Der himmelblaue Schmengeling
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Dezember 2004
Das Eishockeyspiel
von Ella Jung

Gelb-rote Reizüberflutung! Schals, Wimpel, Kleidung, bemalte Gesichter.

Heute spielt die DEG, Düsseldorfs Eishockey-Verein.

Mich verschlägt es zum ersten Mal zu einem Eishockeyspiel. Unsere Firma hat die Belegschaft zu diesem Event eingeladen - um den Teamgeist zu fördern.

Freiwillig gucke ich mir Sport nicht an. Weder im Fernsehen noch live. Das mag für einen Mann ungewöhnlich sein, aber Sport hat mich noch nie interessiert. Meine wenigen Besuche im Fitness-Studio fielen bisher weniger unter „körperliche Ertüchtigung“ als vielmehr unter „Kontaktpflege“. Die meisten meiner Kollegen sind Bewegungsjunkies. Wer nicht in der Muckibude dabei ist, gehört nicht dazu und erfährt nichts von internen Geschehnissen. Ich müsste mich viel öfter überwinden und hingehen. Stellt sich mir nur die Frage, ob ich überhaupt so sein möchte wie sie.

Nun bin ich also hier. Bei unserem Teamereignis. Ganz ehrlich, mir hätte auch das eine oder andere Bier in der Kneipe um die Ecke vom Büro gereicht.

18:00 Uhr.

Das Stadion füllt sich und ich stehe mittendrin. Ein Nicht-Fan umzingelt von Hardcore-Fans. Meine Kollegen haben sich der Umgebung angepasst. Gelb-rote Schals über schwarzen und grauen Anzügen. Das nenne ich ehrliche Begeisterung.

19:00 Uhr.

Die Menge bebt. In einer halben Stunde beginnt das Spiel. Über mir ein Meer von Händen. Fangesänge dröhnen durch das Stadion, übertönen fast den Lautsprecher. Ich bin froh, nicht zur gegnerischen Mannschaft zu gehören. Deren 15 Fans gehen im gelb-roten Meer gnadenlos unter. Sie und ich müssen uns dennoch keine Sorgen machen. Laut Aussage eines Kollegen sind Eishockeyfans eher friedfertige Gesellen und auf diese Worte baue ich.

Jetzt stehe ich in diesem brodelnden Mob. Ich kann nicht anders, als die Menge mit einer gewissen Distanz zu mustern. Was veranlasst Otto Normalverbraucher und Carla Durchschnitt dazu, sich in den Vereinsfarben anzumalen, ein Trikot mit Namen und Nummer des Lieblingsspielers überzustreifen und mit Wunderkerzen und Wimpel ausgestattet zu Spielen zu gehen? Ich kann nur den Kopf schütteln und mich wundern.

19:30 Uhr.

Das Spiel beginnt.

Ein Ruck geht durch die Zuschauer. Alles singt, klatscht, schreit wie auf Kommando. Der Geräuschpegel ist enorm. Aus Otto und Carla werden Superman und Wonderwoman. Wie sie so hüpfen und aus voller Kehle Schlachtrufe brüllen, strahlen sie eine nahezu unmenschliche Kraft aus. Es würde mich nicht wundern, würden sie plötzlich über den Köpfen der Anwesenden schweben.

Das Spiel ist schnell. Ich habe mich nie zuvor mit Eishockey beschäftigt und weiss gerade einmal, dass es drei Drittel à 20 Minuten gibt. Mir ist jedoch nichts bekannt von den Regeln. Geht es den anderen genauso oder sind das alles Profis?

Das erste Foul, die DEG-Fans buhen und pfeifen. Zwei Spieler haben sich ineinander verkeilt. Ihre Teamkollegen stehen um sie rum, versuchen, sie zu beruhigen. Einer der Schiedsrichter kommt auf pfeifenden Kufen angesaust. Er zeigt auf einen kleinen Verschlag an den Banden. Der DEG-Spieler löst sich vom Gegner. Dann gleitet er zum Strafverschlag, jedoch nicht, ohne dem feindlichen Spieler noch schnell einen Stoß mit dem Ellbogen zu verpassen. Eine junge Frau neben mir, Anfang zwanzig, wirft mit Wörtern um sich, die ich noch nie zuvor gehört habe. Auch ihre Gestik ist nicht von schlechten Eltern. Der Spieler schließt die Tür hinter sich und der Wettkampf geht weiter.

Pause.

Zwei Neuwagen werden hereingefahren und kommen sanft auf dem glatten Untergrund zum Stehen. Werbung muss sein, ohne Sponsoring läuft nichts heutzutage. Schade nur, dass die Stadionbildschirme nicht funktionieren und ich die Marken der Autos nicht erkennen kann. Viele andere Männer werden dies in wenigen Momenten noch mehr bedauern, denn nun werden zwei Matten auf dem Eis ausgebreitet und die Cheerleader des Vereins kommen aufs Spielfeld - langsam und vorsichtig, aber dennoch wild PomPom schwingend. Zehn junge, hoffnungsfrohe Frauen. Mit netten Figuren, farbigen Kostümen und tollen Wuscheln, die sie nun zum Takt der Musik durch die Luft wirbeln lassen. Diese Frauen sind einfach alles. Und ganz besonders eines: talentfrei.

