Der himmelblaue Schmengeling
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Glück ist für jeden etwas anderes. Unter der Herausgeberschaft von Katharina Joanowitsch versuchen unsere Autoren 33 Annäherungen an diesen schwierigen Begriff.
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Dezember 2004
Sport
von Andreas Petar

Mir war nicht wohl in meiner Haut, als ich nur mit einer Unterhose bekleidet im Behandlungszimmer frierend auf der Liege saß. Meine ohnehin schon beträchtlichen Zweifel ob der von Hilde angeordneten Komplettuntersuchung wuchsen minütlich. Warum sie so einen Aufstand machte, nur weil mir beim Schuhe zubinden manchmal schwindlig und schwarz vor Augen wurde, war mir unklar.
Mein Blick streifte über die Reihen von braunen Flaschen im Regal, die Etiketten durch Tropfreste verwischt und unleserlich. Aus aufeinander gestapelten Plastikboxen quollen Spritzen in allen nur erdenklichen Größen und in mir keimte die Befürchtung, dass eine von ihnen für mich bestimmt war. In der Ecke hing eine Spüle, flankiert von zwei übergroßen Seifenspendern, die laut Aufschrift garantierten, dass man nach Benutzung dieser Seifen fortan als nahezu antiseptischer Mensch durchs Leben gehen würde.
Ich studierte gerade das medizinische Poster mit der Zeichnung eines sehr muskulösen, wenn auch hautlosen Mannes, als Dr. Seibert das Zimmer betrat.
„Ah, Herr Koschenksi. Was führt Sie zu mir?“
„Hilde“, antwortete ich wahrheitsgemäß.
„Hilde?“
„Hilde, meine Frau. Sie hat mich her geschickt. Ich soll mich mal durchchecken lassen.“
Mit einem wissenden Lächeln nahm Dr. Seibert meine Antwort zur Kenntnis und schritt sofort zur Tat. Die Untersuchung verlief unspektakulär. Ich wurde abgeklopft, abgehört, abgetastet und wie erwartet durchlöcherten diverse Nadeln meinen Körper an Stellen, die eigentlich nicht zum Durchlöchern gedacht waren. Ich ließ die ganze Prozedur klaglos über mich ergehen und selbst bei der abschließenden Prostatauntersuchung versuchte ich mimisch weder Leid noch Freude auszudrücken.
Ich war gerade dabei mich wieder anzuziehen, als die unheilvollen Worte fielen: „Sie sollten Sport treiben.“
Ich erstarrte, die Arme halb im Ärmel, den Kopf noch in den Tiefen des Pullovers. Ein leises „Häh?“ entfleuchte meinen Lippen.
“Sport“, antwortete Dr. Seibert, der mein „Häh?“ ganz richtig als Frage interpretiert hatte. „Sie sollten sich mehr bewegen. Das täte ihnen gut“.
Mürrisch vor mich hin grummelnd verließ ich die Praxis. Sport, ha. So ein Schwachsinn. Als hätte ich nicht schon genug Bewegung. Mein Tag fing jeden Morgen mit einer ausgiebigen Dusche an. Alleine das Einseifen meines mehr als stattlichen Körpers erforderte eine Unmenge an Bewegung und erinnerte stark an komplizierte Yoga-Übungen. Bei der Arbeit wurde es nicht einfacher. Mein Büro im zweiten Stock lag am Ende des Flurs und somit grob geschätzte dreißig Meter vom Fahrstuhl entfernt. Trotz einiger Memos und Aufforderungen meinerseits hatten wir noch immer keine elektrischen Förderbänder wie sie zum Beispiel an Flughäfen üblich sind, um weite Strecken zurückzulegen. Also quälte ich mich tagtäglich die endlos scheinenden dreißig Meter über den Flur. Im Büro hatte ich zum Glück einen bequemen Schreibtischsessel, der mich und meinen müden Körper freudig empfing. Nach vier oder fünf Stunden hatte ich mich trotz Arbeit meist soweit erholt, dass ich den Rückweg zum Fahrstuhl in Angriff nehmen konnte. Es war Zeit für die Kantine, welche im Erdgeschoss lag. Frisch gestärkt vom Mittagessen war der darauf folgende Gang vom Fahrstuhl ins Büro nur halb so beschwerlich und man konnte mich dabei ertappen, wie ich ein fröhliches Liedchen vor mich hin pfiff. Es war kein Pfeifen im eigentlichen Sinne – ich versuchte nur mein Keuchen melodisch klingen zu lassen.
Die Arbeit ging ich am Nachmittag gemächlich an, schließlich wusste ich, was mich zum Feierabend erwartete. Eine erneute Tortur, um vom Büro zum Fahrstuhl zu gelangen.
Wie man sieht, hatte ich durchaus genügend Bewegung im Büro, zumal hier die Wege zur Toilette noch gar nicht berücksichtigt sind.
