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Januar 2005
Meduso
von Klaus Eylmann

Vier Uhr morgens.

Montag im Spätherbst. Eine Bahnhofshalle. Tot, und man meinte, das Tropfen der Toiletten zu hören. Die Sirene eines Streifenwagens schrillte von der Straße. Ein Mann karrte Zeitungsbündel vor einen Stand. Es war kalt und zugig, der Bahnhof vereinsamt, bis auf den Zeitungsmann und Schneider, der durch die Halle torkelte. Die Leere des Bahnhofs störte ihn weniger als das Menschengewimmel am Tage, wenn es ihm klar machte: Der Mensch braucht ein Ziel. Doch dazu stand Schneider sich zu sehr im Weg.
Der Zeitungsmann trollte sich. Das Rollen der Karre echote von den Wänden, vervielfachte sich, hallte in Schneiders Ohren, auf dem Bahnhofsvorplatz, lärmte durch die Mönkebergstraße, übertönte die mächtigen Glocken der Petrikirche. Halt! Schneider stoppte seine Phantasie und bewegte sich nicht von der Stelle, schwankte wie ein Halm im Wind. Ein Schrei kam von den Schließfächern.
Schließfach 382, eingebettet mit seinesgleichen. Klagen, Stöhnen aus einem Stahlfach um die dreißig Zentimeter breit, fünfzig hoch und wer weiß wie tief. 382. Zusammengezählt 13. Schneider, Kriminalbeamter, vor Monaten von seiner Frau getrennt, zur Zeit betrunken, seit langem abergläubisch.
Zehn Minuten später rückte ein Sicherheitsbeamter neben ihm das Käppi zurecht und kratzte sich am Kopf.
“Der Stationsvorsteher hat ‘nen Universalschlüssel.” Er griff nach seinem Sprechfunkapparat. Dann kam ein Mann mit roter Mütze. Schneider schleppte sich auf eine Bank und stützte den Kopf in die Hände. Die Stirn fühlte sich feucht an. Er hatte viel getrunken. Oder war es Angst? Er sah zu den Männern vom Bahnhof hinüber, die wie festgefroren vor dem Fach standen.
“He, was macht Ihr da?!” Schneider erhob sich mühsam und ging zu ihnen hin. Ihre Körper waren erstarrt, die Gesichter fahl. Einer von ihnen hielt den Strahl einer Taschenlampe auf das Fach gerichtet. Schneider drehte sich um und griff nach seinem Handy.
Und die Halle lebte doch. Eine halbe Stunde später traten sich Polizisten und Männer der Feuerwehr auf die Füße. Sanitäter rollten Wachmann und den rot Bemützten fort. Polizisten schwärmten aus und sperrten das Areal um die Schließfächer ab.
Schneider wies sich aus, und ein Polizist fragte ihn: “Herr Schneider. Von der Mordkommission? Wer hat Sie angerufen?”
“Niemand, ich war auf dem Weg nach Hause. Dann hörte ich Stöhnen. Es kam von dort.” Schneider deutete auf das offene Schließfach.
“Es muss eine Bombe sein.” Der Polizist sah verstohlen zum Fach hinüber.
“Die lähmt, wenn man ins Fach sieht?”
“Ja nun. Bombe und Strahlenquelle.”
“Was haben Sie vor?”
“Ein Entschärfungskommando ist auf dem Weg.” Schneider forderte Polizeiarzt und Spurensicherung an.
Die Bombenentschärfer kamen mit ihrem ferngesteuerten Minipanzer, Doktor Petersen und zwei Kriminaltechniker mit ihrer Polaroid.
“Moin, Herr Schneider. Ist zwar kein Mord”, meinte Petersen. “Oder ist es einer?”
“Wusste nicht, dass Sie Nachtdienst schieben”, wunderte sich der. “Sehen Sie nicht ins Fach, wenn Sie die Kamera aufstellen!”, rief er den Technikern zu. “Knipsen Sie mit dem Fernauslöser!”
Es war ein Kopf. Der Kopf eines Mannes. Ein Kopf, der klagte. Ein Kopf, der schrie. Sie hörten, der Schrei hatte nichts menschliches, nichts tierisches. Er war nicht von dieser Welt. Haare wie schwarze Nattern. Das Foto wurde von milchig weißen Augen beherrscht.
“Ich glaub, ich muss mich setzen.” Schneider wurde übel. Petersen ließ sich neben ihm auf die Bank fallen.
“Das Bild jagt mir Angst ein.” Petersen drehte das Foto um und legte es neben sich. “Tote bin ich gewohnt. Doch das Ding hier lebt. Sieht aus, als hätte es Schlangen auf seinem Kopf.” Petersen starrte Schneider fassungslos an. “Eine männliche Ausgabe der Medusa.”
“Meduso also.” Schneider sah den Sprengstofftechnikern hinterher. Männer in Strahlenschutzanzügen mit abgedunkelten Sichtfenstern tauchten auf, packten den Kopf in eine Kiste und zogen mit ihr ab.
Schneider und Petersen standen auf, als die Techniker ihre Kamera einpackten.
“Wo bringen sie ihn hin?”
“Mein Tipp ist Eppendorf. Neurologisches Institut.”


