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Januar 2005
Spurensuche 382
von Jan Müller

Diesen Bericht schreibe ich für meine Chefin Inga Heidenreich, damit sie der Sache nachgehen kann, falls ich plötzlich verschwinden sollte. Gleichzeitig stelle ich ihn ins Netz und schicke ihn sogar an IHN, den Mann mit der bellenden Stimme. Ich weiß, das ist ein gefährliches Spiel, aber ich liebe den Nervenkitzel und spiele gern mit offenen Karten.
Heute Mittag gegen zwei setzte ich gerade die neu getippten Namen in die aufgeschraubten Klingelschilder: “Agentur Background” im Erdgeschoss, darüber “Heidenreich”, ganz oben “Kluge”, da rief Inga aus dem ersten Stock: “Christian, kommst du mal hoch?”
“Sekunde, ich montiere noch die Klingelschilder.”
“Kannst du nachher machen. Komm mal schnell.”
Ich kenne Inga gut genug, um zu wissen, dass sie, wenn sie mich ruft, mit meinem sofortigen Erscheinen rechnet. Dennoch schraubte ich die Schilder erst wieder sauber zu, denn was ich einmal angefangen habe, muss ich auch zu Ende führen. Ich kann nicht anders. So kam es, dass ich erst eine Minute später in Ingas Wohnzimmer aufkreuzte.
In der Sitzecke vor der Fensterfront mit dem herrlich weiten Blick über die Wetterau saß Inga mit einer älteren, vornehm wirkenden Dame, die immer wieder auf die Straße vor dem Eingang sah, als könne dort jederzeit jemand erscheinen, dessen Ankunft sie ersehnte. Bald sollte ich erfahren, was dahinter steckte.
“Das ist Frau von Leiden”, sagte Inga. “Sie hat bis zum Jahresende hier gewohnt und überlässt uns ihre Einbauküche. Gerade hat sie mir erzählt, warum sie ausgezogen ist. Hör dir doch mal ihre Geschichte an, vielleicht fällt dir was dazu ein. Und das ist Herr Kluge,” erklärte sie Frau von Leiden, “unser Spezialist für Hintergrundrecherchen. Er kann Ihnen sicher weiterhelfen. Ich setz uns inzwischen mal einen Tee auf.” Sie erhob sich, nickte mir zu und trat hinter die Wand in die Küchenecke.
Um das Gespräch in Gang zu bringen, fragte ich Frau von Leiden: “Wie lange haben Sie denn hier gewohnt?”
“Fünfundzwanzig Jahre. Wissen Sie, was das heißt? Da gewöhnt man sich an das Haus und an die Gegend. Nie hätte ich gedacht, dass ich in diesem Leben noch mal von hier wegziehen muss. Einen alten Baum verpflanzt man nicht. Aber es ging nicht anders.”
“Warum konnten Sie denn nicht bleiben?”
“Na hören Sie mal, junger Mann. Wie stellen Sie sich das vor? Wie soll ich denn alleine die Miete bezahlen? Unten meine Wohnung, dann hier die zwei Zimmer mit Küche und Bad und oben noch mal drei Zimmer mit Bad, das stand doch jetzt alles leer. Und mit fremden Menschen zusammenwohnen, das kann ich nicht.”
“Verstehe, die Kinder sind aus dem Haus und verheiratet, stimmt ’s?”
”Die Kinder? Meine Enkel sind verheiratet, Eva und Duc, die sind schon seit Jahren weg. Ich habe hier mit meiner Tochter und ihrem Mann gewohnt, und die sind auf einmal ...” Sie blickte wieder mit flackernden Augen auf die Straße.
”... ausgezogen? Warum denn das?”
“Tja!” Sie presste die dünnen Lippen zusammen. “Das weiß keiner.”
“Wie ist denn das gekommen? Wo sind sie jetzt?”
Endlich glaubte ich zu verstehen, was Frau von Leidens Blick so seltsam erscheinen ließ. Ihre Augen wirkten feucht und gerötet und ihre Lidränder entzündet, als sie mich vorwurfsvoll ansah. “Das fragen Sie mich? Sie sind doch der Fachmann, der so was raus kriegt!”
“Dann schildern Sie doch mal in allen Einzelheiten, was geschehen ist. Wann haben Sie Ihre Tochter und Ihren Schwiegersohn zum letzten Mal gesehen?”
