Das alte Buch Mamsell
Das alte Buch Mamsell
Peggy Wehmeier zeigt in diesem Buch, dass Märchen für kleine und große Leute interessant sein können - und dass sich auch schwere Inhalte wie der Tod für Kinder verstehbar machen lassen.
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Dezember 2004
Sportsgeist
von Judith Lasar und Elsa Rieger

„Himmel, was ist das heut wieder fad ...“
„Du könntest dir mit dem Verbuchen der Eingangsrechnungen die Zeit vertreiben.“ Linda lackierte ihre Nägel.
„Ach nö. Das heb ich für die Neue auf. Wann kommt die eigentlich?“
„Sie sollte jeden Moment da sein, wenn sie pünktlich ist.“
Linda schraubte das Nagellackfläschchen mit spitzen Fingern zu und verstaute es in der Schreibtischlade. Dann fächelte sie mit den Händen, um die Pracht trocknen zu lassen.
Kitty wogte in ihrer Üppigkeit durch das Büro und pflanzte ihren Hintern auf Lindas Schreibtisch. Die Kollegin war zaundürr, busen- und hüftlos.
„Na, was sagst?“ Sie streckte Linda ihr vollendetes Werk entgegen: silber-violett gestreifte Studionägel. Kitty stieß spitze Schreie des Entzückens aus.
In diesem Moment wurde die Tür aufgerissen und der immer dynamische Juniorchef der Steuerberatungskanzlei kam elastischen Schrittes herein. Kitty sprang vom Schreibtisch. Hinter dem Chef stand die Neue.
„Darf ich vorstellen, das ist Christine.“
Der Juniorchef legte den Arm um Christines Schultern.
„Christine, das sind Linda und Kitty, deine Kolleginnen. Wir nennen uns alle beim Vornamen. Ich habe ein paar Semester in den USA studiert und finde das prima.“
Christine strich sich mechanisch eine nichtvorhandene Harrsträhne aus der Stirn. Hörte damit auf, als ihr neuer Chef die Umarmung löste.

„Ich erwarte eure volle Unterstützung, meine Damen. Auf gute Zusammenarbeit, nicht wahr!“ Junior nickte langsam, betonte das Wort ‚Zusammenarbeit’ überdeutlich. Dann stob er davon. Christine blieb mitten im Zimmer stehen und sah sich um.

