Glück ist für jeden etwas anderes. Unter der Herausgeberschaft von Katharina Joanowitsch versuchen unsere Autoren 33 Annäherungen an diesen schwierigen Begriff.
Die letzten zwanzig Minuten, bevor es endlich an der Tür klingelte, hatte Lorenz damit verbracht, seine Kappe vor dem Badezimmerspiegel mal hierhin, mal dorthin zu rücken, nur um sie schließlich vollends abzunehmen. Er eilte durch den Flur, und während er öffnete, setzte er mit selbstverständlicher Geste das Käppi hoch auf seine Stirn.
“Willkommen!” strahlte er, fing sich und fügte hinzu: “Welcome!”
Dieter musterte ihn stirnrunzelnd und weigerte sich, in die ausgestreckte Rechte einzuschlagen. Hinter ihm wuselten dunkel gekleidete Gestalten in und aus dem Minivan, beladen mit Taschen und Schlafsäcken und, Lorenz erkannte es mit Dankbarkeit, Kissen. Die Tasmanier hatten ihre eigene Bettwäsche dabei. Ein Problem weniger.
“Danke schön.”
Die Frau erschien neben ihm wie aus dem Nichts. Lorenz fiel fast die Kappe vom Kopf. Groß, modelmager, mit langen, dunklen Haaren, die ihr um die schmalen Schultern fielen; Donnerwetter, wenn so die Trainer in Neuseeland aussahen, mußten die sich um den Fußballnachwuchs da garantiert keine Sorgen machen. Die Frau lächelte und hielt ihm die Hand hin.
“Ja dann”, sagte Lorenz verdattert. Dieter hob den letzten Koffer aus dem Wagen und tuckerte von dannen, die Rücklichter blutrot in der Dunkelheit; in der Einfahrt blieb eine Handvoll Jungs zurück, die sich mißmutig bis erwartungsvoll umsahen, dazwischen drei bis vier hochgewachsene Damen. Lorenz spürte eine Art von Panik. “Na”, sagte er etwas zu laut, “dann kommt doch alle erstmal rein!”
Die dunkelhaarige Frau lächelte wieder. “Gern”, sagte sie.
Fußballtrainer, das war ein undankbarer Job. Vor allem in der Provinz. Vor allem mit einer C-Jugendmannschaft. Und dann noch mit einer, die zu einem Viertel aus Mädchen bestand, weil es in Hasenheide nicht genug fußballinteressierte Jungs gab. Was ihm die neue Kampfsportschule nicht wegfischte, verlor Lorenz an Gameboy und Playstation. Wenn er ehrlich war, wußte er, daß die Tage seines Herzblutprojekts gezählt waren.
Seinen besten Stürmer hatte er bereits in den Sommerferien an diesen Kung Fu-Heini verloren. Danach hatten sie kein Turnier mehr gewonnen. Die Jungs (und drei Mädchen) brauchten dringend ein Erfolgserlebnis, und da kamen ihm die Tasmanier genau richtig. Obwohl, ein bißchen komisch war das ganze schon. Woher hatten sie im fernen Deerwood, Neuseeland von den Kickerbunnies gehört? Vielleicht war die Homepage, die Ludger ihm gebastelt hatte, doch zu etwas gut außer zum Geldfressen.
Zwei Stunden später waren die Gäste bei den Kickerfamilien im Dorf untergebracht, und Lorenz, eine Flasche Holsten in der Hand, fand wieder etwas zu sich. Vier waren ihm geblieben, drei Spieler und die Trainerin, und nicht zum erstenmal fragte er sich, wie er hatte vergessen oder schlichtweg übersehen können, daß es sich bei C. Legh um eine Frau handelte. C., das stand für Chloe, mit ieh am Ende, und das gh sprach man ein bißchen so aus wie ein weiches ch.
Chloe.
Wenigstens kam ihm das Haus jetzt nicht mehr so schrecklich leer vor.
Lorenz dachte an Anke, die vermutlich gerade in Petra Vossens nippesverseuchter Küche saß und Prosecco nippte, während Lilly Petras CD-Sammlung mißbilligte, und verspürte eine heimliche Freude. Es war alles viel einfacher, als Anke prophezeit hatte. Das waren wohlerzogene, stille Jungs, keine Fußballrabauken; man merkte kaum, daß sie da waren. Nicht mal was zu essen wollten sie. Und sie sprachen alle deutsch. Klang zwar etwas seltsam, aber durchaus verständlich.
“Siebenbürger Sachsen”, hatte Chloe (Chloe!) ihm erklärt; erst vor etwa 150 Jahren waren sie nach Neuseeland emigriert, wegen der politischen Lage. Eine traditionsbewußte Volksgruppe, die stolz auf ihre Wurzeln war und ihr Brauchtum pflegte. Lorenz dachte an fernöstliche Kampfkunst und japanische Unterhaltungselektronik und fand, daß die Leute hier in Norddeutschland sich da ruhig eine Scheibe abschneiden konnten. Zum Beispiel, welche Sportart konnte denn deutscher sein als Fußball? Na?
Lorenz musterte das Knabentrio, das sich um den Fernseher geschart hatte. Hübsche Jungs hatten sie da in Tasmanien. Hoffentlich gab das keine Probleme. Lorenz hatte eine gewisse Ahnung, daß einer der Kleinknecht-Zwillinge ein Auge auf Püppi Abel geworfen hatte, und Marcel Militzki wurde immer noch etwas lauter und noch etwas lustiger, wenn Lilly vorbeikam. Obwohl, vielleicht verschaffte ihnen diese Rivalität sogar einen Vorteil.
Er genehmigte sich einen langen Schluck, bevor er sich an seine Manieren erinnerte: “Ein Bier kann ich Ihnen doch anbieten?”