“Das kann ich Ihnen genau sagen, junger Mann: vor über einem Jahr, am 9. November 2003. Am Abend davor waren wir im Theater und kamen erst spät nach Hause. Luise half mir aus dem Mantel, Greg ging nach oben und hörte den Anrufbeantworter ab. Mit dieser furchtbaren Nachricht.”
“Welcher Nachricht?”
“Na diese Stimme! Wie ein bellender Hund: ‚Ich sag nur eins und das zweimal: Schließfach 382 und ciao.‘ Weiter nichts. ‚Ich wiederhole: Schließfach 382 und ciao.‘”
“Und dann?”
”Tja. Greg schaute Luise an und fragte: ‚Verstehst du das? Hast du irgendwo ein Schließfach?‘ Und Luise: ‚Ich? Was soll ich mit einem Schließfach? Da muss sich einer verwählt haben.‘ – Tja. Das dachte ich auch. Jedenfalls am Anfang.”
“Und wie ging ‘s weiter?”
“Greg hat die Nachricht zurückgespult und mehrmals abgehört. Kurz nach zehn war der Anruf gekommen, da waren wir noch im Auto auf dem Heimweg. Ich hab die Stimme immer noch im Ohr. Wie einer aus dem Osten, ein Bulgare oder Russe oder Tscheche: ‚Schließfach 382 und ciao.‘ ‚Kennst du die Stimme, Luise?‘, fragte Greg. ‚Nee, nie gehört!‘ Dann hat sich Greg an den Computer gesetzt, in sein Büro hier vorne gegenüber dem Bad. Luise sagte mir später, sie hätte mitten in der Nacht noch den Drucker gehört. Erst Stunden später ging er schlafen.”
Sie schüttelte den Kopf. “Nee, nee, nee. Also ich versteh das nicht. Am nächsten Morgen sagte Greg beim Frühstück: ‚Ich fahre nachher mal in die Stadt.‘
Und Luise: ‚Wo willst du hin?‘
‚Ich werde der Sache nachgehen. Diesem Anruf.‘
‚Am besten warten wir ab, ob er sich noch mal meldet‘, meinte Luise, ‚Vielleicht soll da irgend jemand erpresst werden mit geheimen Fotos oder Dokumenten, die in diesem Schließfach liegen.‘
Aber Greg war nicht zu bremsen. ‚Ich hab so ein ungutes Gefühl im Bauch. Ich werde der Sache nachgehen.‘ Das war alles, was er sagte. Heute bin ich mir nicht mehr sicher, ob Greg wirklich nichts wusste oder nur so tat.
‚Aber zum Mittagessen bist du zurück!‘, drohte Luise. Es war nämlich Sonntag, und Eva und ihr Mann waren zum Essen eingeladen.
‚Selbstverständlich‘, sagte Greg. Er gab Luise einen Kuss, das war in der Küche hier um die Ecke, dann ging er nach unten, zog seine Jacke an und fuhr los.
Aber er kam weder mittags noch abends zurück. Luise rief Gregs Bekannte und Freunde an. Nirgends war er aufgetaucht. Auch von seinem Auto keine Spur. Am nächsten Tag ging sie zur Polizei.”
Plötzlich starrte Frau von Leiden auf die Straße und sperrte den Mund auf. “Da! Sein Wagen! Das kann doch nicht sein! Das ist er!”
Ich sprang zum Fenster. Ingas dunkelblauer BMW bog eben in die Einfahrt und parkte. “Das ist Frau Heidenreich”, sagte ich. “Sie muss im Ort gewesen sein.”
Wir hatten gar nicht mitbekommen, dass Inga weggefahren war. Jetzt hörte wir die Haustür, dann klapperten Ingas Absätze über die Steinstufen. Sie holte eine Porzellanschale aus dem Glasschrank, füllte sie mit Keksen und Gebäck und sagte: ““Hab schnell was zum Knabbern besorgt. Der Tee kommt gleich.”
Inga sah mich fragend an. Ich zuckte mit einer Braue und schielte zur Decke, dann wand ich mich wieder Frau von Leiden zu. “Und er hat sich nie mehr gemeldet? Wo war er denn beschäftigt?”
