Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
In diesem Buch präsentiert sich die erfahrene Dortmunder Autorinnengruppe Undpunkt mit kleinen gemeinen und bitterbösen Geschichten.
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Februar 2005
Cool Runnings an der Sackpfeife
von Susy Clemens

„Meine komödiantische Ader verlangt täglich Aufmerksamkeit, ich muss mindestens einmal am Tag essen, schlafen, scheißen und Blödsinn machen. Wenn nicht, fange ich an, mich unwohl zu fühlen.“ (Pablo Tusset, Das Beste was einem Croissant passieren kann)

TIM:
Welches Schicksal mich in ein Dorf nahe einer beliebten deutschen Universitätsstadt verschlagen hat, will ich hier nicht erzählen – das würde zu weit führen.
Nur soviel – meine Vorfahren väterlicherseits stammen aus Tobago – schon in den Sechzigern gab es weiße Touristinnen, die sich gern ein Andenken von schwarzen Ureinwohnern basteln ließen – und daher hasse ich den mitteleuropäischen Winter, wenn es mir nicht gelingt, ihm zu entkommen und beispielsweise ganjarauchend an den Stränden von Goa rumzuhängen.
Leider bin ich mit einer Tochter gestraft, die nicht nur eine Haut wie Elfenbein hat, sondern auch noch eine Sonnenallergie. Eine Strafe muss es sein, denn als sie entstand, hatte ich aus einer Laune heraus gerade die Frau meines Herzens verlassen, um es in Thailand mit asiatischen Schönheiten zu treiben, bis ich im wahrsten Sinne des Wortes nicht mehr konnte.
Um sich zu rächen, ließ meine Frau (verheiratet waren wir zu dem Zeitpunkt allerdings noch nicht) sich von einem rattengesichtigen Weißarsch mit schwedischen Vorfahren schwängern.
Ich kam aus Thailand zurück, als sie schon eine medizinballgroße Kugel unter ihrem dünnen Batikfummel trug – es war gen Ende des Sommers – und der neue Freund tappte neben ihr her.
Unglücklicherweise war es ein heißer Sommer gewesen, und Rattengesicht hatte eigentlich ungefähr die gleiche Hautfarbe wie ich. Außerdem trug er Locken bis weit über die Schultern, und er war mit Sicherheit mindestens 5 Kilo leichter als ich, dafür aber ein paar Zentimeter größer. Also, man muss sich das so vorstellen: impotent und abgebrannt aus einem sehr langen Urlaub zurück, die 30 längst überschritten, und dann hat die eigene Frau offensichtlich einen Braten in der Röhre und einen braungebrannten Waschbrettbauch mit Wallemähne neben sich, der einen Mund hat wie Johnny Depp!-
Ich trinke sonst selten Alkohol, aber ich war, wie gesagt, völlig pleite und hatte kein Gramm Gras mehr, also rein in die nächste Kneipe, wo man mich kannte, ein paar „Tequila Sunrise“ abgekippt, anschreiben lassen, und dann fiel mir ein, dass irgendwo noch mein Motorrad stehen müsste und ich es vielleicht zu Geld machen könnte, wenn ich es René andrehe, einem befreundeten Autoschrauber mit Werkstatt auf dem Land.
Ich fand die Schüssel auch wirklich im Hinterhof der Chaoten-WG, wo ich ein Zimmer hatte.
Als ich sie gerade starten wollte, versuchte Stefan, ein Mitbewohner, mich aufzuhalten.
„He, Schwarzgesicht, zurück aus Thailand? Was haste denn vor – Moment mal, du hast ja ‚ne Fahne, willste etwa so fahren?“
„Aus dem Weg“, sagte ich dumpf, „muss die Schüssel loswerden, brauch’ Knete, und Jule läuft mit nem Dicken Bauch und ‚nem blutjungen werdenden Vater rum, ich muss ...“
`Stefan blieb der Mund offen, er starrte mich fassungslos an. Ich wusste nicht so recht, wieso – wir kennen uns schon ziemlich lange, und er wusste doch, dass ich ein total cooler Typ bin – aber als die Kiste ansprang und ich etwas schwankend aus dem Hof knatterte, hatte ich ihn sofort vergessen. Um es kurz zu machen: sehr weit kam ich nicht.
In der Bahnhofstrasse übersah ich beim schwungvollen Spurwechsel, dass auf der andern Fahrbahn schon jemand war, und dann wurde ich nur kurz halbwach, als sich eine Menge Leute über mich beugten, mich anschrieen und nach Notarzt und Polizei brüllten. Bevor mir schlecht wurde, ließ ich mich zurück in Bewusstlosigkeit fallen, und beim nächsten Aufwachen war um mich herum alles weiß, ich hatte rasende Kopfschmerzen und ein älterer Mann im Bett neben mir fragte mich auf englisch, ob ich wach sei und klingelte nach der Schwester. Wenigstens an den Helm hatte ich noch gedacht – die Kopfschmerzen waren nur ein übler Kater. Man sagte mir, ich sei gerade eben noch mal dem Tod von der Schippe gesprungen, hätte anscheinend einen sehr fleißigen Schutzengel, und es wären außer mir keine anderen Leute verletzt worden. Allerdings lag ich da mit einer Oberschenkelfraktur, ein paar Rippenbrüchen, einem gebrochenen Handgelenk und jeder Menge Prellungen und Hautabschürfungen.
Die schlechte Nachricht war, dass das Motorrad natürlich hinüber war, da gab es nichts mehr zu verkaufen.
Die gute Nachricht: die ganze Geschichte verbreitet sich in Windeseile bis zu Jule, die bald darauf niederkam und im Wochenbett dermaßen um mich heulte, dass Rattengesicht ihr erlaubte, mit mir zu telefonieren, sobald sie imstande war, zu sprechen ohne gleich loszuweinen. Leider lagen wir nicht im selben Krankenhaus, und so dauerte es noch 10 Tage, bis sie mich mit ihrer Tochter das erstemal besuchen konnte. Rattengesicht hatte sie hergefahren und wartete auf dem Gang, aber dass Jule schon wieder losheulte, als sie mich mit all den Verbänden und dem eingegipsten Bein sah, dürfte er nicht überhört haben.
Meine Frau legte Lisa in meinen unverletzten Arm, und als deren winzige Finger sich um eine meiner Dreadlocks schlossen und daran festklammerten, schoss mir auch das Wasser in die Augen, allerdings nicht vor Schmerz, denn soviel Kraft hatte sie noch nicht.
So kam es, dass ich, als ich nach Wochen aus dem Krankenhaus entlassen wurde, nicht nur meine Frau zurück sondern noch eine Tochter dazu bekam. Rattengesicht mit der blonden Mähne hatte eingesehen, dass er keine Chance hatte. Ich stellte mir vor, dass er wie die Frauen, die für sterile Politikergattinnen Kinder austragen müssen in der „Geschichte der Dienerin“ (ein SF-Film, in den Jule mich irgendwann geschleppt hatte) eben nur die Funktion des Samenspenders hatte. Die hätte ich zwar selbst übernehmen können – wäre dem nicht so, ginge es uns finanziell etwas besser – aber manchmal geht das Schicksal seltsame Umwege.


