehen wir”, sagte sie.


Das Haus gehörte ihnen. Alles dunkel; kein Wagen in der Auffahrt. Lilly meinte einen Hauch von Parfum wahrzunehmen, und sie empfand eine vage Wut; als wÀre Chloe widerrechtlich hier eingedrungen, als wÀre sie nicht eingeladen gewesen.
Wie selbstverstĂ€ndlich hatte Tjorven den Paapeschen Familiencomputer hochgefahren und sich ins Internet eingeloggt. “Okay. Schauen wir uns das mal an.”
Ihre Finger klackerten ĂŒber die Tastatur; “Deerwood”, hörte Lilly sie murmeln, gedehnt, als teste sie die Buchstaben auf der Zunge. Aus dem Bildschirm ergoß sich ein seltsam blĂ€uliches Licht. Tjorven runzelte die Stirn.
Als Lilly neben sie trat, meinte sie einen Moment, Tjorven hĂ€tte sich im Land vertan. Die Webseite, die sie aufgerufen hatte, zeigte ein Meer von lila TupfenblĂŒten in dicken, buschigen Reihen bis hin zum Horizont, an dem blau ein paar Berge standen; ĂŒber allem lag ein samtiger Himmel von tiefstem Azur. Fast konnte man den schweren Duft der Stauden riechen.
“Sieht aus wie Frankreich”, sagte Lilly.
Tjorven klickte sich durch die Seiten. “Ist aber Tasmanien. Deerwood liegt im Nordosten, genau im grĂ¶ĂŸten Lavendelanbaugebiet des Landes. Und weißt du was? Der blĂŒht jetzt.”
Sie ließ Lorenz’ alten Drehstuhl quietschen. “Genau jetzt.”
“Davon haben die gar nichts erzĂ€hlt.” Oder?
Alles voller Touristen, hatte Sam gesagt.
“HĂ€ngt ihnen wahrscheinlich zum Hals raus”, meinte Tjorven. “Das stinkige Kraut.”
“Ist aber praktisch. Ich hatte mal so ein Öl...”
Tjorven hörte schon gar nicht mehr zu, Lilly konnte sie leise singen hören – “PĂŒppi ist kein Name und auch kein GetrĂ€nk, und mancher muß schon rennen, wenn er nur an PĂŒppi denkt”; augenblicklich kreiselte die blöde Melodie ebenfalls in Lillys Kopf.
“Als wir in der Provence waren”, sagte sie laut. “Damit sollte man sich einreiben, und dann half das gegen MĂŒcken.”
Tjorvens Mund schloß sich, dafĂŒr schlug ihre Stirn auf einmal Falten. Der Stuhl quietschte erneut, als sie sich zu Lilly umdrehte.
“Was?”
“Gegen MĂŒcken”, wiederholte Lilly geduldig. “Wenn man sich damit einschmierte, bissen die einen nicht mehr. DafĂŒr stank man natĂŒrlich wie ein–”
Eine lange StrĂ€hne hing Tjorven ins Gesicht, wie ein Ausrufezeichen ohne Punkt. “Blutsauger”, sagte sie zum Bildschirm. “Blut. Sau. Ger. Ja klar!”
Erneutes Tippen.
“Da”, sagte Tjorven, als wĂ€re jetzt alles geklĂ€rt.
“Nein”, sagte Lilly.
Tjorvens Augen glitzerten. Endlich schob sie sich die lose StrÀhne hinters Ohr.
“Doch. SiebenbĂŒrgen. Kann man auch anders nennen.” Sie lĂ€chelte finster.
“Von wegen Grippe.”
“Ich halt’s nicht aus”, sagte Lilly mit GefĂŒhl und setzte sich auf den Boden.