Als ich zuhause ankam, schmollte ich noch immer.
„Danke für die blöde Idee mich zu Dr. Seibert zu schicken“, brummte ich Hilde an, die in der Küche gerade Kartoffeln schnitt.
„Was hast du denn, Manfred?“
„Nichts habe ich. Das ist ja das Problem, ich bin kerngesund. Der Termin war so unnötig wie ein Kropf. Aber Sport soll ich treiben, meint dieser Quacksalber.“
Dies zu sagen war ein Fehler, wie mir sofort klar wurde aber es war zu spät.
„Eine klasse Idee! Sport würde dir gut tun und abnehmen müsstest du ohnehin“ frohlockte Hilde und somit war mein Schicksal besiegelt. Ihre Worte mögen wie gut gemeinte Ratschläge klingen, aber wer sie kennt, weiß es besser. Das war ein Befehl: Treibe Sport!
Somit hing ein gewaltiges Damoklesschwert über meinem Haupt: Mache Sport oder streite dich mit Hilde. Die Entscheidung fiel, noch ehe ein Windhauch das Schwert über mir auch nur einen Deut zu bewegen vermocht hätte.
Am nächsten Morgen durchwühlte ich den Kleiderschrank nach Sportklamotten. Meine Wahl fiel auf ein schickes rosafarbenes T-Shirt mit dazu passenden Shorts. Meine multifunktionalen Sportschuhe fand ich nach langem Suchen unter der Treppe. So ausstaffiert aber leidlich motiviert verließ ich das Haus. Joggen war die Sportart meiner Wahl. Ich glaubte mich dunkel daran zu erinnern, dass ich das schon einmal versucht hatte. Damals, als Jane Fonda eine gewaltige Fitnesswelle losgetreten hatte, die auch Hilde und mich überrollt hatte. Aber als diese Welle versiegte, herrschte auch bei uns sportliche Ebbe. Doch das sollte sich ändern und ohne weiter nachzudenken, legte ich los. Ich startete direkt vor dem Haus und manövrierte mich durch die Straßen der Stadt. Schon bald hatte ich den Ortsrand erreicht. Vor mir boten sich Hunderte von Laufmöglichkeiten. Ich entschied mich für einen kleinen Feldweg, der in der Ferne in einen Wald mündete. Die Sonne schien erbarmungslos vom Himmel und mein Körper triefte vor Schweiß. Ich passierte vertrocknete Äcker und verdorrte Wiesen, die ich aber kaum wahrnahm, weil ich mich voll und ganz auf die Strecke konzentrierte. Der Wald kam immer näher und die Aussicht auf Schatten spendende Bäume ließ mich mein Tempo steigern. Ich atmete schwer, mein Puls raste, aber schließlich hatte ich den Waldrand erreicht. Überall lag vertrocknetes Laub und die Sonne schien noch an Intensität zugelegt zu haben. Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als endlich in das kühle Paradies des Waldes einzutauchen, als ich die Schranke bemerkte, die mir den Weg versperrte. Keine Chance daran vorbeizukommen. Schweißgebadet und frustriert entschloss ich mich diese Tortur zu beenden. Zuhause angekommen, stieg ich aus dem Wagen und verfluchte mich selbst, weil ich beim Kauf auf eine Klimaanlage verzichtet hatte.
„Du bist ja schon wieder da“, begrüßte mich Hilde.
„Ich konnte nicht in den Wald fahren. Da war eine Schranke.“
„Aber drum herum laufen wäre doch wohl gegangen, oder?“
Ich hasste es, wenn sie sarkastisch wurde.
„Ja, das wäre wohl gegangen, aber ich muss ja erst mal die Laufstrecke abfahren um zu sehen, ob sie sich eignet“, antwortete ich gereizt. „Und diese Strecke eignet sich definitiv nicht. Bei der Hitze ist Joggen ohnehin total ungesund, wie dir sicherlich sogar Dr. Seibert bestätigen würde.“
„Na dann machst du eben was anderes. Geh’ doch in dieses neue Fitnesscenter, das letzte Woche eröffnet hat.“
Ich hatte keine Chance. Hilde hatte schon den Hörer in der Hand und vereinbarte einen Termin.
Schon am nächsten Morgen betrat ich schlecht gelaunt und lustlos den vermeintlichen Tempel der Fitness. Ich begann sofort mit dem Training und zog den Bauch so weit es ging ein, um der Dame am Empfang zu imponieren. Diese schien eher gelangweilt und leierte mir lustlos den Ablauf des Probetrainings herunter. Ein kurzer Fitnesscheck, danach Aufstellen eines individuellen Trainingsplans in Zusammenarbeit mit einem hochkompetenten Trainer.