Acht Uhr morgens.

Als Schneider ins Büro kam, saß Kollege Udo am Bildschirm. Mit rosigem Gesicht, blassblauen Augen, glattem Haar und einem fiesen Lächeln, das seit einigen Wochen sein Gesicht überzog, hämmerte er auf die Tastatur. Schneider betrachtete das Foto auf seinem Schreibtisch. Wieso quälte er sich damit? Emma. Monate waren es her, als sie ihm den Stuhl vor die Tür gesetzt hatte. Die Kaffeemaschine gurgelte. Dann läutete das Telefon.
“Schmidt hier. Vor der Halle des Hauptbahnhofs wurde eine kopflose Leiche gefunden. Sie steckte in einer Telefonzelle. Herr Schneider, kümmern Sie sich bitte darum. Die Leute von der Spurensicherung sind bereits vor Ort.”

“Ausgeschlafen?”, rief Doktor Petersen über die Absperrung hinweg. Zwei Männer suchten die Telefonzelle nach Spuren ab. “Wenn das nicht unser Mann ist.”
“Der von heute Morgen?” Ein Techniker streute Pulver aufs Telefon.
“Er hatte den Hörer noch in der Hand”, fuhr Petersen fort. “Hielt ihn an die Stelle, wo sein Kopf hätte sein müssen. Wir geben die Leiche in die Gerichtsmedizin. Wenn Sie sie sehen wollen.” Petersen ging auf die Rückseite eines Krankenwagens zu, öffnete ihn und schob den Deckel eines Blechsarges zur Seite.
“Dunkler Straßenanzug, schwarze Schuhe, graue Socken. Bis auf den fehlenden Kopf sieht alles normal aus”, konstatierte Schneider.
Petersen hielt einen Hut in der Hand. “Er trug diesen hier, wohl wegen der Nattern.”


Eine halbe Stunde später schüttelte ein hagerer Neurologe Schneiders Hand. “Siodmak. Kurt Siodmak.”
“Wie geht es den Beiden?”
“Ihr Zustand hat sich nicht verändert. Kommen Sie.” Siodmak führte Schneider in ein Krankenzimmer. Die beiden Männer vom Bahnhof lagen dort, bewegungslos, mit weit geöffneten Augen.
“Kataplexie?”
“Muskelerschlaffung? Im Gegenteil.” Siodmak ergriff den Arm des Bahnbeamten. “Fühlen Sie mal, steif wie ein Brett.”

