Die Fantasy haben wir in dieser von Alisha Bionda und Michael Borlik herausgegebenen Anthologie beim Wort genommen. Vor allem fantasievoll sind die Geschichten.
Montag im SpĂ€therbst. Eine Bahnhofshalle. Tot, und man meinte, das Tropfen der Toiletten zu hören. Die Sirene eines Streifenwagens schrillte von der StraĂe. Ein Mann karrte ZeitungsbĂŒndel vor einen Stand. Es war kalt und zugig, der Bahnhof vereinsamt, bis auf den Zeitungsmann und Schneider, der durch die Halle torkelte. Die Leere des Bahnhofs störte ihn weniger als das Menschengewimmel am Tage, wenn es ihm klar machte: Der Mensch braucht ein Ziel. Doch dazu stand Schneider sich zu sehr im Weg.
Der Zeitungsmann trollte sich. Das Rollen der Karre echote von den WĂ€nden, vervielfachte sich, hallte in Schneiders Ohren, auf dem Bahnhofsvorplatz, lĂ€rmte durch die MönkebergstraĂe, ĂŒbertönte die mĂ€chtigen Glocken der Petrikirche. Halt! Schneider stoppte seine Phantasie und bewegte sich nicht von der Stelle, schwankte wie ein Halm im Wind. Ein Schrei kam von den SchlieĂfĂ€chern.
SchlieĂfach 382, eingebettet mit seinesgleichen. Klagen, Stöhnen aus einem Stahlfach um die dreiĂig Zentimeter breit, fĂŒnfzig hoch und wer weiĂ wie tief. 382. ZusammengezĂ€hlt 13. Schneider, Kriminalbeamter, vor Monaten von seiner Frau getrennt, zur Zeit betrunken, seit langem aberglĂ€ubisch.
Zehn Minuten spĂ€ter rĂŒckte ein Sicherheitsbeamter neben ihm das KĂ€ppi zurecht und kratzte sich am Kopf.
âDer Stationsvorsteher hat ânen UniversalschlĂŒssel.â Er griff nach seinem Sprechfunkapparat. Dann kam ein Mann mit roter MĂŒtze. Schneider schleppte sich auf eine Bank und stĂŒtzte den Kopf in die HĂ€nde. Die Stirn fĂŒhlte sich feucht an. Er hatte viel getrunken. Oder war es Angst? Er sah zu den MĂ€nnern vom Bahnhof hinĂŒber, die wie festgefroren vor dem Fach standen.
âHe, was macht Ihr da?!â Schneider erhob sich mĂŒhsam und ging zu ihnen hin. Ihre Körper waren erstarrt, die Gesichter fahl. Einer von ihnen hielt den Strahl einer Taschenlampe auf das Fach gerichtet. Schneider drehte sich um und griff nach seinem Handy.
Und die Halle lebte doch. Eine halbe Stunde spĂ€ter traten sich Polizisten und MĂ€nner der Feuerwehr auf die FĂŒĂe. SanitĂ€ter rollten Wachmann und den rot BemĂŒtzten fort. Polizisten schwĂ€rmten aus und sperrten das Areal um die SchlieĂfĂ€cher ab.
Schneider wies sich aus, und ein Polizist fragte ihn: âHerr Schneider. Von der Mordkommission? Wer hat Sie angerufen?â
âNiemand, ich war auf dem Weg nach Hause. Dann hörte ich Stöhnen. Es kam von dort.â Schneider deutete auf das offene SchlieĂfach.
âEs muss eine Bombe sein.â Der Polizist sah verstohlen zum Fach hinĂŒber.
âDie lĂ€hmt, wenn man ins Fach sieht?â
âJa nun. Bombe und Strahlenquelle.â
âWas haben Sie vor?â
âEin EntschĂ€rfungskommando ist auf dem Weg.â Schneider forderte Polizeiarzt und Spurensicherung an.
Die BombenentschÀrfer kamen mit ihrem ferngesteuerten Minipanzer, Doktor Petersen und zwei Kriminaltechniker mit ihrer Polaroid.
âMoin, Herr Schneider. Ist zwar kein Mordâ, meinte Petersen. âOder ist es einer?â
âWusste nicht, dass Sie Nachtdienst schiebenâ, wunderte sich der. âSehen Sie nicht ins Fach, wenn Sie die Kamera aufstellen!â, rief er den Technikern zu. âKnipsen Sie mit dem Fernauslöser!â
Es war ein Kopf. Der Kopf eines Mannes. Ein Kopf, der klagte. Ein Kopf, der schrie. Sie hörten, der Schrei hatte nichts menschliches, nichts tierisches. Er war nicht von dieser Welt. Haare wie schwarze Nattern. Das Foto wurde von milchig weiĂen Augen beherrscht.
