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Februar 2005
Irre Typen: Lämmlein und Dorian
aus Lisa Labachs Tagebuch

von Jan MĂĽller

Sonntag, 16. Oktober 1977
Gestern war wieder ein Heidelbergtag. Schon am Morgen floh ich aus der unerträglichen, mich bis zur Erstickungsangst treibenden Kleinstadtatmosphäre von B. und setzte mich in den Zug. Wie immer das kitzelnde, freie Atmen in mir, die Freude auf die Ereignisse, die mir ein Tag in Heidelberg bringen würden. Vom Bahnhof fuhr ich mit der Straßenbahn zur Innenstadt.
Gleich an der ersten Haltestelle fallen mir zwei Typen in einem intensiven, extrovertierten Zustand auf, die mich durch die Scheibe betrachten und stark gestikulierend über mich reden. Der Größere ist dunkelhaarig, hat dunkle, große Augen und Züge wie ein verlotterter Aristokrat. Dann verschwinden sie aus meinem Blickfeld und die Bahn fährt weiter. Schade, denke ich. Ein starker Funke war zwischen uns übergesprungen.
Plötzlich stehen sie vor mir und setzen sich auf die Sitzbank mir gegenüber, kichernd und sprühend vor Lust. Sie müssen am anderen Ende eingestiegen sein. Der Schwarzhaarige nimmt meine Knie zwischen die seinen und fragt, ob es erlaubt sei. Er küsst meine Hände und vergräbt seinen Kopf in meinen Schoß.
“Wie viele Ehemänner haben Sie denn?”, fragt er.
Ich zeige ihm meinen Strassring und sage: “So viele, wie dieser Ring Kristalle hat. Bäume bekommen Jahresringe, meine Männer werden zu Kristallen in diesem Ring.”
Wir sind sofort hellauf begeistert von einander. Der Andere, der etwas einfältig wirkt, lächelt freundlich und sagt: “Der ist immer so.”
Der Dunkelhaarige hat einen Malkasten dabei und zeigt mir ein Temperabild, das er gerade gemalt hat: Palmen und Meer, schlecht und geschmacklos.
“Ach Gott, wie furchtbar”, sage ich.
Sofort schiebt er das Fenster herunter und wirft es auf die Schienen. Wir beschließen, zusammen Kaffee trinken zu gehen. Ich schlage das Pop vor. Da wollten sie sowieso hin, meinen sie. Aus ihren Bemerkungen schließe ich, dass sie längere Zeit nicht in Heidelberg waren.
Nach dem Aussteigen sehen wir ein Kamel. Dorian, der schöne Dunkelhaarige, fragt sofort den Mann mit einer Sammelbüchse, ob er darauf reiten dürfe.
“Nein, das geht nicht.”
Dorian lacht so laut und höhnisch, dass sich die Leute in der überfüllten Straße nach uns umdrehen.
“Das Kamel hat einen eigenartigen Geruch”, sagt der Scheue, den ich Lämmlein taufe. “Oder ist das dein Parfüm?”
Es ist mein Zedernöl. Beide sind davon begeistert und reiben sich damit die seltsamsten Stellen am Kopf ein.
“Manche Menschen riechen wie edle Hölzer”, sagt Dorian. Ich werde hellhörig. Da scheint einer aus meinem Geblüt zu sein, was das Bildhafte der Vorstellung anbelangt. Er lacht provozierend und wirft den Vorbeigehenden eigenartige Satzfetzen hin.
“Wir sind nämlich aus der Irrenanstalt entflohen”, erklärt er mir. Ich lache und denke, es ist ein Scherz, aber es dauert nicht lange, und ich glaube es ihnen. Entflohen ist übertrieben: Sie haben übers Wochenende Ausgang und müssen Sonntagabend wieder im Rehabilitationskrankenhaus bei Karlsruhe sein.
Auf dem Weg zum Pop redet Dorian ununterbrochen von Omnipotenz und Freiheit und von der schwarzen, bösen Macht des Katholizismus.
“Was hast du nur mit dem Katholizismus?”, frage ich.
“Das ist sein Trick”, sagt Lämmlein.
Im Pop setzen wir uns in eine hintere Ecke und haben das schöne Gefühl, eine fest zusammengehörende Dreiergruppe zu sein, aneinandergekettet durch die intensive Situation, unseren Traum, unser Bekenntnis, unsere Phantasie, die Auseinandersetzung mit dem Augenblick. Wir bilden eine Einheit, die ihren eigenen Gesetzen folgt und sich von der Umwelt abhebt wie ein Öltropfen auf Wasser.
Dorian spricht über Sex, über seine frühere Wahnsinnspotenz, seine jetzige Fastimpotenz, und widerspricht sich gleich im nächsten Moment. Nur eines betont er immer wieder: Sie seien hauptsächlich der Weiber wegen nach Heidelberg gekommen.
Ich habe Lust, mich zu schminken. Auch Dorian schminkt sich, bindet sich mein rotgelbes Gaugin-Tuch um die Stirn, läuft mit wehendem Tuch durchs Lokal und verkündet: “Omnipotenz und Freiheit!”
Wir verlassen das Pop und gehen ins Sheppards Lunch Kaffeetrinken. Dorian spricht die ganze Zeit über Sex. Wen von beiden ich denn vorzöge. Natürlich gefällt mir Dorian besser, obwohl er in seiner chaotischen, narzisstischen Art sehr anstrengend ist. Inzwischen habe ich entdeckt, dass er Marc aus Berlin ähnelt, und bin nahe daran, mich in ihn zu verlieben. Lämmlein, – mit seiner verständnisvollen, scheuen Art sehr erholsam –, gefällt mir äußerlich überhaupt nicht. Ich mag ihn aber ohne Spannung und freundschaftlich und bringe es nicht übers Herz, ihm zu sagen, dass mir Dorian besser gefällt.
Dorian spricht von einer vierten Person für denjenigen, den ich ablehnen würde. Innerhalb der letzten Stunde ist eine so intensive Beziehung zwischen uns dreien entstanden, dass eine Vierte wie ein Fremdkörper wäre und unser Verständnis nur stören würde. Ich schlage deshalb vor, ohne Vierte zusammen zu bleiben. “Ich mag euch beide”, sage ich, obwohl mir jeder Gedanke an Sex oder gar “Gruppensex”, wie manche das nennen würden, in weiter Ferne liegt. Ich genieße nur die hautnahe geistig-seelische Beziehung zu meinen neuen Freunden, die so ganz aus meinem Holz geschnitzt sind, und diese Szene, in der ich mich voll entfalten kann, dass ich gerne eine Versprechung mache, um sie bei mir zu halten.