Mit meiner libidinösen Schwäche war’s natürlich bald vorbei, sobald Jule und ich wieder ein Paar waren – es war ganz einfach, ich brauchte sie und keine andere, das war also klar.
Lisa hätte gern noch ein Geschwisterchen gehabt, aber ihre Geburt war für die schmalgebaute Julie ein solcher Alptraum gewesen, dass sie auf weiteren Nachwuchs verzichten wollte, also ließ ich mich ausknipsen – ein kurzer schmerzloser Eingriff, sehr zu empfehlen, wenn mann sich sicher ist und ohne irgendwelchen Verhütungsfirlefanz Liebe machen möchte.
Außerdem tat Lisas Erzeuger sich mit einer veritablen Provinzschönheit zusammen und machte ihr flugs noch ein Halbbrüderchen, als sie vier war, so hatte sie Familienanschluss an jedem zweitem Wochenende und konnte stundenweise die große Schwester spielen.
Sehr praktisch, weil ich Jule dann für mich allein hatte und mit ihr um die Häuser ziehen und alte Freunde besuchen oder sonst irgendeinen Blödsinn machen konnte, der flachfiel, wenn das kleine Mädchen dabei war. ( Nur dass Lisa jedes Mal Rotz und Wasser heulte, wenn sie ihre Ersatzfamilie wieder verlassen musste, war für ihre Mutter schmerzhaft und für mich als ihren Dad mehr als ärgerlich.)

