Das alte Buch Mamsell
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Dezember 2004
Senhor Schiebelhut
von Susy Clemens

Rückblickend kann ich sagen, dass ich wahrscheinlich niemand je so geliebt habe wie „Senhor“ T. Schiebelhut. Wenn ich andere Paare beobachte, die auf dem Klinkerweg am Fluss entlang gemeinsam joggen oder skaten, muss ich an unsere Nachmittage denken, und die Tränen steigen mir in die Augen vor Sehnsucht.
Ich pflegte zu radeln, während T.S. in lockerem Trab vor mir herlief – er liebte es nicht, wenn ich vorneweg fuhr und er das Gefühl hatte, dass ich schneller war als er – und wenn wir eine ruhige abgelegene Stelle am Ufer gefunden hatten, kühlte er sich in der heißen Jahreszeit mit ein paar Schwimmzügen im Fluss ab und ließ sich von der Sonne trocknen ehe es weiterging.
Fünfzehn bis zwanzig Kilometer schafften wir locker an einem Nachmittag – T.S. war ein ausgezeichneter Langstreckenläufer. Von den uns entgegenkommenden Joggern und Radlern ernteten wir bewundernde Blicke, die er ignorierte. Schlank, langbeinig, muskulös und schwarzlockig, hielt T.S. seine ernsten braunen Augen auf einen fernen Horizont oder auf den Boden gerichtet und kümmerte sich um Nichts und Niemand, wenn er mit mir lief.

Nachts schliefen wir meist Rücken an Rücken. Oft ging ich vor ihm ins Bett, und er schlich sich später leise zu mir, bemüht, mich nicht zu wecken, und drückte seine warme Kehrseite an mich, wagte kaum, zu atmen aus Angst, des Bettes verwiesen zu werden. Ich lächelte in mich hinein und ließ ihn gewähren. Im Schlaf drehte er sich dann herum, aufseufzend, und plötzlich lagen seine Arme auf meinen Schultern. Wenn mir die Hitze seines jugendlichen Körpers zuviel wurde, brauchte ich mich nur ein wenig zu schütteln, und er ging leise ins Nebenzimmer um im andern Bett weiter zu schlafen. Zu Beginn unseres Zusammenlebens hatte er eine zeitlang die fixe Idee gehabt, mich mit Gewalt nehmen zu können, aber die hatte ich ihm schnell ausgetrieben. Auf der Ebene lief gar nichts.

Wahnsinnig eifersüchtig war T.S. allerdings trotzdem. Wenn wir nicht joggten, sondern in der Stadt spazieren gingen - Seite an Seite, ganz normal, wie zivilisierte Wesen – kam es vor, dass er Streit anfing, wenn er meinte, ein anderer haariger Kerl habe mich zu feurig angesehen.
Eines Tages zettelte er mitten auf dem Marktplatz vor dem Rathaus deswegen eine Schlägerei an – eine Gruppe japanischer Touristen zückte die Kameras, Menschen schrieen und schlugen erschrocken die Hände vor den Mund – und ich konnte die Kampfhähne nur mit Mühe trennen. T.S. war danach ziemlich zerknirscht. So auszurasten, nur wegen eines Blickes!
Er hatte ein böses Hämatom am linken Fuß, wahrscheinlich hatte der andere ihn getreten. Ich machte ihm Umschläge mit essigsaurer Tonerde und erklärte ihm, dass er sein Temperament zügeln und endlich erwachsen werden müsse.

Das Erwachsenwerden sah so aus, dass T.S. eines Nachts auf dem Rückweg von der Kneipe einfach verschwand. Mit langen Schritten, ohne tschüs zu sagen, kopfüber in die Nacht. Ich war völlig perplex, brüllte ihm hinterher, machte mir schreckliche Sorgen. Zum Glück hatte ich eine Freundin, die Zentralistin in einem Taxi-Unternehmen war. Ich rief sie sofort an und erklärte die Situation: sie versprach, alle Fahrer zu informieren und zu bitten, nach ihm Ausschau zu halten. Der Chaot allein in der Stadt – das konnte gefährlich werden! Ich tat kein Auge zu bis der Anruf meiner Freundin kam. „Er ist gesehen worden: er tanzt mit einer Blonden auf dem Bürgersteig vor der Stadthalle herum!“ Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Natürlich, er tanzt! Mit einer Blonden! Wenigstens nicht mitten auf der Strasse. Es war 4 Uhr früh, kein Lokal mehr offen – wo sollte er auch sonst tanzen?
Um 5 morgens ein Hüsteln an der Haustür, „Ähem!“ – Ich war fast eingedöst. Da stand er, mit hängendem Kopf, atemlos, völlig ausgepumpt – als sei er gerade wieder fünfzehn Kilometer gejoggt. Aber die Stadthalle war nur ca. 2 km von unserer Wohnung entfernt.
Er mochte mir nicht in die Augen sehen, schlich an mir vorbei, genehmigte sich ein paar Drinks und ließ sich dann aufs Bett fallen – auf das, in dem ich nachts nie schlief.