Nachdem ich mich umgezogen hatte und in sportlichem Outfit die Halle betrat, tippte man mir unsanft auf die Schulter. Als ich mich umdrehte stand da ein gewaltiger Hüne, der selbst Arnold Schwarzenegger wie ein schmächtiges Kerlchen aussehen ließ. Sein Gold-Gym-Shirt spannte sich unter gewaltigen Massen von Bi- Tri- und sonstigen Zeps und unter dem goldbraunen Teint seiner Haut schien sich kein einziges Gramm Fett zu verbergen. Selbst die Kurzhaarfrisur stand so stramm, als hätte jedes einzelne Härchen einen eigenen, sehr durchtrainierten Muskel.
„Hallo, ich bin Richie“, sagte der Riese und hielt mir seine gewaltige Pranke hin.
Ich schüttelte ihm ängstlich die Hand und hauchte leise: „Hallo, ich bin Manfred“, während ich im Geiste ein „Bitte tu mir nichts“ hinzufügte.
Richie führte mich zu einem kleinen Schreibtisch in der Ecke, wo er meine Daten aufnahm. Ich wurde gewogen, vermessen und begutachtet. Anschließend wollte Richie mittels einem Heimtrainer meinen aktuellen Fitnessgrad ermitteln.
„So, Manfred, dann mach’ mal“, sagte er und grinste. „Für den Anfang sollten zwanzig Minuten ausreichen.“
Ich war noch nie ein leidenschaftlicher Radfahrer und das Ganze in einer Halle zu betreiben kam mir noch absurder vor, aber ich hatte nicht vor Richie gegen mich aufzubringen. Gemächlich begann ich in die Pedale zu treten. Fast augenblicklich trat mir der Schweiß auf die Stirn, aber ich machte tapfer weiter. Allmählich begann ich das Tempo zu steigern. Die Tritte kamen schneller und schneller und plötzlich überkam mich eine unbeschreibliche Euphorie. Adrenalin durchflutete meinen Körper, ich war in Trance und radelte wie besessen. Nichts und niemand konnte mich jetzt aufhalten ...außer eventuell ein Wadenkrampf, der sich auch augenblicklich einstellte.
„Wie war ich?“, fragte ich Richie, als ich mit schmerzverzerrtem Gesicht am Boden saß und meine Waden massierte.
„Nicht schlecht, aber zwei Minuten sind keine Zeit um eine ernstzunehmende Aussage treffen zu können.“
„Zwei Minuten? Ich war nur zwei Minuten auf dem Ding?“
Richie verdrehte die Augen und zeigte mir seine Stoppuhr.
„Eigentlich war es sogar etwas weniger.“ Die Uhr zeigte eine Minute und achtundfünfzig Sekunden. „Vielleicht solltest du zu Anfang erst mal in der Kindertruppe ein bisschen mitturnen. Das ist nicht so anstrengend, weißt du.“
Das war zuviel. Ich hatte keine Lust mich demütigen zu lassen, schon gar nicht von diesem aufgepumpten Kraftprotz. Ich holte meine Sachen aus der Umkleidekabine und legte das Projekt „Fitnesscenter“ ad acta.
Hilde reagierte äußerst gereizt auf diese Entscheidung.
„Aber ich habe doch schon für die nächsten drei Monate bezahlt.“
„Die kriegen wir doch wieder zurück. War doch nur ein Probetraining.“
„Aber der Aufwand, bis ich das Geld wieder habe.“ Sie schnaubte verächtlich. „Wie sieht jetzt dein Plan aus? Was willst du machen? Sportlich, meine ich.“
Ich wusste es nicht. Spontan fiel mir keine Sportart ein, die mir gefallen hätte. Ich beschloss, mir ärztlichen Rat zu holen; aber mit Sicherheit nicht bei Dr. Seibert.

Seither sind zwei Monate vergangen. Dr. Huber, mein neuer Hausarzt, konnte mir tatsächlich helfen. Gleich am Tag nach meinem Termin bei ihm hat er mich zum gemeinsamen Training bei seinem Verein mitgekommen. Ich war begeistert und unterschrieb sofort eine Beitrittserklärung. Seither bin ich jeden Dienstag und Donnerstag im Training. Zusätzlich noch freitags und samstags, wenn Turniere anstehen. Hilde war zu Anfang gar nicht begeistert. „Dart spielen ist doch kein Sport“, meinte sie, aber Dr. Huber sieht das anders. Er hat mir eine ärztliche Bestätigung geschrieben, welche Dart ausdrücklich zum Sport erklärt. Manchmal wird mir zwar immer noch schwindlig und schwarz vor Augen, wenn ich meine Dart-Glücksschuhe anziehe, aber Dr. Huber meint, das wäre kein Grund zur Besorgnis, sondern nur die Nervosität vor dem Spiel.

Ich hoffe, er hat recht.

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