Sascha:
Jule hat mir Tims Erguss zu lesen gegeben und wollte wissen, ob ich mich davon irgendwie „getroffen“ fühle. Aber es steht mir ja frei, ihn einen hirnamputierten Bimbokasper zu schimpfen – was ich natürlich nie tun würde. Dennoch – was für ein Angeber!
Den karibischen Höhlenbewohner als Papa, das hätte er wohl gern. Soviel ich gehört habe, war sein Vater ein farbiger Gi, Ende der 50er im Schwäbischen stationiert.
Während seiner Reise war er die ganze Zeit mit einer französischen Backpackerin liiert, die jetzt wohl in einem Pariser Vorort mit einem Halbschwesterchen unserer Tochter sitzt – von wegen asiatische Schönheiten!
Dass ich nicht die große Liebe war, sondern nur die zweite Geige spielte, habe ich Jule natürlich immer angemerkt, aber spätestens als sie schwanger war, betrachtete ich die Sache mit Tim als gegessen. Und ich glaubte, bei ihm sei es ebenso: als er uns an jenem Tag kurz vor Lisas Geburt entgegen kam, frisch aus Asien zurück, den Seesack geschultert, lässig zwei Finger hob und „Hi, Jule“ grinste, als hätte er sie gestern erst zum letzten Mal gesehen, und mich dabei ignorierte, hätte ich nie gedacht, dass dieser Blödmann sich als nächstes halbtot fahren und mir danach meine Familie kaputtmachen würde. Wahrscheinlich war Öl auf der Strasse gewesen und deswegen die Maschine ins Schleudern gekommen.
So wie die Dinge sich danach entwickelten, blieb mir nichts anderes übrig, als Jule aufzugeben und mich mit ihr zu arrangieren, damit ich unsere Tochter wenigstens hin und wieder sehen konnte. In den nächsten Jahren gingen wir Väter uns aus dem Weg, und meine Kämpfe um den Unterhalt focht ich mit Jule alleine aus. Lisa schien mich mehr als eine Art großen Bruder zu betrachten. Sie nannte mich beim Vornamen und Tim war ihr Dad. Wenn sie bei der „Übergabe“ mal heulte, dann wahrscheinlich vor Erleichterung und Wiedersehensfreude.
Die ersten Schritte, die ersten Sätze, Kindergartenzeit, Schulanfang – das alles erlebte ich nur am Rande, und was für ein Glück, dass ich selbst meine erste große Liebe wieder traf und mit ihr eine neue Familie gründen konnte!
Oft hatte ich Jule gefragt, was denn eigentlich so toll war an Mr. Bombastic, welche überragenden Qualitäten ihn auszeichneten, dass sie nicht von ihm loskam – und ein wenig errötend hatte sie gemeint, er würde eben in jeder Hinsicht perfekt zu ihr passen. Jetzt wusste ich endlich, was sie damit gemeint hatte.
Wir sechs hatten nicht sehr viel miteinander zu tun – am besten verstanden sich die Kinder – und mir wäre bis zu jenem Nachmittag an der Sackpfeife nie der Gedanke gekommen, dass Tim mich in irgendeiner Weise als Konkurrenz oder Bedrohung ansehen könnte.

TIM:
Wir hatten also schon etwa neun lustige Jahre hinter uns, als Lisa an einem verschneiten Wintermorgen auf die Idee kam, Schlitten fahren zu wollen.
„Ich bleib hier, T.-Jay“, meinte meine Frau seelenruhig. „Du bist ja schon mal mit ihr gerodelt – fahrt zur Sackpfeife, da hat’s richtig viel Schnee. Ich muss mich um die Wäsche kümmern, außerdem krieg’ ich gerad’ ‚ne Erkältung.“
Na, toll. Die Sackpfeife ist ein Hügel in unserm Bundesland, der in ca. einer Autostunde zu erreichen ist und wirklich gut besucht im Winter, und ich brannte nicht gerade darauf, über eisglatte Strassen bis dahin zu schlittern, um dann unsere Lisa steile Hänge hoch zu zerren und mit schwindelerregender Geschwindigkeit in beißendem Wind wieder runterzusausen – seit dem Motorradunfall machten mir hohe Geschwindigkeiten etwas Bauchschmerzen – aber wenn Jule eine Erkältung bekam, war nichts zu machen, das wusste ich aus Erfahrung.
Also wühlte ich in meinem Überseekoffer nach einer Kappe und Handschuhen, wollte mir gerad’ noch ‚ne Tüte bauen, hörte dann, dass Jule Alpha B. aufgelegt hatte – „t’as pas besoin de fumer ganja pour être rasta“ – ein sicheres Zeichen, dass sie ahnte, was ich trieb und mich warnen wollte: geh bloß nicht bekifft rodeln mit unserer Tochter!, und so baute ich den Joint zwar fertig, ließ ihn aber neben dem PC, den Julie vor kurzem angeschafft hatte, liegen, um ihn später beim Surfen im Netz zu rauchen.