Dorian beginnt mich einzuteilen in Ober- und Unterleib; in einen, der vorbereitet, und einen, der vollzieht; in einen, der die Nacht an meiner Seite verbringt, und einen, der mich nimmt. Für ihn steht fest: Er will, dass jeder eine andere, nur ihm eigene Funktion zugeteilt bekommt, wofür er Wendungen benutzt wie “zuständig sein, verantwortlich sein”. Aber was immer er vorschlägt, Lämmlein fühlt sich jedes Mal übers Ohr gehauen, ist der Meinung, dass ihn Dorian benachteiligen will, und lehnt alles ab. Dorian missversteht mein Interesse an Lämmlein, das nur auf dem Wunsch beruht, ihn nicht zu verletzen, und glaubt, mir gefiele Lämmlein besser. Also verschieben wir jede Entscheidung auf später.
Wir überreden Dorian, der lieber im Café sitzen bleiben würde, etwas an der frischen Luft spazieren zu gehen. Wie ein unartiges, verwöhntes Kind fragt er ständig: “Ist es noch weit?”
Wir wandern über die Neckarbrücke. Am anderen Ufer sitzt Jack, der farbige Sänger, mit einer dicken, violettschwarzen Angelrute, die fast bis zur Mitte des Neckars reicht und wie die verlängerte Ausführung seines schwarzen Gliedes aus seinen Schenkeln ragt. Wir stellen uns zu ihm und schauen zu, wie er einen Fisch vom Haken nimmt und ins Netz wirft. Jack sagt, er habe mich beim “Heidelberger Herbst” gesehen, aber als er endlich von der Bühne kam und mit mir reden wollte, sei ich schon weg gewesen.
Hundert Meter von Jack entfernt setzen wir uns ans Ufer. Dorian klappt seinen Malkasten auf, taucht die Pinsel in den Neckar, rĂĽhrt die Farbe auf dem moosigen Stein an und beginnt, das gegenĂĽberliegende Ufer mit Himmel, Bergen, Kirchturm und Wasser zu malen.
Wir liegen im Gras und schweigen. Es ist ein wunderschöner Herbsttag, ein lacksroter Pastellhimmel, ein Nachmittag, zu dem Worte passen wie See und Segel und Zuckerkuchen und Sehnsucht und Süße und Schmerz. Lämmlein geht über die Brücke, um in der Innenstadt Trips zu besorgen, kommt aber unverrichteter Dinge zurück. Währenddessen setze ich mich zu Jack und frage ihn übers Angeln aus.
Auf einmal winkt mich Dorian aufgeregt zu sich. Ich renne zu ihm und sehe sein Bild im Neckar schwimmen. “Schau es dir noch mal an, bevor es weg ist”, sagt er.
“Warum hast du es weggeworfen?”
“Es war nichts.”
“Ich hole es raus”, sage ich und merke, wie Dorian sich darüber freut. Ich ziehe Stiefel und Socken aus und kremple die Hosen bis zu den Schenkeln hoch. Ein Spaziergänger reicht mir seinen Stockschirm, und ich fische das Bild tatsächlich aus dem Fluss. So abgewaschen und verwittert sieht es sehr schön aus. Dorian hält es den Vorübergehenden für immense Summen zum Kauf hin, es sei Milliarden Jahre alt, ein archäologischer Fund. Dann malt er dicke rote Farbstreifen darauf, versaut alles und wirft es wieder in den Fluss.
Wir schlendern zurück zur Szene, wo Lämmlein einen Downer kauft, von dem er glaubt, es sei Speed. Die beiden schlucken es auf einer Bank im Museumspark. Ich koste es mit der Zungenspitze, finde es aber so ekelhaft bitter, dass ich mich fast übergebe.
Wir nehmen den Zug nach B. und fahren dann mit dem Taxi zu mir. Zu Hause ziehe ich wie üblich ein Haushemd an. “Wir machen es uns auch bequem”, sagt Dorian und zieht sich aus. Unterhosen und Socken trägt er sowieso nicht. Lämmlein entkleidet sich ebenfalls, beide setzen sich nackt auf den Teppich. Dorians Haut ist dunkel, fast olivfarben. Ich bin überrascht über seinen perfekten Body mit kräftigen Schultern und schöner, starker Knabenbrust, – dazu das Gesicht von Marc! Unglaublich! Lämmlein ist weiß-rosa, hat einen Bauch, runde Schultern und einen winzigen Pimmel. Wir sitzen uns höflich gegenüber, spielen “zu Besuch” und sprechen über dies und das. Dann gehen wir alle drei in die Badewanne und diskutieren, was jetzt kommen soll.
Der schönste Augenblick ist, wie ich nachts aufwache und sehe beide neben mir schlafen. Lämmlein liegt links auf der grünen, etwas erhöhten Matratze, die wir an die andere geschoben haben, und Dorian zu meiner Rechten mit mir unter einer Decke. Ich sehe Dorians Brust, braun, glatt, eine plastische Bronzebrust, kupferfarbene, feste Knospen. Wirr und trotzig fällt das schwarze Haar in die hellschimmernde Stirn. Ohne ihn oder den anderen zu wecken, genieße ich sacht und heimlich die Süße dieser Nacht. Meine Wange, meine Stirn auf dieser dunklen Brust, knabenhaft und doch mächtiger, stärker und breiter als ich. Er ist Junge und Mann und ich bin Mädchen und Weib und Mutter. Behutsam liegt mein Kopf auf dem Herzen dieses Jungen, den ich erst seit gestern kenne, aber der mir seit langem vertraut vorkommt. Für Sekunden der Glanz und der Schimmer des Gefühls: Ich liebe dich. Hier ist mein Knabe, mein Animus. Ich mache dich gesund, ich mache dich heil, für mich. Ich bleibe bei dir und beschütze dich. Dann bist du mein.
Aber am Morgen beginnt wieder Chaos. Dorian geht Zigaretten holen, er zittert fast vor Gier, weil sie ihm nachts ausgegangen sind. Für Lämmlein und mich mache ich ein Frühstück aus der Yogaszene: Müsli und Tee. Dorian will Wein, Zigaretten und Toast. In einem Augenblick, wo Lämmlein gerade nicht in der Küche ist, stecke ich Dorian meine Adresse und Telefonnummer zu, und er fragt augenzwinkernd: “Willst du meine Mätresse werden?” Nachmittags gehen wir zum Bahnhof und machen Automatenfotos, dann steigen sie in den Zug nach Karlsruhe.