Tjorven war dafĂŒr, direkt Pflöcke zu schĂ€rfen, aber Lilly wollte davon nichts hören, was ihr einen mißtrauischen Blick eintrug – “ich bin nicht PĂŒppi”, erklĂ€rte Lilly gereizt, “hör auf, so zu glotzen.”
Sie sah zum Computerbildschirm, auf dem Google Seiten listete, die die Deerwood Devils erwĂ€hnten. England, Holland, Frankreich, Österreich; ĂŒberall hatten die Devils bereits gespielt. Und jedesmal gewonnen.
“Schau dir das doch an, die bringen keine Leute um. Die kommen nur an, putzen die Gastgeber vom Feld und hinterlassen Grippe.” Sie schĂŒttelte den Kopf. “Wir können doch niemanden umbringen, der uns nichts tut.”
Tjorvens Augen blieben schmal. “Grippe”, sagte sie. Lilly warf die HĂ€nde hoch.
“Ja gut, wie du’s halt nennen willst. Tatsache ist, daß keiner je, ich meine... die haben sich doch alle wieder erholt.”
Tjorven schwieg.
“Wie auch immer, ich bringe jedenfalls keine Leute um! Wenn du welche pfĂ€hlen willst, dann machst du das alleine!”
“Wer will hier wen pfĂ€hlen?”
Lilly fuhr herum. Im TĂŒrrahmen, mit starker Schlagseite und so blaß und stachelbĂ€rtig wie ein U-Bahntunnel-Penner, lehnte Lorenz. Lillys Herz blieb stehen; dann bemerkte sie, daß Chloe nicht bei ihm war.
MĂŒde fuhr Lorenz sich mit der Hand ĂŒber das Gesicht. Die Kappe saß in einem witzigen Winkel auf seinem Kopf, und das Hemd war ihm aus der Hose gerutscht. Einer seiner SchnĂŒrsenkel schleifte hinter ihm her, als er durch das Wohnzimmer zum Sofa schlurfte. “Was machst du ĂŒberhaupt hier? Solltest du nicht bei deiner Mutter sein?”
Das Polster quietschte erstickt unter ihm auf.
Lilly wechselte einen Blick mit Tjorven, die ungerĂŒhrt die Google-Seite zur Homepage von Bravo-TV gewechselt hatte. “Ich wollte nur was holen”, sagte sie und Ă€rgerte sich augenblicklich ĂŒber sich selbst. “Außerdem...”
Außerdem hasse ich es bei Tante Petra, und meine Mutter ist ein dummes Huhn, das keine Ahnung von MĂ€nnern hat, und wenn die Welt gerecht wĂ€re, dann wĂ€rst du mein Vater. Statt dessen dachte er nun, daß sie bloß ihre Tampons vergessen hatte.
Sie setzte sich zu ihm auf die Couch. “Lorenz? Kann ich nicht lieber hier schlafen?”
Er hatte den Nacken gegen die RĂŒckenlehne gelegt und die Augen geschlossen, den HandrĂŒcken ĂŒber der Stirn. Auch wenn er aussah, als hĂ€tte er gesoffen – Lilly konnte keinen Hauch von Alkohol an ihm riechen.
“Ich weiß nicht”, sagte er. “Deine Mutter macht sich doch bestimmt Sorgen. Und die Zimmer sind alle belegt. Die Jungs schlafen doch hier. Sam und Joshua und Caleb. Und Chloe.”
Lilly spĂŒrte eine heiße Wut. Als ob Chloe auf der Klappcouch nĂ€chtigte. “Ist ja nur noch bis ĂŒbermorgen”, fĂŒgte Lorenz hinzu, alles, ohne die Augen zu öffnen.
Stumm schob Lilly sich vom Sofa und lief zur Treppe.


Das FlÀschchen mit dem Lavendelöl lag ganz hinten im Schrank. Lilly kramte und suchte und schaffte es, dabei nicht zu heulen. Tjorven schlich derweil durch die RÀume und zupfte an Decken und Taschen, spÀhte, schnupperte, forschte.
“Ich hab’s!” Lilly hob das rosa-blau-glasierte TongefĂ€ĂŸ an die Nase. Selbst der Korken konnte den schweren, sĂŒĂŸen Lavendelgeruch nicht in der Flasche halten. Tjorven nahm ihr das FlĂ€schchen ab.
“Igitt”, sagte sie. “ParfĂŒmierte Rattenpisse. Willst du was sehen?” Ihr Gesicht war wie aus Granit gemeißelt, unlesbar. Lilly zuckte die Achseln und stand auf.
Erde. Die Besucher aus Tasmanien schliefen auf kleinen, flachen Leinenbeuteln, die sie in ihre KopfkissenhĂŒllen geschoben hatten. Aus dem einen Beutel krĂŒmelte es schwarz. Tjorven strich sich das Hexenhaar zurĂŒck.
“Kein Wunder, daß es hier riecht wie auf dem Friedhof.”
Sie friemelte den kleinen Korken aus dem Flaschenhals; im nĂ€chsten Moment hörte Lilly das Knarren der SchlafzimmertĂŒr. Als Tjorven wiederkam, wirkte sie sehr zufrieden, und der Korken steckte wieder in der Flasche.
“Weißt du was”, sagte sie, “heute schlĂ€fst du bei uns.”