Chloe schenkte ihm ein Lächeln, das in seinem Innern Kohlen erglühen ließ. Meine Güte, was für Lippen; prall und glänzend wie Kirschen. Sie legte ihm eine schmale Hand auf den Arm.
“Aber gern”, sagte sie an seinem Ohr, und dann sprach sie seinen Namen aus, daß er klang wie ein exotisches, geheimnisvolles Wort.
“Süß”, sagte Püppi Abel und musterte die Gegnermannschaft mit Kennerblick. “Sucht euch aus, wen ihr wollt, aber der Blonde gehört mir.”
Lilly rollte die Augen, aber Tjorven ließ sich nicht einmal zu einer verächtlichen Reaktion herab. Sie zog ihren Schnürsenkel straff. In jeder anderen Mannschaft hätte sie sich längst einen Anschiß wegen ihrer Schuhe eingefangen, aber Tjorven beharrte darauf, daß die zerlöcherten, ausgefransten Chucks ihr Glück brachten, und Lorenz konnte sich nicht leisten, noch einen Spieler zu verlieren, nicht mal ein Mädchen.
“Die Tussi wohnt bei euch, oder?” Tjorven sah immer noch nicht auf. Bei ihr konnte man nie genau sagen, wie sie etwas meinte. Lilly hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. Natürlich wußten alle, daß sie und Mama zu Tante Petra gezogen waren.
“Ja.” Sie gab Püppi einen Stups. “Dein Blondi übrigens auch.”
“Echt?” Püppis Augen leuchteten. Ihr Blick hing an den Jungs auf dem Spielfeld, die sich so lässig warmspielten, daß es demoralisierend war. Die hatten sich nicht mal eingelaufen. Gegen ihre drahtigen, unaufdringlich muskulösen Körper sahen die Hasenheidener Bubis ziemlich alt aus. Kein Wunder, daß Lorenz so blaß war. “Wie heißt er, weißt du das?”
“Sam”, sagte Lilly. “Glaube ich.”
Püppi nickte, als gäbe es da etwas zu nicken. “Wir haben die beiden da drüben”, erklärte sie mit kurzer Geste, “den mit den langen Haaren und den kleinen Punk da. Nathan und Shaun. Was haben die eigentlich für blöde Nachnamen in Neuseeland, sagt mal? Gruffner und Kootz. Nee, echt nicht.”
“Dann behältst du eben deinen Namen bei der Hochzeit”, meinte Tjorven trocken und stand endlich auf.
Katastrophe, dachte Lorenz nach der ersten Halbzeit, oder eher Massaker. Das gab’s doch wohl nicht. Er war so müde, daß es ihm schwerfiel, sich auf das Spiel zu konzentrieren, und was er sah, machte ihn nur noch müder. Elegant unterliefen die Tasmanier jeden Vorstoß der Bunnies; ihr Torwart lehnte nur am Pfosten. Dabei war Marcel gut heute, viel besser als in der ganzen Saison; es tat Lorenz in der Seele weh, den Jungen wieder und wieder scheitern zu sehen. Und dann wurde Marcel wütend und vergeigte den Ball. Tor für die Deerwood Devils.
Lorenz kratzte sich den Skalp unter der Kappe. Mist, verdammter.
Auf der anderen Seite des Spielfelds, schön, dunkel und schweigend, Chloe.
Haua, haua, haua. Besser nicht zu lange hinsehen. Zuviele Augen auf der Tribüne. Ankes zum Beispiel, die ihn von ihrem Stammplatz hinter dem Gegnertor aus sehr demonstrativ keines Blickes würdigte.
Ein Johlen, gefolgt von plötzlichem Schweigen; die Kickerbunnies hatten erneut den Ball verloren. Shaun lief vor, und im nächsten Moment hatten die Gastgeber den zweiten Treffer kassiert.
Na gut, verwunderlich war das eigentlich nicht. In Deerwood nahmen sie ihren Fußball beneidenswert ernst. Chloe tat offenbar nichts anderes, als für ihre Burschen Freundschaftsturniere zu organisieren und in den großen Ferien mit ihnen in aller Herren Länder zu reisen. Jetzt gerade kamen sie von einem Spiel in Dänemark. Und mit so einem Namen konnte man auch nur gewinnen.
Kickerbunnies, na ja.
Was hatte es für ein Theater um den Mannschaftsnamen gegeben; vierzehn kleine Jungs, die lautstark beteuerten, sie wären aber keine “Bunnies”. Der Gegenvorschlag, “Bunnykickers”, hatte dann die Mädchen aufgebracht. Und “FC Hasenheide” verbat Lorenz sich, nachdem Evert und Voß vom SV sich so ins Hemd gemacht hatten wegen der Platzzeiten. Als Ausgleich zum Namen trugen die Kickerbunnies einen feuerschnaubenden Cartoonhasen mit kampflustig geblecktem Pitbullgebiß auf dem Trikot, aber das rettete heute auch nichts.
Ein leichter Regen nieselte auf sie nieder, als hätten sie September und nicht kurz vor Weihnachten, und es war nicht einmal kalt. Lorenz hätte schwitzen müssen in seiner Steppjacke. Tatsächlich stand es ihm kühl auf der Stirn, hinter dem Band des Käppis, aber Lorenz fühlte sich verfroren, wie unausgeschlafen. Dafür waren die Lichter umso gleißender.
Kurz vor vier, und der Himmel schon duster. Vor ihm flitzten die Tasmanier in ihren dunklen Trikots über das Wintergras, seltsam schemenhaft; mußte an den Scheinwerfern liegen, alles so grell. Ein schriller Pfiff, und der Schiri trennte einen der Zwillinge von dem ellenlangen Abwehrspieler mit den braunen Zotteln. “Laney” stand auf seinem Trikot.