Siodmaks Büro lag im ersten Stock des Neurologischen Instituts. Ein Tisch, zwei Stühle, ein Leuchtschirm an der Wand. Die Sonne warf Reflexe auf einen metallenen Kasten.
“Wir wissen nicht, was es ist.” Siodmak sprang auf, legte eine Aufnahme über den Leuchtschirm.
“Hier ein MRI-Scan. Sehen Sie die Ausbuchtung zwischen dem Sehzentrum und dem Feld der Sehassoziationen? Habe ich noch nie bei einem menschlichen Hirn gesehen.”
“Unmenschlich also”, meinte Schneider. “Wo ist er jetzt?”
Siodmak deutete auf die Metallkiste. “Strahlensicher verstaut.”
“Hat er was gesagt?”
“Er redete, als er im Scanner lag. ‘Ich sehe einen Mord’, sagte er. In dem Moment”, Siodmak zeigte auf eine andere Stelle der Aufnahme, “leuchtete das Lustzentrum im Gehirn auf. Als ob er Schokolade äße, Kokain schnupfte oder Sex hätte. Und ich fragte ‘Wo?’.” “Große Allee 17, zweiter Stock.”
“Kann ich mit ihm reden?” Siodmak holte zwei dunkle Brillen hervor.
“Setzen Sie eine auf.” Siodmak nahm die andere und öffnete den Kasten. Schneider vermied es, hinein zu sehen.
“Wer bist du?” Der Kopf blieb stumm. Schneider sah Siodmak grinsen. “Lebt er noch?”
“Er lebt. Machen Sie weiter.”
“Wer hat dich abgeschnitten?” Der Kopf antwortete nicht.
“Du hast einen Mord gesehen. Was ist passiert?”
Siodmak rief: “Sie müssen anders fragen? Wer, wo, was!”
“Armin Sippenstiehl, Erwin Schadenfroh, Große Alle 17, Messer im Rücken.”
“Er reagiert auf Fragewörter”, erklärte Siodmak und schloss den Behälter.
Schneider rief die Einsatzzentrale an und lehnte sich zurück.
“Dann warten wir mal ab, ob die Leute was finden.” Eine halbe Stunde später kam die Bestätigung. Erwin Schadenfroh lag mit einem Tranchiermesser im Rücken tot in seiner Küche.
“Der andere Name wirdauch stimmen.” Schneider stand auf. “Professor, leihen Sie mir den Kopf für ein paar Tage.”
“Handschuhe brauchen Sie dafür nicht”, sagte der nur. “Die Nattern auf seinem Kopf sind harmlos.”


Elf Uhr vormittags.

Udo war gegangen, um sich eine Sonnenbrille zu besorgen. Schneider schloss die Tür, setzte seine Brille auf, zog den Kopf aus dem Kasten und stellte ihn auf einen Schrank.
“Schöne Frau”, sagte der Kopf. Vom Kirchturm kamen elf Glockenschläge.
“Ich bin ein Mann”, erwiderte Schneider irritiert.
“Schöne Frau.” Die milchig weißen Augen des Kopfes fixierten das Foto auf Schneiders Schreibtisch. Emma! Schneider erschrak. Seine Frau lachte von einer Hollywoodschaukel in die Linse. Sie trug einen Badeanzug.
Schneider dachte an Siodmaks Rat. “Wer?, Wo?, Was?”
“Emma Schneider. Rathsweg 8, dritter Stock.”
Das Telefon klingelte.
“Müller-Herrmann. Sie haben den Kopf, habe ich gehört. Bringen Sie ihn doch bitte vorbei. Der Rest lebt auch noch. Glaube ich zumindest.” Schneider steckte den Kopf in die Kiste und machte sich auf den Weg. Im Treppenhaus ließ er sich von Udo die Brille geben.

Die Gerichtsmedizin hatte ihre Räume im Untergeschoss des Amtsgerichts. Müller-Herrmann biss in einen Apfel und humpelte um den Seziertisch.
“Da sind Sie ja. Haben Sie den Kopf?” Müller Herrmann zog das Tuch zurück.
“Ich hatte keine Lebenszeichen festgestellt und fing an seine Brust zu öffnen. Da bekam er eine Erektion.”
“Von der geöffneten Brust?”
“Nee, muss was anderes gewesen sein.” Graues Haar fiel Müller-Herrmann ins feiste Gesicht. Die Kette einer Taschenuhr funkelte auf der Weste, die sich um seinen Bauch spannte.
“Kontraktion post-mortem”, meinte Schneider. “Wohl eher das Gegenteil”, kicherte Müller-Herrmann.
“Wann ist das passiert?”
“Gegen elf Uhr.”
“Zu dem Zeitpunkt hat sich der Kopf mit dem Foto meiner Frau beschäftigt.”
“Das bestätigt doch”, und Müller-Herrmann lachte meckernd. “Sex kommt vom Kopf her. Haben Sie ihn in der Kiste?”
Schneider gab dem Gerichtsmediziner eine Sonnenbrille und setzte die andere auf, dann hob er den Kopf aus dem Behälter und streckte ihn Müller-Hermann entgegen.
“Legen sie ihn auf den Tisch da. Tausend Teufel! Schlangen statt Haare! Sind die giftig? Nein? Warten Sie, ich helfe Ihnen.” Der Gerichtsmediziner nahm den Kopf und drückte ihn an die Schnittstelle des Rumpfes. “Versuchen wir doch, das Ding wieder in seinen Originalzustand zu versetzen. Drücken Sie seine Schultern auf den Tisch. Ich halte den Kopf dagegen.”
Sie standen sich gegenüber und sahen sich durch ihre Sonnenbrillen an.
“Wie lange?”
“Versuchen wir’s mit fünf Minuten.” Die Zeit tropfte. Irgendwo tickte eine Uhr.
“Lassen Sie los.” Dann ließ auch Müller-Herrmann ab.
“Erstaunlich. Er wächst an.” Der Humanoid hielt die Augen geschlossen.
“Das wär doch was, bekämen wir raus, wie das bei ihm funktioniert.” Müller-Herrmann griff nach seinem Apfel.
Schneider verzog sein Gesicht. “Mir liegt eher daran zu erfahren: Was ist er? Wo kommt er her? Wer hat ihm den Kopf abgeschnitten? Gibt es noch mehr von seiner Sorte?”
Müller-Herrmann zog sich einen speckigen Trenchcoat über und stülpte sich einen Pepitahut über den Kopf.
“Ich muss los. Hab ‘nen Termin. Es braucht sicher noch ein paar Stunden, bevor der Kopf richtig fest sitzt. Dann muss ich auch noch seine Brust zu machen. Herr Schneider, ich melde mich.” Der warf noch einen letzten Blick auf den Mann aus dem Schließfach. Dann ging auch er.