“Tja ...! Luise meinte immer: ‚Frag mich nicht.’ Dieses Thema war bei uns tabu. Also ich hätte nie einen Mann geheiratet, der beim Geheimdienst arbeitet. Aber so war sie eben. Sie ließ sich da nicht reinreden. Gut, nach fünfundzwanzig Jahren hat man sich mit allem abgefunden. Aber richtig fand ich das nie. Ein paar Tage später kam Luise ganz aufgeregt zu mir: ‚Schau mal, was ich entdeckt hab. Im Papierkorb unter Gregs Schreibtisch.‘
Sie zeigte mir durchgerissene Zettel, auf denen das Wort Schließfach unterstrichen war. Wir haben sie auf dem Küchentisch ausgebreitet und wollten sie wieder zusammensetzen, aber die Schnipsel passten nicht zusammen.”
“Haben Sie die Zettel noch?”
“Natürlich! Meinen Sie, die werfe ich weg?” Sie griff nach Ihrer Handtasche, holte ein Sparbuch der Kreissparkasse hervor, klappte den Deckel auf und reichte mir einige zerrissene Computerausdrucke, etwa in halber Postkartengröße. Auf dem ersten Zettel stand:
Schließfach für den Obduktionsberi
BERLIN, 14. August. Mit leerem Bli
seine Depressionen unterdrücken
Als der Richter ihn fragte, wie alt e
verblüffende Antwort: Er möge ihm
in St. Gallen zur Verfügung stellen
müsse dort den Obduktionsbericht

Das war schon alles. Nicht sehr aufschlussreich, fand ich. Auf dem gleichen Stück Papier stand außerdem:
Aufbrechen des Schließfachs Numm
In diesem Schließfach bei der Kreis
Dokumente, die belegen, dass Han
über dreißig Jahre als Kundschafter
zusammenarbeitete und um Provisi
in Millionenhöhe bei der Vermittlun
fest, dass das Schließfach rechtswi

Aha! Hatte Greg ein schlechtes Gewissen, eine Vergangenheit, die nicht an den Tag kommen durfte? Konnte er mit dem Anruf mehr anfangen, als er zugab? Dennoch fand ich keinen Hinweis auf seinen möglichen Aufenthaltsort. Ich nahm mir das nächste Blatt vor:
Ihr persönliches digitales Schließfa
Die Kommunikation mit seinen Kun
denn je. Die elektronische Übermit
sensible Daten. Zugang und Inhalt
Darüber hinaus sind alle Daten üb
verschlüsselt.

Das sah nach einem Werbetext aus. Hatte sich Greg nach dem Anruf ein digitales Schließfach eingerichtet? Wo war dieses Schließfach zu finden, welche Daten waren darin, wie waren sie verschlüsselt? Was hat hatte die halbe Nacht am Computer gemacht, bevor er verschwand? Frau von Leiden sah mich erwartungsvoll an, aber ich wusste genauso wenig wie sie und war froh, als Inga den Tee brachte und sich zu uns setzte.
Während Frau von Leiden vorsichtig an ihrem Tee nippte, erzählte sie weiter: “Ich kann Ihnen sagen, schön ist das nicht, nur zu zweit in einem großen, leeren Haus zu leben. Mit dieser ständigen Frage im Kopf, wo Greg jetzt sein könnte und ob er überhaupt noch lebt. Aber so war es eben. Bis dann der Jahrestag von Gregs Verschwinden kam: der 9. November 2004. Das Wetter war nasskalt und trübe. Luise stellte eine Kerze und Blumen neben den Anrufbeantworter wie auf dem Friedhof. Sie sprach an diesem Tag kaum ein Wort, schien mit ihren Gedanken ganz woanders. Und abends kurz nach zehn, genau zur selben Zeit wie im Jahr davor, klingelt auf einmal das Telefon. Luise nimmt ab. Plötzlich wird sie kreidebleich und stellt den Lautsprecher an, damit ich mithören kann: ‚... und das zweimal: Schließfach 382 und ciao. Ich wiederhole: Schließfach 382 und ciao.‘ Dieselbe bellende Stimme, genau im gleichen Tonfall, wie vom Band. Und nach dem Satz wieder Schluss. Ich sag Ihnen: Mir lief es einkalt den Rücken runter. Plötzlich bekam das Wort ‚Tschüss‘ einen ganz neuen Sinn. Luise ist runter und hat die Haustür zweimal abgeschlossen, alle Rollläden runtergelassen und alle Türen und Fenster verriegelt. Trotzdem hat sie die ganze Nacht kein Auge zugedrückt. Mir ging ‘s nicht anders. Am nächsten Morgen legt sie beim Frühstück plötzlich das Messer hin und sagt: ‚Ich geh zur Polizei. Ich muss der Sache nachgehen.‘
Das war genau derselbe Satz, den Greg gesagt hatte.