Der Zwilling, Lorenz konnte nicht erkennen, ob es sich um Marc-Ole oder Jan-Philipp handelte, schimpfte wie ein Rohrspatz. Mit einer Lässigkeit, die entweder von Nervenstärke oder mangelnden Deutschkenntnissen zeugte, stakste Laney zu seiner Mannschaft zurück.
Lorenz fing einen Blick von Lilly auf und erkannte mit einem gewissen Erschrecken, daß er sich vielleicht besser auf das Spiel konzentrierte. Nur, das war schwierig. Und außerdem verloren sie ja sowieso. Nachher noch die Aftergame-Party im Clubhaus, Gott, ihm grauste jetzt schon.
In der Halbzeit schloß er sich auf dem Klo ein. Bloß keine Fragen beantworten, keine halbgaren Strategievorschläge simulieren, hatte doch alles keinen Sinn, und ein bißchen schlecht war ihm auch wirklich. Vielleicht wurde er ja krank. Er faßte sich an die Stirn, aber die Haut fühlte sich ganz normal an. Na, vielleicht bis morgen zum Revanchespiel.
Fünf Minuten nach Anpfiff der zweiten Spielzeit foulte Tom Laney Lilly, und für Lorenz war der Tag endgültig gelaufen.
“Ist nur ‘ne kleine Schürfwunde”, beharrte Lilly, aber Lorenz ließ nicht mit sich spaßen, und den Rest des Spiels saß sie auf der Bank, ein Handtuch an der Stirn. Toll. Püppi wäre bestimmt neidisch gewesen; keine zwei Meter entfernt hockte ihr blonder Sam und wartete darauf, eingewechselt zu werden.
“Scheißspiel”, brummte Pascal Drescher. Er saß dicht genug, daß sie ihn riechen konnte, aber sein Blick klebte an den dunkelgekleideten Devils; insbesondere den rothaarigen Mittelstürmer hatte er auf dem Kieker. Lilly senkte das Handtuch. Angelos Vater hatte es vom Vereinshaus für sie geholt; es trug das eingewebte Logo des SV Hasenheide, darunter eine Bierwerbung. Lilly tupfte sich die Stirn; blutete kaum noch. Wenn man so saß, wurde es ganz schön kühl in Spieltrikot und kurzer Hose.
“Alles okay?”
Püppis Angebeteter hatte grüne Augen. War ihr noch gar nicht aufgefallen. Lilly nickte. Der Blonde lächelte ihr zu und rückte etwas näher heran.
“Tut mir leid, das mit Tom. Manchmal ist er ein wenig...” Seine Augen wanderten, als könnten sie das Wort finden, das er suchte, und blieben an dem fleckigen Handtuch hängen. “Gierig”, sagte Sam.
Lilly krauste Stirn und Nase gleichermaßen. “Vielleicht sollte er besser Rugby spielen”, meinte sie in neutralem Tonfall. Sam winkte ab.
“Gibt’s bei uns nicht. An unserer Schule wird Fußball gespielt. Die haben es da gern sehr europäisch. Alte Heimat und so.”
Er zwinkerte. Lilly, für einen Moment sprachlos, sagte nur: “Ach so.”
Vor ihr hatte Lorenz seine Kickerbunnies-Kappe abgenommen und umklammerte sie mit beiden Händen. Das war immer ein schlechtes Zeichen. Im nächsten Moment fiel ein weiteres Tor für die Tasmanier. Der rechte Jubel wollte sich nicht einstellen, aber wenigstens pfiff keiner.
“Ihr spielt nicht besonders gut”, meinte Sam gelassen. Lilly funkelte ihn an.
“Nein. Ihr spielt besser. Das heißt noch lange nicht, daß wir nicht gut spielen.”
Sam lachte. “Ja, fein. Whatever.” Er stützte die Ellenbogen auf die Knie. “Wahrscheinlich sind wir einfach schon länger dabei als ihr.”
Lilly, die zum erstenmal kurz vor ihrer Einschulung auf einem Spielfeld gestanden hatte, sah sich zu einem weiteren bösen Blick gezwungen. “Vielleicht gibt’s bei uns einfach mehr, was man sonst machen kann. Wie ich das verstanden habe, ist euer Deerwood ein ziemliches Kaff.”
Sam gab sich mit dem vorbeitrabenden Caleb ein schnelles high five, bevor er antwortete. “Das stimmt”, sagte er im selben gelassenen Tonfall. “Wenn man bei uns nicht Fußball spielt, fühlt man sich wie lebendig begraben. Das ist die einzige Möglichkeit, mal rauszukommen. Ich glaube, ohne die Mannschaft wäre ich schon lange tot.”
Klang wie Lorenz. Lilly fragte sich, ob in Deerwood die Ehen der Trainer auch so strapaziert waren, oder ob Mama einfach nur mal wieder übertreiben mußte.
“Bei uns ist jetzt Sommer”, fügte Sam hinzu, “wenn man da nicht verschwindet, trocknet einem das Gehirn ein. Die Hitze.” Er verzog das Gesicht. “Und natürlich alles voller Touristen.”
Ja, klar. Die verirrten sich auch gerade nach Deerwood. “Da werden doch bestimmt ein paar hübsche Mädchen dabei sein”, stichelte Lilly, obwohl sie sich wie Lorenz vorkam. Lorenz, wenn er witzig sein wollte.
Sam lächelte auf eine Art, die Püppi auf der Stelle jede Freundschaft hätte abbrechen lassen. Lilly wollte wegsehen und konnte es nicht; schöne Augen hatte er, das mußte der Neid ihm lassen, und dieser Mund...