Wie auf Kommando kräuselten Kitty und Linda die rot ausgemalten Lippen. „Herzlich willkommen!“, erklang das Duett, sie streckten ihr die Hände entgegen.
„Danke ...“, flüsterte Christine und ging im Krebsgang zu dem dritten Schreibtisch. Ihr unsteter Blick wanderte von einem Möbelstück zum nächsten, streifte aber niemals die Kolleginnen. „Ist das mein Arbeitsplatz?“, sagte sie zum Teppichboden. Ohne eine Antwort abzuwarten strich sie über die Schreibtischunterlage. Christine schob die Schreibtischlampe von rechts nach links und sortierte die Stifte der Größe nach. Dann verharrte sie, biss auf ihrer Unterlippe herum. Wie eine Marionette stakste sie zur Tür. „Bis morgen“, sagte sie und ging hinaus. Linda rührte sich erst nach einer Schweigeminute. Sie schubste Kitty mit dem Ellbogen in die Seite.
„Na ...?“
Die Kollegin seufzte, zog den knappen Pullover über die drallen Hüften.
„Tja ...“, sagte sie.
Linda stöckelte hinter ihren Schreibtisch zurück, Kitty zu dem ihren.
„Erinnerst du dich noch an diese Klara was-weiß-ich? Die wir über zwei Monate hier hatten. Das war eine schlechte Leistung. Wir dachten schon, sie würde bleiben.“, sagte Linda. Planlos schichtete sie einen Aktenberg um, dann wieder zurück.
„Ja! Aber dann warf sie ja doch noch das Handtuch.“ Kitty kicherte.
„Die in Orangensaft getränkten Akten hat sie nicht überlebt.“
Linda entblößte ihre Zähne. „Erinnerst du nicht noch, wie alles anfing vor drei Jahren?“
“Als wäre es gestern gewesen ...“, antwortete Kitty, „ich weiß sogar noch, wie die geheißen hat: Gundula Hirsch.“
„Haha, die Hirschkuh! Da waren wir zwei noch nicht so meisterlich wie heute. Aber immerhin, die Fotomontage von ihr mit Junior. Das Gesicht der gehörnten Ehefrau hätte ich gern gesehen ... damals war er wirklich ein Junior. Aber naiv ist er heute noch. Es ist seine Schuld, dass wir diesen Sport treiben.“
„Na sicher doch! Seit damals will er uns alle paar Monate eine Neue aufs Auge drücken, aber nicht mit uns, was?
Womöglich will diese da sich auch profilieren und unseren gemütlichen Arbeitsplatz damit gefährden. Junior schwärmte ja in den höchsten Tönen von ihren Referenzen ...“
„Apropos“, sagte Kitty. „Die Steuererklärungen Meyer, Klingel, Maringer sollten bis gestern aus dem Haus. Vielleicht sollten wir ...“
Linda zog einen Flunsch. „Och nö, das heben wir für Christine auf.“
„Ist das mein Arbeitsplatz?“ äffte Linda sie nach.
„Recht hast du!“ antwortete Kitty, „außerdem verschwindet Junior gleich zum Golfen, ich geh dann zum Friseur. Übrigens habe ich uns was Feines mitgebracht.“ Sie zog eine Schachtel mit Konfekt aus der Lade.

Christine saß schon an ihrem Schreibtisch, als Linda und Kitty verspätet das Büro betraten. Stumm blieb sie in die Papiere vertieft, reagierte nicht auf den Guten Morgen Gruß. Die beiden verdrehten die Augen. Kitty stampfte wie jeden Morgen zum Fenster, öffnete es. Außer Frischluft drang eine Menge Lärm herein. Motorengeräusche, Gehupe, das schrille Geläut der Tram. Christine fuhr hoch und knallte das Fenster zu. Die plötzliche Stille war atemberaubend und Linda machte ein zorniges Gesicht. „Erlaube mal!“ Sie riss das Fenster wieder auf und verstellte Christine den Weg.
Der Junior steckte seinen Kopf durch die Tür. „Guten Morgen, meine Damen.“ Er rieb sich mit beiden Händen die Oberarme. „Brrrr, machen Sie doch um Himmels willen das Fenster zu. Es ist Dezember! Wir wollen doch nicht, dass Christine sich erkältet, nicht wahr? Das wäre ein großer Schaden für die Kanzlei, nicht wahr? Bitte stellen Sie die nächste Stunde keine Anrufe durch.“ Er knallte die Tür hinter sich zu. Kitty und Linda tauschten Blicke. Kurz darauf verließen sie hoch erhobenen Hauptes und mit herausgestreckter Brust das Zimmer.
„Plan B, Kitty!“ murmelte Linda und schloss hinter sich zu. Kitty plumpste auf den Klodeckel.
„Plan B, Plan B, etwas deutlicher, bitte!“
„Na hör mal, verrenke dir ruhig auch mal das Hirn, oder kannst du nur Pralinen fressen?“
Kitty hielt die Luft an. Ihr Gesicht wurde dunkelrot.
„Nicht aufregen, bitte, ich habe es doch gar nicht so gemeint!“
„Das fehlte noch, dass wir uns jetzt in die Haare kriegen. Also los, was schlägst du vor?“
Die Klinke bewegte sich. „Besetzt!“, schrie Linda, „kann man nicht mal in Ruhe sch….“
Kitty legte den Zeigefinger an die geschminkten Lippen.
„Das ist sie“, flüsterte Linda und grinste böse. Kitty fing an, die Klopapierrolle abzuwickeln, formte Bällchen, hievte ihren Körper vom Deckel und ließ die Papierbällchen in die Schüssel fallen.
Linda nickte anerkennend. Sie presste das Ohr auf die Tür. „Nichts.“ ,
öffnete und tippelte in die Kaffeeküche. Kitty spülte einmal und als es zu gurgeln anfing, folgte sie ihrer Kollegin.