Donnerstag, 20. Oktober
Am Dienstag abend ruft Lämmlein an und fragt, ob er mich besuchen dürfe. Mit Dorian habe er “den Stab gebrochen”. Er kommt mit einem Perser, der ihn fährt. Er will nicht, dass ich von Dorian spreche, will mich für sich, empfindet Dorian als Rivalen. Heute erhalte ich einen Brief von Lämmlein, der mir zeigt, dass er doch kränker und verwirrter ist, als ich annahm.
Mir fällt auf, dass ich seit Jahren Menschen mit Psychosen kennenlerne. Drei Wochen vorher hatte ich im Pop Alfons getroffen, der glaubte, dass ihn kleine Männchen vom Mars verfolgten. Ich scheine diese Leute magisch anzuziehen, vielleicht weil ich selber damit kokettiere, verrückt zu sein. Nun sehe ich eine Gefahr darin, dass daraus Ernst werden könnte. Ich will mir abgewöhnen, das Spinnen schick zu finden – will den Überblick nie verlieren.
Dorian ist die schillerndste Person, die ich in den letzten Jahren getroffen habe. Ein Zusammenspiel aus Aristokratie, Intelligenz, Gosse, Verderbtheit, dazu die Kraft poetischer, sensibel erfasster Bilder und die Faszination von Sprache, die ich seit Marc bei keinem mehr empfunden habe.
Eigenartig: Ich habe ja immer das russische Märchenbuch mit den Illustrationen von Bilibin neben meinem Bett stehen. Bisher hatte ich das Bild vom Feuervogel aufgeschlagen. Wenige Tage, bevor ich Dorian traf, schlug ich das Bild vom dunkelhaarigen Zarensohn auf, der im Wasser vor dem verzauberten Froschfräulein steht. Jetzt ist der Zarensohn zu Dorian geworden.