“Vielleicht”, sagte Sam halblaut, “ist das ein Grund, wieso Chloe uns um diese Jahreszeit immer durch die Welt schleppt”, und er gab ihr einen leichten Stoß in die Seite. Sein Lachen ließ jeden Gedanken an Lippen und Augen zerstieben, und mit plötzlicher Ernüchterung sah Lilly, wie Nr. 03 mit den terrierhaften Augenbrauen sehr selbstverständlich Tjorven aus dem Weg kegelte, daß sie sich auf dem Winterrasen überschlug.
Schrille Pfiffe von der Tribüne, der Schiri schritt ein, aber Tjorven stand bereits wieder auf den Beinen, das Gesicht umweht von langen Strähnen, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatten. Sie war blaß, aber ihre Augen funkelten. Ihr Blick klebte am Rücken von Nr. 03, der bereits wieder inmitten seiner Teamkollegen untergetaucht war; “Nemence” stand da, und zum erstenmal wurde Lilly bewußt, daß auch die Kickerbunnies ihre Namen auf den billigen Copyshop-Trikots trugen. Der Gedanke machte sie unbehaglich.
Noch zehn Minuten, und das Spiel war vorbei. Natürlich verloren die Bunnies haushoch, sieben zu null stand es jetzt, das hatten sie noch nicht mal gegen die Buxtehuder Butzemänner erlebt, und die spielten immerhin Bezirksliga.
Lilly griff sich ihr Handtuch und stapfte an den verbliebenen Zuschauern vorbei zum Clubhaus.
Er war jetzt seit vier Jahren Gastronomiechef des SV Hasenheide, aber sowas hatte er noch nie gesehen. Fritz Morskeit konnte sich nur wundern. Gut, die Häschen hatten wieder verloren, aber das war doch immer so, das hieß doch nicht, daß die hier jetzt trübselig rumstehen mußten, im Gegenteil – sonst wurde doch immer gefeiert wie blöd! Jetzt erst recht und so!
Und wie leer es war. Von den, na, was waren die nochmal – den Australiern hatte sich bestimmt die Hälfte nach Hause fahren lassen. Gewinnen machte wohl müde; na gut, damit besaß der FC Kickerbunnies keine Erfahrung. Aber sonst kehrten die Fußballmütter immer nochmal für einen kleinen Absacker bei ihm ein. Heute waren die einzigen Frauen im Raum die australischen Betreuerinnen.
Obwohl, nicht, daß er sich beschwerte; gegen die mit den hüftlangen Locken kam seine Simone nicht an, gar kein Thema. Und die Trainerin... na, wie die den Kopf mit Lorenz Paape zusammensteckte, da konnte man ja auf Ideen kommen! Gut, daß Anke nicht da war, sonst gab es vermutlich direkt die nächste Scheidung im Dorf.
Er drehte die Musik höher und wieder leiser. Die Kinder hatten heute wohl keine Lust auf Tanzen, verstand man ja auch. Sein Angelo trank jetzt schon die fünfte Cola; wenigstens Light, nicht, daß er am Ende wieder zu fett zum Laufen war. Obwohl Fritz persönlich Judo oder sowas ja besser gefunden hätte für einen Jungen, oder nicht gerade Judo, dieses andere da – Ju Jitsu. Jutsi. Jiu. Ach, egal.
“Noch einen Kiba?”
Menschenskinder, die kleine Möhrs, die bekam die Mundwinkel auch nicht hoch. Traniges Nicken. Wie sauer die gewesen war auf diesen Australio, ein Gesicht, als würde sie ihn gleich umnieten. Nicht mal jetzt hatte der den Anstand, sich zu entschuldigen. Vielleicht ein bißchen zu tanzen. Saß bei seinen Kumpeln beim Flipper und glotzte durch die Gegend. Die tranken nicht mal was. Lahmer Haufen.
Tjorven nahm ihren Saft in Empfang und verschwand wieder in die Mädelecke. Was die da wohl besprachen.
“Dürfte ich Sie einmal stören?”
Es war die Gelockte. Donnerknispel, von der Bettkante stieß die wirklich keiner. Große runde dunkle Augen, das gab’s doch gar nicht, solche Augen... ob die alle so in Australien...
Die Gelockte senkte den Blick und lachte verlegen, daß es Fritz fast den Boden unter den Füßen wegzog.
“Der auch”, sagte Tjorven nur. Sie schlurfte um den Tisch herum und ließ sich auf den Stuhl fallen, den Rücken zum Fenster. Es hatte zu regnen begonnen, kaum, daß das Spiel zu Ende gewesen war; fette, kalte, silbrige Tropfen rannen die Scheibe herunter, Spinnenbeine auf dem dunklen Glas. Nächste Woche sollte Weihnachten sein.
Lilly krauste die Nase. “Wie, Angelos Vater?” Sie warf einen Blick über die Schulter, zur Theke, wo die Dünne mit der Kräuselmähne sehr engagiert in Fritz Morskeits Gesicht hineinlächelte. Niemand sonst schien es zu bemerken. Die männlichen Kickerbunnies hatten sich nach Hause verzogen oder hingen am Geräteschuppen ab und rauchten; die Devils lungerten an den Kanten des Clubraums wie Schauspieler, die auf ihren Einsatz warteten, konzentriert und doch zutiefst gelangweilt. Von den Betreuerinnen waren nur die Kräuselige und die Blonde mit dem strengen Blick geblieben. Von Lorenz keine Spur, und auch Chloe hatte sich länger nicht blicken lassen. Lilly dachte lieber nicht darüber nach.
“Ich dachte, der Pudel wohnt bei Kleinknechts”, sagte Tjorven ohne große Energie. Sie hatte das Saftglas vor sich abgestellt, ohne daraus zu trinken.
Püppi seufzte ungeduldig. “Und? Wieso seid ihr eigentlich so–”
“Der war heute gar nicht da”, fügte Tjorven im selben Tonfall hinzu. “Der Kleinknecht, meine ich. Sonst brüllt er doch immer am lautesten.”