Christine atmete auf, als die Toilette endlich frei war. Mit einem Sprühfläschchen Sagrotan machte sie sich an die Arbeit, hob den Deckel hoch und drückte den Knopf mit verzogenem Gesicht. Sie erstarrte. Milchige Schleier drehten sich wie Geister in der Schüssel, kleine Luftblasen kamen an die Oberfläche. Sie ließ den Deckel fallen und rannte ins Herrenklo.
Als sie ihre Hose hochzog, bewegte sich die Klinke.
„Gibt es hier noch einen Mann außer mir?“ Der Junior entfernte sich.
Christine hielt die Hand vor den Mund, blieb reglos. Kurz darauf knallte eine Tür.
„Lindaaah, Kittiieeeh, iieehh! Was ist denn das für eine Sauerei? Nachdem ihr die Reinigungsfrau so schikaniert habt, dass sie krank geschrieben ist,
bringt das sofort wieder in Ordnung!“
Christine schlich unbemerkt ins Büro zurück.

Lindas Rückenwirbel zeichneten sich durch die Dolce&Gabbana Bluse ab, wie die zackenartigen Verknöcherungen eines Sauriers, so tief beugte sie sich über Juniors Schreibtisch.
„Die ist doch nicht ganz richtig im Kopf!“ zischte sie. Kitty stand dahinter und tätschelte Lindas Rücken. Sie nickte bestätigend, das Doppelkinn wippte. „Seit einer Woche geht das so mit der! Meine Nerven sind zerrüttet, Junior. Allein schon, wie sie dauernd auf der Innenseite ihrer Unterlippe herumkaut. Ekelig! Dann lässt sie uns nie lüften, nie! Und zu allem, ewig diese beschissene Musik vom Discman, Stunde um Stunde, den ganzen Tag. Ich kann es nicht mehr hören!“
Linda richtete sich auf. Junior wischte sich über die Stirn. „Was für Musik ist es denn?“
„Keine Ahnung“, antworte Linda ihr Pfefferminz kauend. Kitty schlug mit der Faust gegen die Handfläche. „Ich habe mal nachgeschaut“, sie wackelte mit dem Kopf, „Klaviersonaten, gespielt von einem David Helfgott. Ich hab das Gedudel im Ohr, sogar beim Einschlafen, als würde der kleine Mann in meinem Ohr auf einem Klavier herumhämmern.
Junior. Nicht auszuhalten, echt! Dann tut sie ständig so, als wäre alles, was wir sagen, Blödsinn! Sie macht immer das Gegenteil von dem, was man erwartet. So geht das nicht weiter!“
Den letzten Satz wiederholte Linda und stampfte mit dem Fuß auf.
Juniors Blick glitt in die Ferne. „David Helfgott ... den Namen kenne ich doch ...“ Er klatschte sich auf den Schenkel. „Ja, natürlich! Ein begnadeter Pianist! Sein Leben wurde verfilmt. ‚Shine’. Ein Genie, er war jahrelang in der Nervenheilanstalt. Genie und Wahnsinn, sozusagen ...“
„Diese Person in unserem Büro ist auch wahnsinnig! Bitte, Chef, tun Sie was!“
„Warum sollte ich? Ihre Zeugnisse sind hervorragend und in Buchhaltung ist sie unschlagbar. Sie arbeitet schnell und gewissenhaft. Also bitte, meine Damen, reißen Sie sich zusammen!“ Damit scheuchte er Linda und Kitty wie lästige Fliegen aus seinem Zimmer.