Ich beobachte mit Erstaunen, wie die Mädchen es schaffen, zu einer Melodie zehn verschiedenen Rhythmen nachzutanzen. Leider führt dies auch dazu, dass die Choreographie nicht mehr eingehalten werden kann und während die Menge eben noch jubelte, geht plötzlich ein Raunen durch die Reihen. Zwei der Frauen sind bei einer mehr oder weniger graziösen Drehung schwungvoll gegeneinander geprallt. Vier PomPoms fliegen durch die Luft, während zwei zarte Hinterteile mit dem harten Boden Bekanntschaft machen. Das Publikum hält die Luft an. Atemlose Stille unter den Zuschauern.

Die Musik dröhnt weiter aus den Boxen, während die restlichen Mädchen tanzen, als wollten sie diese Situation ungeschehen machen. Die beiden gestürzten Cheerleader springen auf. Mit einem gequälten Lächeln laufen sie zu ihren PomPoms und gesellen sich wieder zu ihren Mitstreiterinnen. Hatte ich schon erwähnt, dass die Farben der DEG gelb und rot sind? So rot wie die Köpfe der beiden gefallenen Mädchen.

Das Spiel geht weiter. Links von mir dröhnt es aus Tausenden von Stimmen: „Kämpfen!“ und sofort kommt von rechts die Antwort: „Und siegen!“ Dazu dieser tranceartige Klatschrhythmus. Bam-bam-ba-dam-bam! Bam-bam-ba-dam-bam!

Dieses Klatschen. Es lullt mich ein, durchdringt mein Denken, betäubt mich. Meine Beine wollen nicht mehr ruhig stehen bleiben. Meine Arme weigern sich, den Gesetzen der Schwerkraft zu folgen. Was ist mit meinem Kopf? Er bewegt sich im Takt der schlagenden Hände. Was geschieht mit mir?

Plötzlich ist da dieser Funke. Ich blicke auf die Spielfläche, höre die Gesänge der Zuschauer, nehme deutlich das Geräusch der Kufen auf dem Eis wahr. Der Geruch von Pommes Frites steigt mir in die Nase. Meine Füße sind etwas kalt, aber ich friere nicht. Als ich mit der Hand an meine Wange fasse, spüre ich, dass ich glühe.

Da! Eine Torchance für die DEG! Ich springe hoch, reiße die Arme in die Luft und brülle: „Jaaaa!“ Genau 3 Sekunden später stehe ich wieder in der Masse und schaue um mich. Hat jemand meinen Ausbruch bemerkt? Guckt jemand schräg? Nein, niemand beachtet mich. Warum auch? Habe ich mich doch eben zum ersten Mal wie „einer von ihnen“ benommen.

Die Stimmung steigert sich in unvorstellbare Sphären. Die Fans werden von der Hoffnung auf Sieg getragen. Sie sind berauscht von der Atmosphäre. Aber vielleicht tut auch das Bier sein übriges.

Im zweiten Drittel fällt das erste Tor. Ich stehe nicht mehr distanziert in der Menge, ich tanze, springe, schreie, falle fremden Menschen um den Hals. Ich weigere mich auch nicht, als mir jemand seinen gelb-roten Schal um den Hals legt. Die Schlachtrufe sind schnell auswendig gelernt, der Klatschrhythmus auch. Ich bin einer von ihnen, nicht mehr nur Konrad Wagner aus dem Versand.

Ich bin ein gelb-roter Bruder.

Die DEG gewinnt mit drei zu vier nach Penaltyschießen. Das Bier, das mir einer der Fans in seiner Euphorie über den Kopf gegossen hat, klebt auf meiner Haut. Es stört mich nicht. Die junge Frau, die beim ersten Foul so herrlich geflucht hat, hängt an meinem Arm und bringt mir neue Schimpfwörter bei. Meine Kollegen sind schon gegangen. Sie müssen nach Hause zu Frau und Kind. Ich feiere weiter. Unseren Sieg!

Epilog

Am nächsten Morgen ist alles wie immer. Die Kollegen sind wach und ausgeschlafen, das Eishockeyspiel wird nur noch kurz bei der Kaffeepause um neun Uhr erwähnt. Für sie war es nichts Besonders.

Ihnen fehlt der Wimpel, den ich in der untersten Schublade meines Schreibtisches beheimatet habe.

Sie haben nicht das Rauschen in den Ohren und den immer wiederkehrenden Fangesang im Kopf.

Bei ihnen liegt Zuhause auch keine junge Frau im Bett, die ihnen letzte Nacht noch mehr schlimme Wörter ins Ohr geflüstert hat.

Und für die ihr Herz gelb-rot schlägt.


Feedback gerne an: frauvonheute@yahoo.de.

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