Lilly musterte sie stirnrunzelnd. Tjorven erwiderte ihren Blick unbewegt. Nur Püppi zappelte unruhig auf ihrem Stuhl herum.
“Die Blonde”, sagte Lilly. Tjorven zuckte die Achseln.
“Bei Dreschers. Habt ihr den Drescher gesehen?”
“Nee, wieso?” Püppi sah zu den Jungs in ihren dunklen Ecken und wieder zurück. “Was ist denn mit–”
“Der ist nicht gekommen”, hörte Lilly sich sagen.
“Und dann noch die mit den Bambi-Augen. Georgia heißt die.” Endlich griff Tjorven nach ihrem Glas. Sie leerte es fast in einem Zug. “Und jetzt ratet mal, wo die wohnt.”
Lilly starrte auf den dunklen Bodensatz in Tjorvens Glas. “Dein Vater war auch nicht hier.” Tjorven nickte nur.
“Ich versteh euch nicht.” Püppi sah aus, als würde sie demnächst mit der Faust auf den Tisch schlagen. “Hallo? Hier ist ein ganzer Raum voller süßer Jungs, und ihr unterhaltet euch, wer nicht beim Spiel war? Mein Vater ist auch nicht hingegangen, na und? War doch sowieso ein Scheißspiel, und überhaupt hängt mir diese ganze Fußballkacke zum Hals raus, wir sind doch keine zehn Jahre mehr! Und übrigens...” Sie beugte sich vor, daß ihr das Haar ins Gesicht fiel.
“Mein Vater ist nicht gekommen, weil er krank ist. Der liegt mit Grippe im Bett. So. Aber das ist wahrscheinlich nicht geheimnisvoll genug für euch, oder pervers genug, oder was weiß ich.”
Die Beine ihres Stuhls schrammten über die Fliesen. “Viel Spaß noch. Ich geh jetzt tanzen.”
Lilly sah zu, wie Püppi ihr Kinn durch den Raum trug, direkt in die Schummerecke, in der Sam und Caleb lehnten. Aus den Boxen dröhnte irgendwas Uraltes aus den 80ern, wohl ein Zugeständnis an die Gäste – “I come from a land down under”, hohl, mußte man sagen, aber Püppi begann prompt im Takt zu zappeln, und nach kurzem Zögern sowie einem ironischen Lächeln untereinander schlossen die Jungs sich ihr an.
“Down Under” wurde abgelöst von “Mit Pfefferminz bin ich dein Prinz”, was schon fast komisch hätte sein können, wäre Lilly nicht die eine Zeile aus dem 80er-Lied im Ohr steckengeblieben. Sie drehte sich auf ihrem Stuhl um.
Der Platz hinter der Theke war leer; die Spulen des Cassettengeräts drehten sich unbeachtet durch ihr Programm. Von Angelos Vater und der schönen Lockenhaarigen fehlte jede Spur.
I met a strange lady, she made me nervous
Tjorvens Hand legte sich auf ihren Arm. “Gehen wir”, sagte sie.
Das Haus gehörte ihnen. Alles dunkel; kein Wagen in der Auffahrt. Lilly meinte einen Hauch von Parfum wahrzunehmen, und sie empfand eine vage Wut; als wäre Chloe widerrechtlich hier eingedrungen, als wäre sie nicht eingeladen gewesen.
Wie selbstverständlich hatte Tjorven den Paapeschen Familiencomputer hochgefahren und sich ins Internet eingeloggt. “Okay. Schauen wir uns das mal an.”
Ihre Finger klackerten über die Tastatur; “Deerwood”, hörte Lilly sie murmeln, gedehnt, als teste sie die Buchstaben auf der Zunge. Aus dem Bildschirm ergoß sich ein seltsam bläuliches Licht. Tjorven runzelte die Stirn.
Als Lilly neben sie trat, meinte sie einen Moment, Tjorven hätte sich im Land vertan. Die Webseite, die sie aufgerufen hatte, zeigte ein Meer von lila Tupfenblüten in dicken, buschigen Reihen bis hin zum Horizont, an dem blau ein paar Berge standen; über allem lag ein samtiger Himmel von tiefstem Azur. Fast konnte man den schweren Duft der Stauden riechen.
“Sieht aus wie Frankreich”, sagte Lilly.
Tjorven klickte sich durch die Seiten. “Ist aber Tasmanien. Deerwood liegt im Nordosten, genau im größten Lavendelanbaugebiet des Landes. Und weißt du was? Der blüht jetzt.”
Sie ließ Lorenz’ alten Drehstuhl quietschen. “Genau jetzt.”
“Davon haben die gar nichts erzählt.” Oder?
Alles voller Touristen, hatte Sam gesagt.
“Hängt ihnen wahrscheinlich zum Hals raus”, meinte Tjorven. “Das stinkige Kraut.”
“Ist aber praktisch. Ich hatte mal so ein Öl...”
Tjorven hörte schon gar nicht mehr zu, Lilly konnte sie leise singen hören – “Püppi ist kein Name und auch kein Getränk, und mancher muß schon rennen, wenn er nur an Püppi denkt”; augenblicklich kreiselte die blöde Melodie ebenfalls in Lillys Kopf.
“Als wir in der Provence waren”, sagte sie laut. “Damit sollte man sich einreiben, und dann half das gegen Mücken.”
Tjorvens Mund schloß sich, dafür schlug ihre Stirn auf einmal Falten. Der Stuhl quietschte erneut, als sie sich zu Lilly umdrehte.
“Was?”
“Gegen Mücken”, wiederholte Lilly geduldig. “Wenn man sich damit einschmierte, bissen die einen nicht mehr. Dafür stank man natürlich wie ein–”
Eine lange Strähne hing Tjorven ins Gesicht, wie ein Ausrufezeichen ohne Punkt. “Blutsauger”, sagte sie zum Bildschirm. “Blut. Sau. Ger. Ja klar!”