Sonntag, 23. Oktober
In der Dämmerung spazieren gegangen. Gewaltige Farben am Abendhimmel, sandige Wege, Laub – ein Glanz über allem, Magie und Verwandlung. Dorian füllt den Raum. Was macht er wohl in diesem Augenblick?
Omnipotenz und Freiheit – der natürliche Zustand, wenn das Nervensystem ohne Blockaden ist und die Kräfte des Unterbewusstseins voll genutzt werden. Wäre das bei Dorian stabil und dauerhaft, wäre er mein Mann fürs Leben.

Dienstag, 25. Oktober
Beim Spazierengehen sah ich mitten auf dem Weg eine tote Schlange, dickes, festes Blut quoll aus fĂĽnf Bisswunden und malte eine Krone auf den Boden.
Gestern kam ein zweiter Brief von Lämmlein, dieses Mal in rot. Ich mache mir Sorgen, er legt zuviel in unser “Verhältnis” hinein.. Abends rief er an. Ich sagte ihm, dass mich seine Briefe und seine Einstufung von mir erschreckten. Seine Stimme klang angenehm, sehr fein und sensibel.
Dorian ließ bisher nichts von sich hören. Ist wohl besser so. Wie auch immer eine Beziehung zu ihm fortlaufen würde, ich glaube, ich würde mich dabei völlig aufreiben. “Du liebst zu stark und wirst damit allein gelassen”, schrieb Lämmlein in seinem roten Brief.

Später: Seit Wochen der erste Regen. Den ganzen Tag bin ich hier bei mir in der Stille, geborgen in diesem Raum wie im kosmischen Mutterschoß. Hänge den Träumen nach ... der Sehnsucht nach Schönheit, Zärtlichkeit, Leidenschaft, Wärme und Kraft ... Dorians Faszination verblasst. Ich bin froh darüber.
Ich hoffe, er meldet sich nie wieder.

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