‚Du gehst mir heute keinen Schritt vor die Tür!‘, sage ich.
‚Aber Mutti, ich fahr dich doch nachher sowieso zum Orthopäden. Das ist doch gleich um die Ecke.‘
‚Dann bleibst du aber im Wartezimmer und rührst dich nicht von der Stelle!‘
Hätte ich den Termin bloß abgesagt! Kaum bin ich fertig beim Orthopäden, da sagt mir die Sprechstundenhilfe: ‚Setzen Sie sich kurz ins Wartezimmer. Ihre Tochter kommt gleich wieder. Sie wollte nur fünf Minuten was besorgen.‘ Wie ich das hörte, wusste ich gleich, was los war. Das hab ich sofort in den Knochen gespürt. Fast zehn Wochen sind das jetzt her, seit Luise verschwunden ist. Ich hab sie noch am selben Tag als vermisst gemeldet. Sie war überhaupt nicht bei der Polizei gewesen.”
“Und was haben die Ermittlungen ergeben?”
“Nichts. Was finden die schon heraus? Auch ihr Auto ist spurlos verschwunden. ‚Ich sag nur eins und das zweimal.‘ Plötzlich bekam das Wort ‚zweimal‘ für mich einen ganz neuen Sinn. Und im Papierkorb fand ich wieder solche Schnipsel.”
“Haben Sie die gesammelt?”
“Natürlich, was meinen denn Sie?” Frau von Leiden klappte stolz den Rückumschlag ihres Sparbuchs auf und brachte neue Zettel an den Tag. Es waren normale Blätter Papier, nur einmal der Länge nach durchgerissen. Wer diese Blätter weggeworfen hatte, wollte seine Spuren nicht verwischen. Ich las:
Huhn im Schließfach – Am Freitag startete die
Auf dem Zentralen Omnibusbahnhof Hamburg
Schließfächer durch Folien zu ”Hühnerkäfigen
Legehennen hinter Gittern mit der Aufschrift:
Ein Huhn bleibt sein ganzes Leben in diesem
“Mit dieser Aktion führen wir den Fahrgästen
Millionen deutscher Legehennen vor Augen –
“War Ihre Tochter im Tierschutzverein?”
“Nicht dass ich wüsste.”
“Hatte sie irgendwas mit Hamburg zu tun? Haben Sie dort Verwandte?”
”Nein.”
Ich wurde das Gefühl nicht los, dass die Meldungen überhaupt nichts mit Luise zu tun hatten. “Hat Ihre Tochter am Abend vor dem Verschwinden am Computer gesessen?”
“Ja, die halbe Nacht, genau wie Greg. Sie sagte beim Frühstück, sie hätte stundenlang gegurgelt.”
“Gegoogelt, kann das sein?”
“Genau! Das war das Wort. Können Sie mit den Notizen was anfangen?”
“Bisher noch nicht.”
“Ach, dann bin ich ja beruhigt.”
“Beruhigt? Wollten Sie nicht herausfinden, wo die beiden jetzt sind?”
“Natürlich. Aber ich dachte schon, ich wäre zu dumm, die Zettel zu verstehen. So senil bin ich also noch nicht.”
Ich studierte bereits den nächsten Text und wurde plötzlich hellwach:
Da ich den Nachtzug nach St. Petersburg
Mittag verlassen muss, will ich meinen K
Gibt es in den Bahnhöfen Moskau und St.
Sind die Schließfächer auch sicher?
Danke. Freddy

“Frau von Leiden, kennen Sie einen Freddy?”
Sie schüttelte den Kopf. “Nie gehört.”
Fehlanzeige. Die nächste Nachricht war ebenfalls weder Zeitungsmeldung noch Werbetext, sondern eine persönliche Anfrage:
Hallo Bajazzo,
wenn ich mich recht erinnere hab ich mal
nicht in alle Bankschließfächer reinpassen
Gruß Dagobert
Du kannst unbesorgt sein, Bankschließfäc
Boxen passen da rein wie Popo auf Eimer!