„Ah!“, ertönte Lindas Stimme aus dem Büro über den Flur, dann ein ‚Psst’, aus Kittys Mund. Junior verschloss die Ohren und schickte seiner Ehefrau, die damals nach der getürkten Fotosache durch sein Bußgeschenk, einem schnittigen Alpha Spider, versöhnt worden war, eine SMS: Diese Weiber sind einfach grauenhaft, Liebes.
Währenddessen wüteten Kitty und Linda in und auf Christines Schreibtisch. Das Objekt ihres Hasses hatte heute einen freien Tag. Sie warfen sämtliche Akten durcheinander, mischten die Belege wie
Spielkarten und hinterließen einen zerfledderten Haufen. Kitty riss die Schubladen auf, durchwühlte Christines akribische Ordnung, sogar die Bonbons, die sie ihr immer wieder angeboten hatte, waren nach Farben von hell bis dunkel aufgereiht. „Wieso isst die nicht, was ich ihr schenke?“ Sie nahm gleich drei der Pralinen und stopfte sie bebend vor Zorn in den Mund. Die Schokolade quoll heraus und setzte sich in den Mundwinkeln fest. „Friss nicht wie ein Schwein! Du wirst immer fetter, Kitty!“, mahnte Linda. Sie schlang ihre schmalen Hände um die Taille.
Kittys Augen zogen sich zu Schlitzen zusammen. Immer noch kauend spuckte sie: “Du magersüchtige, einsame Schreckschraube, du! Halt einfach den Mund. Im Gegensatz zu dir habe ich einen Lover, meine Liebe. Du bist ja schon vertrocknet zwischen den Beinen, ha!“
Gerade wollte Linda zurückschlagen, da öffnete sich die Tür. Christine stand dort, die Kopfhörer auf den Ohren. Ihre Augen weiteten sich.
Sie biss sich auf die Unterlippe, begann mit zitternder Hand an einer Haarsträhne zu ziehen. Mit der anderen drehte sie den Discman auf volle Lautstärke. Nur ihr keuchender Atem und `Claire de Lune’ waren
zu hören. Sonst nichts. Linda und Kitty bewegten sich nicht. Dann brach der Sturm los. Christine riss die Schreibtischlampe an sich und holte aus. Kitty ging in Deckung, aber der Schirm aus Metall streifte ihren Oberarm. „Au!“, heulte sie auf. Linda versteckte sich hinter ihrem Tisch, doch Christine hob den Drehstuhl hoch und ließ ihn auf sie fallen. „Hilffeeee! Sie dreht durch.“ Kitty jammerte und zitterte.
Christine erstarrte augenblicklich, machte auf dem Absatz kehrt und begann ihren Arbeitsplatz aufzuräumen.
Es dauerte lange, bis Linda und Kitty sich wieder hervorwagten. Junior sagte zu alledem nichts.
Die Tage bis zum Heiligabend schlichen dahin. Sogar Kitty und Linda verbrachten die meiste Zeit an ihrem Schreibtisch, zwischen ihnen und Christine herrschte eisiges Schweigen. Sie arbeiteten verbissen über ihren Akten., doch bald fingen sie zu tuscheln an. Ihr Thema war ein Collier von Bulgari, das sich der Junior vor der Nase hatte wegschnappen lassen, weil ihm eine Partie Golf wichtiger gewesen war, als das teure Stück rechtzeitig zu besorgen. Er dampfte übelgelaunt vor sich hin.
Linda beobachtete Kitty dabei, wie sie ihre Lade abschloss.
„Was tust du da?“, tuschelte sie, „seit wann haben wir Geheimnisse voreinander?“ Kitty verdrehte die Augen.
„Guck nicht immer so wie ein Mops, der sich aufs Essen freut!“
Kitty zischte. Junior rief: „Christine, kommen Sie bitte in mein Büro, ich möchte mit Ihnen das Procedere mit den Mahnbescheiden durchgehen.“
Kaum war sie draußen, grinste Kitty geheimnisvoll.
„Na los, jetzt sag schon, was treibst du da?“
Kitty öffnete die Schublade und hielt ihrer Kollegin ein paar Rechnungen vor die spitze Nase.
„Und?“
„Naja, was glaubst du, wird mit unserem Schatzilein passieren, wenn sie das da vergisst?“
Lindas Gesichtsausdruck wechselte. „Boah Kitty, du besitzt wahrhaftig Sportsgeist. Du gibst nie auf! Das hätte ich mich nicht getraut! Klasse! So hauen wir sie in die Pfanne.“
Kittys Augen leuchteten vor Stolz. Als sie ihre Beute, die bis zum 31. 12. spätestens um 23:59 als Mahnbescheide bei Gericht eingehen musste, wieder unter den Bonbonnieren versteckte, griff sie nicht, wie üblich, zu. Lindas Lob war süß genug.