“Ihr habt sie ja wohl nicht alle.” Angelo zog ein Gesicht, als hĂ€tten sie ihm einen Schluck Nagellack angeboten – Ă€ngstlich und entrĂŒstet zugleich. Pascal und Marvin kicherten nervös, und die Zwillinge standen abseits und schwiegen wie ĂŒblich. Tjorven verzog keine Miene.
“Wollt ihr nun gewinnen oder nicht”, meinte sie in einem Tonfall, der von einer Frage weit entfernt war.
Die Jungs scharrten mit den FĂŒĂŸen. Sven Wawerik und Moritz Gließing waren gar nicht erst erschienen, was hieß, daß diesmal selbst die mitkĂ€mpfen mußten, die das Spiel sonst gepflegt aussaßen. Insbesondere Pascal wirkte reichlich blaß um die Nase; obwohl, das konnte auch damit zu tun haben, daß Tjorven ihn ausnahmsweise einmal eines Blickes wĂŒrdigte.
“Was hat’n dies Zeuch mit Gewinn oder Verliern zu tun?” wagte Marc-Ole schließlich zu fragen. Tjorven legte den Kopf schief.
“Das dauert jetzt zu lange. Wir erklĂ€ren’s euch hinterher.” Das unangenehme LĂ€cheln kehrte auf ihre Lippen zurĂŒck. “Wenn das dann noch nötig ist.”
“Traut uns einfach”, sagte Lilly. Vielleicht gibt’s auch ein KĂŒĂŸchen hinterher, hĂ€tte PĂŒppi hinzugefĂŒgt; nur, daß Sven und Moritz nicht die einzigen Ausfaller darstellten. Bei Abels ging niemand ans Telefon, und auch auf die TĂŒrklingel reagierte keiner. Lilly hatte in ihrem Leben noch keine Zigarette geraucht, aber jetzt hĂ€tte sie gern damit angefangen.
Die Jungs wirkten unbeeindruckt, aber dann trat Marcel vor. “Na gut”, sagte er, ohne Tjorven oder Lilly anzusehen. “Von mir aus.”