Erneutes Tippen.
“Da”, sagte Tjorven, als wäre jetzt alles geklärt.
“Nein”, sagte Lilly.
Tjorvens Augen glitzerten. Endlich schob sie sich die lose Strähne hinters Ohr.
“Doch. Siebenbürgen. Kann man auch anders nennen.” Sie lächelte finster.
“Von wegen Grippe.”
“Ich halt’s nicht aus”, sagte Lilly mit Gefühl und setzte sich auf den Boden.
Tjorven war dafür, direkt Pflöcke zu schärfen, aber Lilly wollte davon nichts hören, was ihr einen mißtrauischen Blick eintrug – “ich bin nicht Püppi”, erklärte Lilly gereizt, “hör auf, so zu glotzen.”
Sie sah zum Computerbildschirm, auf dem Google Seiten listete, die die Deerwood Devils erwähnten. England, Holland, Frankreich, Österreich; überall hatten die Devils bereits gespielt. Und jedesmal gewonnen.
“Schau dir das doch an, die bringen keine Leute um. Die kommen nur an, putzen die Gastgeber vom Feld und hinterlassen Grippe.” Sie schüttelte den Kopf. “Wir können doch niemanden umbringen, der uns nichts tut.”
Tjorvens Augen blieben schmal. “Grippe”, sagte sie. Lilly warf die Hände hoch.
“Ja gut, wie du’s halt nennen willst. Tatsache ist, daß keiner je, ich meine... die haben sich doch alle wieder erholt.”
Tjorven schwieg.
“Wie auch immer, ich bringe jedenfalls keine Leute um! Wenn du welche pfählen willst, dann machst du das alleine!”
“Wer will hier wen pfählen?”
Lilly fuhr herum. Im Türrahmen, mit starker Schlagseite und so blaß und stachelbärtig wie ein U-Bahntunnel-Penner, lehnte Lorenz. Lillys Herz blieb stehen; dann bemerkte sie, daß Chloe nicht bei ihm war.
Müde fuhr Lorenz sich mit der Hand über das Gesicht. Die Kappe saß in einem witzigen Winkel auf seinem Kopf, und das Hemd war ihm aus der Hose gerutscht. Einer seiner Schnürsenkel schleifte hinter ihm her, als er durch das Wohnzimmer zum Sofa schlurfte. “Was machst du überhaupt hier? Solltest du nicht bei deiner Mutter sein?”
Das Polster quietschte erstickt unter ihm auf.
Lilly wechselte einen Blick mit Tjorven, die ungerührt die Google-Seite zur Homepage von Bravo-TV gewechselt hatte. “Ich wollte nur was holen”, sagte sie und ärgerte sich augenblicklich über sich selbst. “Außerdem...”
Außerdem hasse ich es bei Tante Petra, und meine Mutter ist ein dummes Huhn, das keine Ahnung von Männern hat, und wenn die Welt gerecht wäre, dann wärst du mein Vater. Statt dessen dachte er nun, daß sie bloß ihre Tampons vergessen hatte.
Sie setzte sich zu ihm auf die Couch. “Lorenz? Kann ich nicht lieber hier schlafen?”
Er hatte den Nacken gegen die Rückenlehne gelegt und die Augen geschlossen, den Handrücken über der Stirn. Auch wenn er aussah, als hätte er gesoffen – Lilly konnte keinen Hauch von Alkohol an ihm riechen.
“Ich weiß nicht”, sagte er. “Deine Mutter macht sich doch bestimmt Sorgen. Und die Zimmer sind alle belegt. Die Jungs schlafen doch hier. Sam und Joshua und Caleb. Und Chloe.”
Lilly spürte eine heiße Wut. Als ob Chloe auf der Klappcouch nächtigte. “Ist ja nur noch bis übermorgen”, fügte Lorenz hinzu, alles, ohne die Augen zu öffnen.
Stumm schob Lilly sich vom Sofa und lief zur Treppe.
Das Fläschchen mit dem Lavendelöl lag ganz hinten im Schrank. Lilly kramte und suchte und schaffte es, dabei nicht zu heulen. Tjorven schlich derweil durch die Räume und zupfte an Decken und Taschen, spähte, schnupperte, forschte.
“Ich hab’s!” Lilly hob das rosa-blau-glasierte Tongefäß an die Nase. Selbst der Korken konnte den schweren, süßen Lavendelgeruch nicht in der Flasche halten. Tjorven nahm ihr das Fläschchen ab.
“Igitt”, sagte sie. “Parfümierte Rattenpisse. Willst du was sehen?” Ihr Gesicht war wie aus Granit gemeißelt, unlesbar. Lilly zuckte die Achseln und stand auf.
Erde. Die Besucher aus Tasmanien schliefen auf kleinen, flachen Leinenbeuteln, die sie in ihre Kopfkissenhüllen geschoben hatten. Aus dem einen Beutel krümelte es schwarz. Tjorven strich sich das Hexenhaar zurück.
“Kein Wunder, daß es hier riecht wie auf dem Friedhof.”
Sie friemelte den kleinen Korken aus dem Flaschenhals; im nächsten Moment hörte Lilly das Knarren der Schlafzimmertür. Als Tjorven wiederkam, wirkte sie sehr zufrieden, und der Korken steckte wieder in der Flasche.
“Weißt du was”, sagte sie, “heute schläfst du bei uns.”
“Ihr habt sie ja wohl nicht alle.” Angelo zog ein Gesicht, als hätten sie ihm einen Schluck Nagellack angeboten – ängstlich und entrüstet zugleich. Pascal und Marvin kicherten nervös, und die Zwillinge standen abseits und schwiegen wie üblich. Tjorven verzog keine Miene.