Einen Tag vor Weihnachten gab es wie jedes Jahr eine kleine Feier in der Steuerkanzlei. Christine blieb über den Schlussbilanzen der Klientel sitzen. Aus dem Chefbüro drang das aufgesetzte Gelächter der Belegschaft und der Geschäftsfreunde. Sie drehte den Ton von ‚Claire de Lune’ lauter. Irgendwann kam Junior herein und legte ihr ein Präsent auf die Akte, die sie bearbeitete. Christine zuckte zusammen, ihre Augenlider flatterten, der Körper wurde starr. Dann schüttelte sie ruckartig den Kopf.
„Christine, ich bitte Sie! Es ist nur eine kleine Anerkennung für Ihre Leistungen. Machen Sie es doch auf!“
„Ich kann das nicht annehmen.“
„Aber, meine Liebe. Dann machen Sie es daheim unter Ihrem Baum auf. Ich muss wieder, sonst stellen die mir alles auf den Kopf, der Champagner, Sie wissen schon ...“ Junior verließ das Zimmer.
Christine schob das pinkfarbene Ding mit dem Bleistift vom Akt herunter an den Rand ihres Schreibtisches, wo es kippte und zu Boden fiel. Etwas zerbrach und der Duft von Rosen durchzog das Büro.

Am zweiten Weihnachtsfeiertag hatte Christine fast alles erledigt. Sie sperrte sorgfältig ab, da die Kanzlei erst nach Silvester wieder geöffnet wurde, und huschte zwischen den weihnachtsfrohen Menschen heimwärts in ihre kleine Wohnung.
Doch Silvester war sie bereits wieder im Büro, sah die Post durch und arbeitete das Wenige auf, was übrig geblieben war.
Sie traf auf Junior, der Ruhe vor seiner Frau suchte, die ihm wegen des Colliers permanent die Hölle heiß machte.
„Ich arbeite noch etwas“, sagte Christine.
„Ich auch.“ Junior starrte hinaus in das Schneetreiben und schaukelte sich auf seinem Lederdrehsessel in Harmonie.
Christine blickte immer wieder zum Fenster, es krachte jetzt schon am frühen Nachmittag, manchmal zischte und pfiff ein Feuerwerkskörper gen Himmel. Bei jedem Knall krampfte sie sich zusammen, zog die Schulter bis zu den Ohren hoch. Systematisch begann sie ihre Schubladen auszuleeren. „Ich bleibe hier.“ Sie flüsterte alles Mögliche, als wolle sie sich selbst beschwören, hörte ihre Musik, den Ton bis zum Anschlag hochgedreht. Sie stapelte den Inhalt der Laden auf den Tisch. Dann nahm sie Stück für Stück in die Hände, begutachtete es und wies ihm seinen Platz im Schreibtisch zu. Dabei stieß sie auf mehrere Rechnungen, die mit den anderen bei Gericht als Mahnbescheide hätten eingereicht sein sollen.
Christine klopfte zaghaft.
„Immer herein!“
Sie hielt ihrem Chef die Rechnungen entgegen.
„Die lagen in meinem Schreibtisch. Ich schwöre Ihnen, ich habe keine Ahnung….“
„Aber nicht doch!“ Junior reichte ihr ein Taschentuch mit zwei gekreuzten
Golfschlägern darauf. Er blätterte den Stapel durch. „Ich kann mir schon denken, wie sich das verhält.“
Christine streckte ihre Hand nach seiner Schulter aus, nahm sie jedoch gleich wieder zurück.
„Diesmal sind sie zu weit gegangen!“ sagte er mit schmalen Lippen. „Wir machen die Bescheide jetzt fertig und ich werfe sie noch vor Mitternacht ein.“ Junior rief seine Frau an und bedauerte, nicht eben überzeugend, dass er vor Mitternacht nicht nach Hause käme.
„Christine, wenn nur ein Drittel davon bezahlen, haben Sie mir den nächsten Golfturn nach Florida gerettet.“ Er strahlte Christine an und
drückte ihr die Hälfte der Rechnungen in die Hand.
„Also los!“