Acht Uhr abends.

Er saß lustlos mit ein paar Salzstangen vor dem Fernseher, als sich sein Telefon meldete.
“Herr Schneider! Er ist weg!”
“Wer? Meduso?”
“Genau der. Als ich in den Sezierraum ging, kam er hinter der Tür hervor und schlug mich bewusstlos. Ich bin gerade zur Besinnung gekommen. Er hat mir meine Klamotten gestohlen. Hut, Mantel, Hemd, Hose, Schuhe. Alles.”
“Wann hat er Sie niedergeschlagen?”
“Vor einer halben Stunde, und irgendwas hörte ich, bevor ich abtauchte. Emma, genau. Er sagte Emma.”
“Emma!” Schneider ließ den Hörer auf die Gabel fallen, sprang auf und griff nach seiner Jacke.

Nachdem Schneider seinen Wagen im Rathsweg geparkt hatte, blieb er einen Moment im Wagen sitzen. Doch es gelang ihm nicht, seine Gedanken zu ordnen. Er stürzte die Treppe hoch und klingelte. Dann stand sie im Morgenrock vor ihm. Sommersprossen, Stupsnase, leicht geöffnete Lippen. Himmel, wie hatte er das vermisst!
“Was machst du denn hier?” Schneider drängte sie in den Flur.
“Lass mich rein! Du bist in Gefahr!”
“Heinrich, was soll das? Du kannst doch nicht einfach, ich bekomme....!”
“Mach die Tür zu”, unterbrach Schneider sie. “Ich kann dir das jetzt nicht erklären!” Er fuhr mit der Hand in seine Jackentasche.
“Verdammt, meine Sonnenbrille. Ich hab sie bei Müller-Herrmann liegen lassen. Emma!”, rief er, “geh ins Wohnzimmer und bleib dort.” Schneider ging im Flur auf und ab. Er würde kommen. Er würde kommen. In Schneider stieg das Grauen hoch. Er hörte Schritte, dann klopfte es an der Tür. Schneider perlte der Schweiß von der Stirn, als er seine Pistole zog, auf die Tür zielte und abdrückte. Ein schleifendes, dann ein dumpfes Geräusch. Schneider wartete einen Augenblick, bevor er die Tür öffnete.
Udo lag im Treppenhaus. Emma warf sich schluchzend über den Leichnam und bedeckte ihn mit Küssen. Tote Augen über eingefrorenem Grinsen. Schneiders Gedanken wüteten, dann gab es nur noch Trauer, Schmerz und ein Gefühl grenzenloser Einsamkeit. Emma und Udo. Wie lange schon? Schneider ging wie eine mechanische Puppe die Treppe hinab. Ein Mann in einem speckigen Trenchcoat kam die Stufen hoch. Den Pepitahut hatte er tief ins Gesicht gezogen. Meduso ging an ihm vorbei. Schneider sah nicht zurück.

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
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