“Wollt ihr nun gewinnen oder nicht”, meinte sie in einem Tonfall, der von einer Frage weit entfernt war.
Die Jungs scharrten mit den Füßen. Sven Wawerik und Moritz Gließing waren gar nicht erst erschienen, was hieß, daß diesmal selbst die mitkämpfen mußten, die das Spiel sonst gepflegt aussaßen. Insbesondere Pascal wirkte reichlich blaß um die Nase; obwohl, das konnte auch damit zu tun haben, daß Tjorven ihn ausnahmsweise einmal eines Blickes würdigte.
“Was hat’n dies Zeuch mit Gewinn oder Verliern zu tun?” wagte Marc-Ole schließlich zu fragen. Tjorven legte den Kopf schief.
“Das dauert jetzt zu lange. Wir erklären’s euch hinterher.” Das unangenehme Lächeln kehrte auf ihre Lippen zurück. “Wenn das dann noch nötig ist.”
“Traut uns einfach”, sagte Lilly. Vielleicht gibt’s auch ein Küßchen hinterher, hätte Püppi hinzugefügt; nur, daß Sven und Moritz nicht die einzigen Ausfaller darstellten. Bei Abels ging niemand ans Telefon, und auch auf die Türklingel reagierte keiner. Lilly hatte in ihrem Leben noch keine Zigarette geraucht, aber jetzt hätte sie gern damit angefangen.
Die Jungs wirkten unbeeindruckt, aber dann trat Marcel vor. “Na gut”, sagte er, ohne Tjorven oder Lilly anzusehen. “Von mir aus.”
Der Platz war glitschig vom Regen; an sich hätte das Spiel abgeblasen werden müssen, aber keiner der Trainer scherte sich um derartige Details. Lorenz hatte sich einen Campingstuhl an den Rand des Spielfelds gestellt, von dem aus er das Match verfolgte; sein Blick war matt, und er trug weder Jacke noch Mütze, dafür hatte er den Hemdkragen aufgeknöpft, als wäre ihm heiß. Mit seinen geschwollenen Lidern und der roten Nasenspitze sah er aus wie ein fieberndes Kaninchen.
Ihm gegenüber, an der anderen Seite der Bande, stand Chloe, die Arme vor der Brust verschränkt. Auch sie, merkte Lilly, wirkte alles andere als frisch. Ihre Wangen waren überzogen von feinen Pusteln, und in regelmäßigen Abständen hustete sie in ihre Faust, daß einem angst und bange werden konnte. Anders als Lorenz war sie sehr präsent, ein hartes Glänzen in ihren Augen. Ihr Blick fand Lilly, als die Kickerbunnies auf den Platz trabten und sich auf dem matschigen Rasen warmliefen, und hielt sie fest. Kein Lächeln mehr.
Auch das Revanchespiel begannen die Devils ohne Aufwärmprogramm. Sie fächerten sich über das Feld, so selbstverständlich wie ein Wolfsrudel, und mit ebensolcher Eleganz. Da waren Sam, und schräg hinter ihm Caleb, und wie durch Zauberei zogen die Devils den Ball an sich, behielten ihn, ein Zuspiel, als träten hier Nationalligisten gegen einen Club Vorschulkinder an, und keine zwei Minuten nach Anpfiff steckten die Bunnies den ersten Treffer ein.
“So”, sagte Tjorven zu Lilly. “Und jetzt kommen wir.”
Der alte Lorenz wäre baff gewesen über den aggressiven Vorstoß seiner Mädel, die Art, wie die beiden Shaun und Matt einfach stehenließen und tief in die Abwehr der Gegner vordrangen. Die Devils schlossen sich um die Mädchen, eine Mauer aus nachtschwarzem Trikot mit roten Zeichen; Lilly mußte sich nicht umsehen, um zu wissen, daß Marcel und Jan-Philipp und die anderen von ihnen abgeschnitten waren. Sie waren allein, und da kam auch schon Caleb, und Tjorvens helle Beine, der dunkle Pferdeschwanz verschwanden aus ihrem Blickfeld.
Wie dunkel es auf einmal geworden war, als schluckten die schwarzen Shirts das Licht; nur noch der Winterhimmel, und darunter die blassen Gesichter, die glitzernden Augen ihrer Gegner. Caleb lächelte, und Lilly wußte, daß sie diesmal nicht mit einem Handtuch an der Stirn davonkommen würde.
Ein erstickter Laut – war das Tjorven gewesen? –, und dann stürzte jemand, sie konnte den dumpfen Aufprall hören, und wo, zum Henker, steckte der Ball, und der Schiri, war der auf dem Klo oder was; Calebs Stollen wetzen über das nasse Gras, die Muskeln an seinem Knie, glatt und geschmeidig unter der Haut... und dann, als wäre er in eine Glaswand gerannt, donnerte er zurück. Weiße Haut an seinen Schenkeln, als er hinschlug, die Hose hochwehte.
Lilly stand wie erstarrt. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie die Devils verwirrte Blicke tauschten. Weit entfernt ein schwingender Pferdeschwanz, und dann holte Tjorven mit langem Fohlenbein in altem Turnschuh aus und erzielte das erste Tor für die Bunnies seit etwa hundert Jahren.
Der Jubel wäre stärker ausgefallen, hätten sich mehr als eine Handvoll Menschen auf der Tribüne befunden. Lorenz hob schwach den Daumen und versank wieder in Lethargie.
Die Devils schenkten sich selbst und den Bunnies giftige Blicke und formierten sich neu; diesmal, drückten ihre Mienen aus, diesmal würde es Tjorven an den Kragen gehen. Aber Tjorven war es zufrieden, im Mittelfeld zu bleiben und Marcel seinen Job machen zu lassen; denn Marcel hatte so überraschend wie tatfreudig sein Selbstbewußtsein wiederentdeckt und rollte das Spielfeld auf, daß jeder Talentscout seine Freude gehabt hätte. Hinter ihm sorgen Jan-Philipp und Leon für den Rest. Die Devils wurden noch etwas blasser und ihre Blicke noch etwas giftiger, aber jetzt waren sie es, die geigten wie die Kleinkinder; nach einer Beinahe-Kollision mit Angelo fiel Tom Laney über seine eigenen Füße und küßte das Gras.