âIch glaub, ich muss mich setzen.â Schneider wurde ĂŒbel. Petersen lieĂ sich neben ihm auf die Bank fallen.
âDas Bild jagt mir Angst ein.â Petersen drehte das Foto um und legte es neben sich. âTote bin ich gewohnt. Doch das Ding hier lebt. Sieht aus, als hĂ€tte es Schlangen auf seinem Kopf.â Petersen starrte Schneider fassungslos an. âEine mĂ€nnliche Ausgabe der Medusa.â
âMeduso also.â Schneider sah den Sprengstofftechnikern hinterher. MĂ€nner in StrahlenschutzanzĂŒgen mit abgedunkelten Sichtfenstern tauchten auf, packten den Kopf in eine Kiste und zogen mit ihr ab.
Schneider und Petersen standen auf, als die Techniker ihre Kamera einpackten.
âWo bringen sie ihn hin?â
âMein Tipp ist Eppendorf. Neurologisches Institut.â
Acht Uhr morgens.
Als Schneider ins BĂŒro kam, saĂ Kollege Udo am Bildschirm. Mit rosigem Gesicht, blassblauen Augen, glattem Haar und einem fiesen LĂ€cheln, das seit einigen Wochen sein Gesicht ĂŒberzog, hĂ€mmerte er auf die Tastatur. Schneider betrachtete das Foto auf seinem Schreibtisch. Wieso quĂ€lte er sich damit? Emma. Monate waren es her, als sie ihm den Stuhl vor die TĂŒr gesetzt hatte. Die Kaffeemaschine gurgelte. Dann lĂ€utete das Telefon.
âSchmidt hier. Vor der Halle des Hauptbahnhofs wurde eine kopflose Leiche gefunden. Sie steckte in einer Telefonzelle. Herr Schneider, kĂŒmmern Sie sich bitte darum. Die Leute von der Spurensicherung sind bereits vor Ort.â
âAusgeschlafen?â, rief Doktor Petersen ĂŒber die Absperrung hinweg. Zwei MĂ€nner suchten die Telefonzelle nach Spuren ab. âWenn das nicht unser Mann ist.â
âDer von heute Morgen?â Ein Techniker streute Pulver aufs Telefon.
âEr hatte den Hörer noch in der Handâ, fuhr Petersen fort. âHielt ihn an die Stelle, wo sein Kopf hĂ€tte sein mĂŒssen. Wir geben die Leiche in die Gerichtsmedizin. Wenn Sie sie sehen wollen.â Petersen ging auf die RĂŒckseite eines Krankenwagens zu, öffnete ihn und schob den Deckel eines Blechsarges zur Seite.
âDunkler StraĂenanzug, schwarze Schuhe, graue Socken. Bis auf den fehlenden Kopf sieht alles normal ausâ, konstatierte Schneider.
Petersen hielt einen Hut in der Hand. âEr trug diesen hier, wohl wegen der Nattern.â
Eine halbe Stunde spĂ€ter schĂŒttelte ein hagerer Neurologe Schneiders Hand. âSiodmak. Kurt Siodmak.â
âWie geht es den Beiden?â
âIhr Zustand hat sich nicht verĂ€ndert. Kommen Sie.â Siodmak fĂŒhrte Schneider in ein Krankenzimmer. Die beiden MĂ€nner vom Bahnhof lagen dort, bewegungslos, mit weit geöffneten Augen.
âKataplexie?â
âMuskelerschlaffung? Im Gegenteil.â Siodmak ergriff den Arm des Bahnbeamten. âFĂŒhlen Sie mal, steif wie ein Brett.â
Siodmaks BĂŒro lag im ersten Stock des Neurologischen Instituts. Ein Tisch, zwei StĂŒhle, ein Leuchtschirm an der Wand. Die Sonne warf Reflexe auf einen metallenen Kasten.
âWir wissen nicht, was es ist.â Siodmak sprang auf, legte eine Aufnahme ĂŒber den Leuchtschirm.
âHier ein MRI-Scan. Sehen Sie die Ausbuchtung zwischen dem Sehzentrum und dem Feld der Sehassoziationen? Habe ich noch nie bei einem menschlichen Hirn gesehen.â
âUnmenschlich alsoâ, meinte Schneider. âWo ist er jetzt?â
Siodmak deutete auf die Metallkiste. âStrahlensicher verstaut.â
âHat er was gesagt?â
âEr redete, als er im Scanner lag. âIch sehe einen Mordâ, sagte er. In dem Momentâ, Siodmak zeigte auf eine andere Stelle der Aufnahme, âleuchtete das Lustzentrum im Gehirn auf. Als ob er Schokolade Ă€Ăe, Kokain schnupfte oder Sex hĂ€tte. Und ich fragte âWo?â.â âGroĂe Allee 17, zweiter Stock.â
âKann ich mit ihm reden?â Siodmak holte zwei dunkle Brillen hervor.