Der Platz war glitschig vom Regen; an sich hĂ€tte das Spiel abgeblasen werden mĂŒssen, aber keiner der Trainer scherte sich um derartige Details. Lorenz hatte sich einen Campingstuhl an den Rand des Spielfelds gestellt, von dem aus er das Match verfolgte; sein Blick war matt, und er trug weder Jacke noch MĂŒtze, dafĂŒr hatte er den Hemdkragen aufgeknöpft, als wĂ€re ihm heiß. Mit seinen geschwollenen Lidern und der roten Nasenspitze sah er aus wie ein fieberndes Kaninchen.
Ihm gegenĂŒber, an der anderen Seite der Bande, stand Chloe, die Arme vor der Brust verschrĂ€nkt. Auch sie, merkte Lilly, wirkte alles andere als frisch. Ihre Wangen waren ĂŒberzogen von feinen Pusteln, und in regelmĂ€ĂŸigen AbstĂ€nden hustete sie in ihre Faust, daß einem angst und bange werden konnte. Anders als Lorenz war sie sehr prĂ€sent, ein hartes GlĂ€nzen in ihren Augen. Ihr Blick fand Lilly, als die Kickerbunnies auf den Platz trabten und sich auf dem matschigen Rasen warmliefen, und hielt sie fest. Kein LĂ€cheln mehr.
Auch das Revanchespiel begannen die Devils ohne AufwĂ€rmprogramm. Sie fĂ€cherten sich ĂŒber das Feld, so selbstverstĂ€ndlich wie ein Wolfsrudel, und mit ebensolcher Eleganz. Da waren Sam, und schrĂ€g hinter ihm Caleb, und wie durch Zauberei zogen die Devils den Ball an sich, behielten ihn, ein Zuspiel, als trĂ€ten hier Nationalligisten gegen einen Club Vorschulkinder an, und keine zwei Minuten nach Anpfiff steckten die Bunnies den ersten Treffer ein.
“So”, sagte Tjorven zu Lilly. “Und jetzt kommen wir.”
Der alte Lorenz wĂ€re baff gewesen ĂŒber den aggressiven Vorstoß seiner MĂ€del, die Art, wie die beiden Shaun und Matt einfach stehenließen und tief in die Abwehr der Gegner vordrangen. Die Devils schlossen sich um die MĂ€dchen, eine Mauer aus nachtschwarzem Trikot mit roten Zeichen; Lilly mußte sich nicht umsehen, um zu wissen, daß Marcel und Jan-Philipp und die anderen von ihnen abgeschnitten waren. Sie waren allein, und da kam auch schon Caleb, und Tjorvens helle Beine, der dunkle Pferdeschwanz verschwanden aus ihrem Blickfeld.
Wie dunkel es auf einmal geworden war, als schluckten die schwarzen Shirts das Licht; nur noch der Winterhimmel, und darunter die blassen Gesichter, die glitzernden Augen ihrer Gegner. Caleb lĂ€chelte, und Lilly wußte, daß sie diesmal nicht mit einem Handtuch an der Stirn davonkommen wĂŒrde.
Ein erstickter Laut – war das Tjorven gewesen? –, und dann stĂŒrzte jemand, sie konnte den dumpfen Aufprall hören, und wo, zum Henker, steckte der Ball, und der Schiri, war der auf dem Klo oder was; Calebs Stollen wetzen ĂŒber das nasse Gras, die Muskeln an seinem Knie, glatt und geschmeidig unter der Haut... und dann, als wĂ€re er in eine Glaswand gerannt, donnerte er zurĂŒck. Weiße Haut an seinen Schenkeln, als er hinschlug, die Hose hochwehte.
Lilly stand wie erstarrt. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie die Devils verwirrte Blicke tauschten. Weit entfernt ein schwingender Pferdeschwanz, und dann holte Tjorven mit langem Fohlenbein in altem Turnschuh aus und erzielte das erste Tor fĂŒr die Bunnies seit etwa hundert Jahren.
Der Jubel wĂ€re stĂ€rker ausgefallen, hĂ€tten sich mehr als eine Handvoll Menschen auf der TribĂŒne befunden. Lorenz hob schwach den Daumen und versank wieder in Lethargie.
Die Devils schenkten sich selbst und den Bunnies giftige Blicke und formierten sich neu; diesmal, drĂŒckten ihre Mienen aus, diesmal wĂŒrde es Tjorven an den Kragen gehen. Aber Tjorven war es zufrieden, im Mittelfeld zu bleiben und Marcel seinen Job machen zu lassen; denn Marcel hatte so ĂŒberraschend wie tatfreudig sein Selbstbewußtsein wiederentdeckt und rollte das Spielfeld auf, daß jeder Talentscout seine Freude gehabt hĂ€tte. Hinter ihm sorgen Jan-Philipp und Leon fĂŒr den Rest. Die Devils wurden noch etwas blasser und ihre Blicke noch etwas giftiger, aber jetzt waren sie es, die geigten wie die Kleinkinder; nach einer Beinahe-Kollision mit Angelo fiel Tom Laney ĂŒber seine eigenen FĂŒĂŸe und kĂŒĂŸte das Gras.
In der Halbzeit begann es zu schneien. Lorenz blieb trĂŒbe in seinem Gartenstuhl, als wĂ€ren es wieder die Bunnies, die hier sieben Tore kassiert hatten. In der Umkleide gab es diesmal keinen Zögerer, als Tjorven ihr SprĂŒhflĂ€schchen fĂŒr einen kleinen Auffrischer zĂŒckte.
Zwanzig Minuten in die zweite Halbzeit hinein streckten die Devils die Waffen. Nathan und Tom hatten mitten in ihren eigenen Abwehrraum gekotzt, und Sam saß seit einer Viertelstunde auf der Bank, den Kopf in den HĂ€nden. Die anderen standen mehr, als sie liefen, und schwankten mehr, als sie standen. Irgendwann konnte Chloe es nicht mehr mit ansehen; sie marschierte quer ĂŒber das Spielfeld zu Lorenz in seinem Campingstuhl, und dann winkte sie den Schiri heran.
Der Umkleideraum stank wie ein billiges Bordell. Es gab kein Fenster, das man hĂ€tte öffnen können. Lilly, die erwartet hatte, ihre Nase wĂ€re ab einem gewissen Punkt abgestumpft, merkte, wie ihr Magen flatterte. Ihr Pulli, die Winterjacke, ihre Sporttasche, alles stank. Die Jungs johlten und schlugen sich gegenseitig in die HandflĂ€chen. Langsam, wie benommen stieg Lilly in ihre Stiefel und zog sich die Jacke ĂŒber.
Im Gang vor der Umkleidekabine lehnten die Devils und warteten auf sie.
Sie waren immer noch blaß, und mit ihren hochgezogenen Schultern, die HĂ€nde in den Hosentaschen, erinnerten ihre kantigen Umrisse Lilly an eine Handvoll WinterkrĂ€hen auf einem Baum. Sam hob den Kopf, als er sie sah.
“Wir wollten nur sagen, daß wir abreisen”, meinte er. Die Neonröhre ĂŒber seinem Kopf summte, und ihr Licht flackerte in einem ungesunden Violett. “Heute noch.” Er wechselte einen Blick mit Shaun, der neben ihm stand.
“Jetzt gleich”, fĂŒgte er hinzu.
Ein Teil von Lilly war erleichtert, aber es war nur ein kleiner Teil. Das Unbehagen war grĂ¶ĂŸer. “Was ist mit PĂŒppi? Wo ist sie?”
Sam lĂ€chelte sein WolfslĂ€cheln, lila Schatten um die Augen. “Was soll mit ihr sein – die wird im Bett liegen und ihre Grippe auskurieren.” Jemand, es mußte Caleb sein, lachte auf.
“Die Arme”, meinte einer der anderen, Nathan vielleicht oder Joshua, “ich hab gehört, es war ein ziemlich schwerer Fall von Grippe”, und erneut lief ein Lachen durch die Reihe.
“Ja”, sagte Sam, ohne die Augen von Lilly zu nehmen. “Mit sowas ist nicht zu spaßen.”