Ich konnte Senhor Schiebelhut nie lange böse sein. Er machte auch die Gartenarbeit: oft bedeutete er mir, dass es an der Zeit sei, umzugraben. Dann gab ich ihm etwas, dass er pflanzen konnte. Er grub sehr gründlich um und pflanzte das Überreichte sorgfältig ein, bedeckte es mit lockerer Erde und begoss es, und niemals war er enttäuscht, wenn die Saat nicht aufging. Noch mehr liebte er das Angeln. In den Sommermonaten am Baggersee, am Fluss oder dort, wo wir Urlaub machten – an der Ardèche, der Loire, der Rhône oder klaren Seen in der Schweiz. Da saß er stundenlang unbeweglich am Ufer und starrte mit ernstem Blick ins Wasser, konzentriert, entspannt, wie losgelöst von der Außenwelt, bereit zu zu packen sobald ein Fisch sich dicht genug unter der Oberfläche zeigte. Und einmal hat er sogar einen erwischt. Leider war er von dem glitschigen Gezappel so erschreckt, dass er sofort wieder losließ. Doch das hielt ihn nicht davon ab, es weiter zu versuchen – nach dem Motto: „Der Weg ist das Ziel“. Und der Weg war, stundenlang die Bewegungen unter der Wasseroberfläche zu beobachten ... Oder hat er am Ende nur sich selbst bewundert wie ihn das Wasser spiegelte, anmutig, formvollendet, ebenholzschwarz?

Schiebelhut war ein begeisterter Schwimmer. Bei unserm ersten Ausflug an einen See glotzte er mir fassungslos hinterher, als ich mich ins Wasser stürzte und losschwamm – er konnte es nicht glauben, dass ich im Tiefen zu schwimmen vermochte und hechtete mir hinterher um mich zu retten. Als hätte er den DLRG-Schein gemacht, zog er mich ans Ufer, wo ich ihm lachend klarmachte, dass ich ebenso wie er in der Lage war, mich schwimmend über Wasser zu halten – auch dort, wo ich nicht stehen konnte – und erst dann begleitete er mich, sorgsam, ohne mich lange aus den Augen zu lassen, mein Ziel vorausahnend, mich umkreisend, mich aufmerksam am Ufer erwartend, wenn er begriffen hatte, wo es hingehen sollte, denn natürlich schwamm er viel schneller als ich.

Wieviele Kilometer wir miteinander gelaufen, gejoggt, gewalkt, geradelt, geschwommen sind? – Wahrscheinlich einmal um den Erdball, mindestens.
Kein Mann, den ich kennen lernte, hat soviel Anmut und Würde besessen oder den eleganten tänzelnden Gang von T.S. auch nur annähernd kopieren können. Keiner das Verständnis meiner Seele, dass keiner Worte bedarf, gefunden wie er.
Und niemand hätte wie er mehrere Schlaganfälle überlebt und sich dennoch ans Leben geklammert, schwankend manchmal, mit glasigem Blick, kaum noch fähig, auf den eigenen Füssen zu stehen: „Er will einfach nicht gehen, er mag nicht loslassen, sein Herz ist so stark!“, sagte seine Ärztin kurz vor seinem Tod.
Als er nicht mehr aufstehen konnte, legte ich mich ein letztes Mal zu ihm, Rücken an Rücken, wie wir so oft gelegen hatten, spürte, wie er sich entspannte und zu träumen begann: das Zucken der Schultermuskeln, der Läufe, das hastige Atmen des Long Distance Runners kurz vorm Ziel. Ein letztes kurzes Aufbäumen, als er sich über die Ziellinie warf. Und dann war er endlich angekommen: Tashi Hundekönig alias Senhor Schiebelhut, der mir 16 Jahre lang als Body Guard gedient hatte.

Susy Clemens, © Dezember 04

Feedback: susyclemens@gmx.de

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