âSetzen Sie eine auf.â Siodmak nahm die andere und öffnete den Kasten. Schneider vermied es, hinein zu sehen.
âWer bist du?â Der Kopf blieb stumm. Schneider sah Siodmak grinsen. âLebt er noch?â
âEr lebt. Machen Sie weiter.â
âWer hat dich abgeschnitten?â Der Kopf antwortete nicht.
âDu hast einen Mord gesehen. Was ist passiert?â
Siodmak rief: âSie mĂŒssen anders fragen? Wer, wo, was!â
âArmin Sippenstiehl, Erwin Schadenfroh, GroĂe Alle 17, Messer im RĂŒcken.â
âEr reagiert auf Fragewörterâ, erklĂ€rte Siodmak und schloss den BehĂ€lter.
Schneider rief die Einsatzzentrale an und lehnte sich zurĂŒck.
âDann warten wir mal ab, ob die Leute was finden.â Eine halbe Stunde spĂ€ter kam die BestĂ€tigung. Erwin Schadenfroh lag mit einem Tranchiermesser im RĂŒcken tot in seiner KĂŒche.
âDer andere Name wirdauch stimmen.â Schneider stand auf. âProfessor, leihen Sie mir den Kopf fĂŒr ein paar Tage.â
âHandschuhe brauchen Sie dafĂŒr nichtâ, sagte der nur. âDie Nattern auf seinem Kopf sind harmlos.â
Elf Uhr vormittags.
Udo war gegangen, um sich eine Sonnenbrille zu besorgen. Schneider schloss die TĂŒr, setzte seine Brille auf, zog den Kopf aus dem Kasten und stellte ihn auf einen Schrank.
âSchöne Frauâ, sagte der Kopf. Vom Kirchturm kamen elf GlockenschlĂ€ge.
âIch bin ein Mannâ, erwiderte Schneider irritiert.
âSchöne Frau.â Die milchig weiĂen Augen des Kopfes fixierten das Foto auf Schneiders Schreibtisch. Emma! Schneider erschrak. Seine Frau lachte von einer Hollywoodschaukel in die Linse. Sie trug einen Badeanzug.
Schneider dachte an Siodmaks Rat. âWer?, Wo?, Was?â
âEmma Schneider. Rathsweg 8, dritter Stock.â
Das Telefon klingelte.
âMĂŒller-Herrmann. Sie haben den Kopf, habe ich gehört. Bringen Sie ihn doch bitte vorbei. Der Rest lebt auch noch. Glaube ich zumindest.â Schneider steckte den Kopf in die Kiste und machte sich auf den Weg. Im Treppenhaus lieĂ er sich von Udo die Brille geben.
Die Gerichtsmedizin hatte ihre RĂ€ume im Untergeschoss des Amtsgerichts. MĂŒller-Herrmann biss in einen Apfel und humpelte um den Seziertisch.
âDa sind Sie ja. Haben Sie den Kopf?â MĂŒller Herrmann zog das Tuch zurĂŒck.
âIch hatte keine Lebenszeichen festgestellt und fing an seine Brust zu öffnen. Da bekam er eine Erektion.â
âVon der geöffneten Brust?â
âNee, muss was anderes gewesen sein.â Graues Haar fiel MĂŒller-Herrmann ins feiste Gesicht. Die Kette einer Taschenuhr funkelte auf der Weste, die sich um seinen Bauch spannte.
âKontraktion post-mortemâ, meinte Schneider. âWohl eher das Gegenteilâ, kicherte MĂŒller-Herrmann.
âWann ist das passiert?â
âGegen elf Uhr.â
âZu dem Zeitpunkt hat sich der Kopf mit dem Foto meiner Frau beschĂ€ftigt.â
âDas bestĂ€tigt dochâ, und MĂŒller-Herrmann lachte meckernd. âSex kommt vom Kopf her. Haben Sie ihn in der Kiste?â
Schneider gab dem Gerichtsmediziner eine Sonnenbrille und setzte die andere auf, dann hob er den Kopf aus dem BehĂ€lter und streckte ihn MĂŒller-Hermann entgegen.