Die Devils hatten nicht ĂŒbertrieben; vor dem VereinsgebĂ€ude stand Lorenz, Klappstuhl unter dem Arm, ins GesprĂ€ch vertieft mit Chloe, Georgia und der KrĂ€uselhaarigen.
“–n Problem”, hörte Lilly ihn sagen, “die Sachen haben wir in einer Viertelstunde beisammen, und... oh, hallo. Seid ihr schon fertig?”
Lilly verkroch sich tiefer in ihre Jacke. Ein dichter Vorhang von Schnee senkte sich aus den Wolken; das Licht der Scheinwerfer vom Sportplatz versickerte in den pelzigen Flocken, und die Umrisse des VereinsgebÀudes konnte man nur erahnen. Chloes Blick war kÀlter als die Schneeluft.
“Ach, die kleine Taktikerin.” Sie lĂ€chelte, daß es Lilly den RĂŒcken herunterlief; dann beugte sie sich vor und flĂŒsterte: “GlĂŒckwunsch.” Lilly machte einen unwillkĂŒrlichen Schritt zurĂŒck.
“Jedenfalls”, Lorenz befaßte sich bereits wieder mit dem GĂ€stetrio, “das bekommen wir alles hin, kein Thema.”
Er zögerte, und Lilly wußte, es ging um mehr, als das MannschaftsgepĂ€ck aus den HĂ€usern der Gastfamilien zu holen. Chloes Aufmerksamkeit sog sich an ihn, als wĂ€ren sie die einzigen Menschen im Umkreis von drei Kilometern; sie fraß ihn förmlich auf mit ihren Augen, ihrem LĂ€cheln, der Art, wie ihr Gesicht sich seinem zuneigte.
“Wunderbar”, sagte sie.


Dieter war nicht begeistert, daß Lorenz die SchlĂŒssel des Minibusses von ihm haben wollte, “bei dem Wetter, Mannomann”, aber selbst hinters Lenkrad mochte er noch viel weniger. Heiligabend womöglich im Krankenhaus, nee nee. Sollte doch jemand anders im Straßengraben landen.
Sie fanden den Wagen zwei Tage vor Weihnachten, im Parkhaus am Bahnhof Hamburg-Altona.
Der Minivan war ordnungsgemĂ€ĂŸ verriegelt, ein bißchen dreckig um die Flanken, wo der Schneematsch zu grĂ€ulichen Schlieren getrocknet war; sonst alles tip-top. Die Tasmanier hatten nicht die geringste Spur hinterlassen. Lediglich auf der Konsole zwischen den beiden Frontsitzen lag eine dunkelblaue Kappe; darauf eingestickt ein feuerschnaubender Hase, die ZĂ€hne in hilflosem Zorn gebleckt.


(c) G.K. Nobelmann

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