Bajazzo
Naja, dann bring ich meinen Popo, ich mei
auf die Bank. Dachte, so ’n Schließfach wär
Dagobert

Auch diese Namen oder Decknamen brachten uns nicht weiter. “Ich sage Ihnen doch”, erklärte sie, ”ich konnte mit den Notizen überhaupt nichts anfangen. Wieso die im Papierkorb lagen, ist mir ein Rätsel. Und dann ist da noch die Sache mit der Überweisung.”
“Welche Überweisung?”
“Na das Gehalt von Greg. Das wurde noch ein ganzes Jahr lang überwiesen, nachdem er verschwunden war, und zwar auf Luises Konto.”
“Und wer war der Absender?”
”Keine Ahnung. Auf dem Kontoauszug steht nur eine Nummer.”
“Vielleicht ein Nummernkonto in der Schweiz. Mit Schließfach! Haben Sie den Kontoauszug hier?”
“Natürlich, was denken Sie denn?”
“Kann ich die Nummer mal sehen?”
“Aber ja.” Sie schlug ihr Sparbuch in der Mitte auf und reichte mir stolz einen gefalteten Kontoauszug der Raiffeisenbank. “Das ist der einzige Auszug, auf dem die Nummer steht. Die Überweisung wurde dem Konto am 1. November gutgeschrieben, aber der Auszug wurde erst am 15. zugestellt, als Luise schon verschwunden war. Deswegen habe ich den noch. Alle anderen Bankauszüge hat sie anscheinend eingepackt und mitgenommen. Der Hefter war nirgends zu finden.”
Ich betrachtete die Nummer, auf die sie deutete, und bekam Herzklopfen: 7245437 3224 382 863 2426. “Frau von Leiden”, rief ich aufgeregt, “ist Ihnen an der Nummer nicht was aufgefallen?”
“Was soll mir denn auffallen? Nichts als Zahlen, kein Name, nichts.”
“Schauen Sie sich doch mal die einzelnen Ziffernblöcke an.”
“Moment, da muss ich erst mal meine Brille ...” Während sie nach ihrer Handtasche griff und die Lesebrille hervorholte, ließ sich Inga den Auszug zeigen und studierte die Nummer. Plötzlich rief sie: “Wahnsinn! Christian, das ist ja heiß! Sehen Sie mal, Frau von Leiden, welcher Ziffernblock in der Mitte steht.”
Ich zog mein Handy aus der Tasche, stellte es auf “Meldungen” und tippte die Nummer als SMS mit automatischer T9-Worterkennung ein. Dann hielt ich Frau von Leiden das Handy hin. “Sehen Sie mal. Dieser Text erscheint auf dem Display, wenn die Zahlen zu Buchstaben werden: “schließ fach etc und ciao.”
Frau von Leiden griff sich ans Herz. Ich schrieb mir vom Handy die Buchstaben ab, die auf den Zifferntasten 3, 8 und 2 standen: 3 DEF 8 TUV 2 ABC. Und wieder begann mein Herz zu klopfen: “Die Ziffern 382, Frau von Leiden, könnten auch ETA bedeuten, diese baskische Befreiungsorganisation. Oder EVA oder DUC. Ist Eva nicht der Name Ihrer Enkelin? Die Botschaft hieße dann: ‚schließ fach eva und ciao‘, oder: ‚schließ fach duc und ciao‘. Auf deutsch: ‚Zieh einen Schlussstrich unter deine Familie und verschwinde.‘”
Jetzt erst fiel mir auf, dass ich einen unverzeihlichen Fehler begangen hatte. Ich hätte Frau von Leiden meine Erkenntnisse behutsamer beibringen müssen. Sie sackte auf dem Sofa zusammen und kippte zur Seite. Ihre dünnen Lippen schnappten nach Luft wie der letzte Versuch eines erstickenden Karpfens. Aus ihrem Gesicht war alle Farbe gewichen. Inga half ihr, sich auszustrecken. “Christian, bring mal schnell ein feuchtes Tuch.”