âLegen sie ihn auf den Tisch da. Tausend Teufel! Schlangen statt Haare! Sind die giftig? Nein? Warten Sie, ich helfe Ihnen.â Der Gerichtsmediziner nahm den Kopf und drĂŒckte ihn an die Schnittstelle des Rumpfes. âVersuchen wir doch, das Ding wieder in seinen Originalzustand zu versetzen. DrĂŒcken Sie seine Schultern auf den Tisch. Ich halte den Kopf dagegen.â
Sie standen sich gegenĂŒber und sahen sich durch ihre Sonnenbrillen an.
âWie lange?â
âVersuchen wirâs mit fĂŒnf Minuten.â Die Zeit tropfte. Irgendwo tickte eine Uhr.
âLassen Sie los.â Dann lieĂ auch MĂŒller-Herrmann ab.
âErstaunlich. Er wĂ€chst an.â Der Humanoid hielt die Augen geschlossen.
âDas wĂ€r doch was, bekĂ€men wir raus, wie das bei ihm funktioniert.â MĂŒller-Herrmann griff nach seinem Apfel.
Schneider verzog sein Gesicht. âMir liegt eher daran zu erfahren: Was ist er? Wo kommt er her? Wer hat ihm den Kopf abgeschnitten? Gibt es noch mehr von seiner Sorte?â
MĂŒller-Herrmann zog sich einen speckigen Trenchcoat ĂŒber und stĂŒlpte sich einen Pepitahut ĂŒber den Kopf.
âIch muss los. Hab ânen Termin. Es braucht sicher noch ein paar Stunden, bevor der Kopf richtig fest sitzt. Dann muss ich auch noch seine Brust zu machen. Herr Schneider, ich melde mich.â Der warf noch einen letzten Blick auf den Mann aus dem SchlieĂfach. Dann ging auch er.
Acht Uhr abends.
Er saĂ lustlos mit ein paar Salzstangen vor dem Fernseher, als sich sein Telefon meldete.
âHerr Schneider! Er ist weg!â
âWer? Meduso?â
âGenau der. Als ich in den Sezierraum ging, kam er hinter der TĂŒr hervor und schlug mich bewusstlos. Ich bin gerade zur Besinnung gekommen. Er hat mir meine Klamotten gestohlen. Hut, Mantel, Hemd, Hose, Schuhe. Alles.â
âWann hat er Sie niedergeschlagen?â
âVor einer halben Stunde, und irgendwas hörte ich, bevor ich abtauchte. Emma, genau. Er sagte Emma.â
âEmma!â Schneider lieĂ den Hörer auf die Gabel fallen, sprang auf und griff nach seiner Jacke.
Nachdem Schneider seinen Wagen im Rathsweg geparkt hatte, blieb er einen Moment im Wagen sitzen. Doch es gelang ihm nicht, seine Gedanken zu ordnen. Er stĂŒrzte die Treppe hoch und klingelte. Dann stand sie im Morgenrock vor ihm. Sommersprossen, Stupsnase, leicht geöffnete Lippen. Himmel, wie hatte er das vermisst!
âWas machst du denn hier?â Schneider drĂ€ngte sie in den Flur.
âLass mich rein! Du bist in Gefahr!â
âHeinrich, was soll das? Du kannst doch nicht einfach, ich bekomme....!â
âMach die TĂŒr zuâ, unterbrach Schneider sie. âIch kann dir das jetzt nicht erklĂ€ren!â Er fuhr mit der Hand in seine Jackentasche.
âVerdammt, meine Sonnenbrille. Ich hab sie bei MĂŒller-Herrmann liegen lassen. Emma!â, rief er, âgeh ins Wohnzimmer und bleib dort.â Schneider ging im Flur auf und ab. Er wĂŒrde kommen. Er wĂŒrde kommen. In Schneider stieg das Grauen hoch. Er hörte Schritte, dann klopfte es an der TĂŒr. Schneider perlte der SchweiĂ von der Stirn, als er seine Pistole zog, auf die TĂŒr zielte und abdrĂŒckte. Ein schleifendes, dann ein dumpfes GerĂ€usch. Schneider wartete einen Augenblick, bevor er die TĂŒr öffnete.
Udo lag im Treppenhaus. Emma warf sich schluchzend ĂŒber den Leichnam und bedeckte ihn mit KĂŒssen. Tote Augen ĂŒber eingefrorenem Grinsen. Schneiders Gedanken wĂŒteten, dann gab es nur noch Trauer, Schmerz und ein GefĂŒhl grenzenloser Einsamkeit. Emma und Udo. Wie lange schon? Schneider ging wie eine mechanische Puppe die Treppe hinab. Ein Mann in einem speckigen Trenchcoat kam die Stufen hoch. Den Pepitahut hatte er tief ins Gesicht gezogen. Meduso ging an ihm vorbei. Schneider sah nicht zurĂŒck.
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