In der Halbzeit begann es zu schneien. Lorenz blieb trübe in seinem Gartenstuhl, als wären es wieder die Bunnies, die hier sieben Tore kassiert hatten. In der Umkleide gab es diesmal keinen Zögerer, als Tjorven ihr Sprühfläschchen für einen kleinen Auffrischer zückte.
Zwanzig Minuten in die zweite Halbzeit hinein streckten die Devils die Waffen. Nathan und Tom hatten mitten in ihren eigenen Abwehrraum gekotzt, und Sam saß seit einer Viertelstunde auf der Bank, den Kopf in den Händen. Die anderen standen mehr, als sie liefen, und schwankten mehr, als sie standen. Irgendwann konnte Chloe es nicht mehr mit ansehen; sie marschierte quer über das Spielfeld zu Lorenz in seinem Campingstuhl, und dann winkte sie den Schiri heran.
Der Umkleideraum stank wie ein billiges Bordell. Es gab kein Fenster, das man hätte öffnen können. Lilly, die erwartet hatte, ihre Nase wäre ab einem gewissen Punkt abgestumpft, merkte, wie ihr Magen flatterte. Ihr Pulli, die Winterjacke, ihre Sporttasche, alles stank. Die Jungs johlten und schlugen sich gegenseitig in die Handflächen. Langsam, wie benommen stieg Lilly in ihre Stiefel und zog sich die Jacke über.
Im Gang vor der Umkleidekabine lehnten die Devils und warteten auf sie.
Sie waren immer noch blaß, und mit ihren hochgezogenen Schultern, die Hände in den Hosentaschen, erinnerten ihre kantigen Umrisse Lilly an eine Handvoll Winterkrähen auf einem Baum. Sam hob den Kopf, als er sie sah.
“Wir wollten nur sagen, daß wir abreisen”, meinte er. Die Neonröhre über seinem Kopf summte, und ihr Licht flackerte in einem ungesunden Violett. “Heute noch.” Er wechselte einen Blick mit Shaun, der neben ihm stand.
“Jetzt gleich”, fügte er hinzu.
Ein Teil von Lilly war erleichtert, aber es war nur ein kleiner Teil. Das Unbehagen war größer. “Was ist mit Püppi? Wo ist sie?”
Sam lächelte sein Wolfslächeln, lila Schatten um die Augen. “Was soll mit ihr sein – die wird im Bett liegen und ihre Grippe auskurieren.” Jemand, es mußte Caleb sein, lachte auf.
“Die Arme”, meinte einer der anderen, Nathan vielleicht oder Joshua, “ich hab gehört, es war ein ziemlich schwerer Fall von Grippe”, und erneut lief ein Lachen durch die Reihe.
“Ja”, sagte Sam, ohne die Augen von Lilly zu nehmen. “Mit sowas ist nicht zu spaßen.”
Die Devils hatten nicht übertrieben; vor dem Vereinsgebäude stand Lorenz, Klappstuhl unter dem Arm, ins Gespräch vertieft mit Chloe, Georgia und der Kräuselhaarigen.
“–n Problem”, hörte Lilly ihn sagen, “die Sachen haben wir in einer Viertelstunde beisammen, und... oh, hallo. Seid ihr schon fertig?”
Lilly verkroch sich tiefer in ihre Jacke. Ein dichter Vorhang von Schnee senkte sich aus den Wolken; das Licht der Scheinwerfer vom Sportplatz versickerte in den pelzigen Flocken, und die Umrisse des Vereinsgebäudes konnte man nur erahnen. Chloes Blick war kälter als die Schneeluft.
“Ach, die kleine Taktikerin.” Sie lächelte, daß es Lilly den Rücken herunterlief; dann beugte sie sich vor und flüsterte: “Glückwunsch.” Lilly machte einen unwillkürlichen Schritt zurück.
“Jedenfalls”, Lorenz befaßte sich bereits wieder mit dem Gästetrio, “das bekommen wir alles hin, kein Thema.”
Er zögerte, und Lilly wußte, es ging um mehr, als das Mannschaftsgepäck aus den Häusern der Gastfamilien zu holen. Chloes Aufmerksamkeit sog sich an ihn, als wären sie die einzigen Menschen im Umkreis von drei Kilometern; sie fraß ihn förmlich auf mit ihren Augen, ihrem Lächeln, der Art, wie ihr Gesicht sich seinem zuneigte.
“Wunderbar”, sagte sie.
Dieter war nicht begeistert, daß Lorenz die Schlüssel des Minibusses von ihm haben wollte, “bei dem Wetter, Mannomann”, aber selbst hinters Lenkrad mochte er noch viel weniger. Heiligabend womöglich im Krankenhaus, nee nee. Sollte doch jemand anders im Straßengraben landen.
Sie fanden den Wagen zwei Tage vor Weihnachten, im Parkhaus am Bahnhof Hamburg-Altona.
Der Minivan war ordnungsgemäß verriegelt, ein bißchen dreckig um die Flanken, wo der Schneematsch zu gräulichen Schlieren getrocknet war; sonst alles tip-top. Die Tasmanier hatten nicht die geringste Spur hinterlassen. Lediglich auf der Konsole zwischen den beiden Frontsitzen lag eine dunkelblaue Kappe; darauf eingestickt ein feuerschnaubender Hase, die Zähne in hilflosem Zorn gebleckt.
(c) G.K. Nobelmann
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