Als Inga ihr das Tuch auf die Stirn legte, kam langsam wieder Farbe in ihr Gesicht. “Wissen Sie, Duc ist der Spitzname meines Enkels. Ich konnte doch nicht ahnen, was in der Nummer alles verschlüsselt ist. Wie soll ’s denn jetzt weiter gehen?”
“Ich fahr Sie am besten nach Hause”, schlug Inga vor, “und Herr Kluge recherchiert weiter.”
Jetzt sitze ich also allein im neu eingerichteten Computerraum der “Agentur Background”, tippe seit Stunden diesen Bericht und gebe bei Google immer neue Suchbegriffe ein. Frau von Leiden würde sagen, ich “gurgele”. Auf der Suche nach einer möglichen Bedeutung der rätselhaften Nummer 382 fand ich heraus, dass es einen Sonderforschungsbereich 382 gibt, der sich mit Verfahren und Algorithmen zur Simulation physikalischer Prozesse auf Höchstleistungsrechnern befasst. Ich weiß, dass das Dokument des Bundesverfassungsgerichts 382 die materielle Begründung für Ausländerausweisung behandelt. Und ich weiß, dass das Hotel Hervé in Marina di Massa, Italien, als Service ein Schließfach bietet und eine Telefonnummer mit der Endziffer 382 hat.
Wenn diese Informationen dem unbedarften Betrachter belanglos erscheinen, so möchte ich daran erinnern, dass auch die Ziffern auf dem Kontoauszug zunächst nichtssagend erschienen. Es liegt an uns, ob wir Bezüge erkennen und herstellen können. Nur durch wachsames Suchen und Kombinieren habe ich schließlich auch die heiße Spur entdeckt, von der ich überzeugt bin, dass sie zur Lösung des Rätsels führt. Als ich bei Google den Suchbegriff “Schließfach 382” eingab, stieß ich auf eine Homepage, deren Betreiber mir äußerst verdächtig erscheint. Ein Bild vom März 2004 zeigt ihn mit grauer Haut, tiefen Stirnfalten, einer Brille und seltsam hervorspringenden Eckzähnen.
Morgen werde ich ihn im Beisein von Frau von Leiden anrufen und den Lautsprecher anstellen. Dann wird sich zeigen, ob wir den Mann mit der bellenden Stimme endlich gefunden haben. Angeblich führt er einen Kleinverlag mit Sitz in Dortmund. Unter den Schriften, die diese Pseudo-Firma anbietet, stach mir sofort ein Kochbuch ins Auge mit dem vielsagenden Titel: “Futter für die Bestie”. Und unter Mitmachprojekt (kaschiert als Kurzgeschichten-Wettbewerb) steht wörtlich: “Im Januar lautet das Thema: Schließfach 382.” (!!)
Kann ja sein, dass er selber nur eine Pappfigur ist und von den hier geschilderten Vorfällen gar keine Ahnung hatte. Wer wirklich dahintersteckt, muss ich erst noch herausfinden. Die Bilderberger? Die Weltbank? Der internationale Währungfonds? Die Illuminati? Es klingt vielleicht größenwahnsinnig, aber ich glaube, dass ich den wahren Ausbeutern der Menschheit, diesen hochkarätigen Blutsaugern, langsam aber sicher auf die Schliche komme. Sollte Frau von Leiden am Telefon seine Stimme erkennen, werde ich ihm noch morgen auf die Pelle rücken und Greg und Luise eigenmächtig befreien – falls sie noch leben. Auch wenn noch nicht alle Fragen vollständig geklärt sind, sende ich diesen Bericht vorsichtshalber schon einmal ab. Inga stellte mich zwar als Spezialist für Hintergrundrecherchen vor, aber sie weiß genauso gut wie ich, dass dies mein allererster Auftrag dieser Art ist. Sollte ich plötzlich von der Bildfläche verschwinden, dann hat sie wenigstens einen Hinweis, wo ich zu finden sein könnte: in einem Keller in Dortmund.
Ich werde der Sache nachgehen.
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Sehr geehrter Herr Schröter,
wie telefonisch vereinbart bestätige ich Ihnen hiermit, dass Frau von Leiden zwischen Ihrer Stimme und der des rätselhaften Anrufers keine Verbindung herstellen konnte. Von Herrn Kluge fehlt weiterhin jede Spur.
Mit freundlichem Gruß
Inga Heidenreich

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
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