Als Junior vom Gericht zurückkehrte, umspielte ein böses Grinsen seine Lippen. „Christine? Haben Sie noch etwas Zeit?“
„Ich bleibe sowieso hier, ich kann die Knallerei nicht ertragen.“
Junior zuckte mit den Schultern. „Umso besser, ich kann meine Frau nicht mehr ertragen!“ Er lachte bitter. Als Christine ihn anstarrte, seufzte er und dirigierte sie zur Tastatur. „Setzen Sie bitte zwei Kündigungen auf, die längst überfällig sind.“ Er hielt inne. „Mögen Sie Tee? Ich mache uns welchen.“
Christine nickte und tippte los. Dann schrieb sie auf zwei Zettel:
‚Denke nicht ans Gewinnen, doch denke darüber nach, wie man nicht verliert. (Gichin Funakoshi, Vater des modernen Karate). Sie setzte ihre Unterschrift darunter und schob sie in die Kuverts. .
Junior stellte die dampfende Tasse neben den Bildschirm, sagte: „Ich danke Ihnen“ und griff nach ihrer Hand , drückte sie. Christine entzog sie ihm.
„Nicht ... Nicht!“ wiederholte sie.
„Ist es, weil ich verheiratet bin? Was sind Sie so herzergreifend altmodisch.“ Junior lächelte zärtlich. Christine wurde zornig. „Ihre Frau ist mir egal! Verdammt, Sie wissen doch, dass ich autistisch bin.“
Junior nickte zerknirscht.
„Mein Gott, von zehntausend sind es mindestens zehn und kein Mensch weiß was darüber!“
„Ich hatte in den USA einen Kommilitonen, der war auch so, aber ein Genie. Natürlich war er nicht so schön, wie Sie es sind. Sie sind klug und sehen toll aus“, stotterte Junior. Christine verdrehte die Augen.
„Herrje, ich bin kein Einstein, nur eine gute Buchhalterin. Diese blöden Vorurteile, nicht jeder Autist ist gleich entstellt, ein Genie oder geistig behindert.“
„Nicht aufregen, Christine.“
„Entschuldigen Sie, ich will mich aber aufregen.“

Das Telefon klingelte und Junior kam wieder ins Stottern, als er mit seiner Frau sprach. Doch allmählich hellte sich sein Gesicht auf, schließlich nickte er euphorisch. Plötzlich hatte er es eilig. „Schließen Sie gut ab und ein schönes Neues!“ Die Tür knallte. Christine trank in Ruhe ihren Tee aus und freute sich auf ein neues Jahr. Als es weit nach Mitternacht endlich ruhiger auf den Straßen wurde, zog sie den Mantel über. Auf dem Weg nach Hause kam sie an einem Briefkasten vorbei, warf die Kündigungen ein. Im Geiste richtete sie ihr Büro ein.


©Rieger/Lasar

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