Lisa ist eine prima Beifahrerin. Da sie nach ihrem Erzeuger kommt, war sie sehr groß für ihr Alter und durfte schon neben dem Fahrer – in dem Fall neben mir – sitzen. Wir spielten „ich sehe was, was du nicht siehst“ und sangen lauthals mit, als ich Bob Marley laufen ließ – natürlich konnte sie schon ganz passabel englisch.
Auf dem Parkplatz gab es einen kurzen Zwischenfall, als jemand Lisa trotz ihrer Größe übersah und beim Zurücksetzen fast übern Haufen fuhr, während ich ihr half, den Skianzug anzuziehen, für den es im Auto zu warm gewesen war. Ich rastete kurz aus und trat gegen den Reifen des grünen Volvo, eine Mutti schlug erschrocken die Hand vor den Mund und der Fahrer kurbelte das Fenster runter und grinste „tschulligung, Bimbo!“, und als ich gerade zu toben anfangen wollte, zog Lisa mich weg.
„Ist doch nix passiert, Papa, jetzt beruhige dich mal, es wird peinlich!“, piepste sie, und ich holte schweigend unsern alten Holzschlitten aus dem Kofferraum und zog grummelnd mit ihr zur steilsten Abfahrt – darauf hatte sie bestanden. Wenigstens würde es etwa zwanzig Minuten dauern, bis wir unten waren und ich sie im Schweiße meines Angesichts den Hügel wieder hochziehen müsste.

Dachte ich.
Der Unfall passierte, als wir gerade die Hälfte der Strecke hinter uns hatten und ich anfing, mich zu entspannen und Lisa, die vor mir saß, nicht mehr ganz so krampfhaft an mich presste.
Ein ähnlich altertümlicher Holzschlitten wie unserer überholte uns, indem er so haarscharf an uns vorbeischoss, dass ich die Zugluft zu spüren bekam. Vorne hockte ein jubelndes, fünfjähriges Bürschchen, dahinter ein Typ, dem die blonden Locken wie ein Heiligenschein hinterher wehten, natürlich lässig von einem wollenen Stirnband gebändigt, und ich erkannte unschwer Lisas Erzeuger.
Doppelt erschrocken durch das schneidige Überholmanöver und die Erkenntnis, dass die Konkurrenz (was Lisas Erzeuger natürlich irgendwie war) nicht schläft, rammte ich den Absatz meines linken Stiefels in den Schnee, und der Schlitten schleuderte, drehte sich einmal um sich selbst und warf uns dann ab wie ein bockendes Pferd. Ich rollte mich instinktiv zusammen und kam ziemlich rasch wenigstens auf die Knie, aber Lisa lag seitlich ein paar Schritte weiter im Schnee, hatte die Augen geschlossen und sah unnatürlich weiß aus.
Mühsam kam ich auf die Beine, wankte zu ihr und bemerkte nicht einmal, dass ihr richtiger Paps weiter unten gebremst hatte und mit Sohnemann an der Hand eilig auf uns zugestapft kam. Wer weiß, wie ich mich hätte verhalten können, wenn Julie mit ihrer blöden Musik mich nicht davon abgehalten hätte, meine obligatorische Tüte vorher durchzuziehen!
So stand es leider um meine Nerven nicht zum Besten. Kaum bei Lisa angekommen, knickten mir die Beine wieder weg, und als sie auf mein Gebrüll und vorsichtige Berührungen nicht reagierte, befielen mich unkontrollierbare Zitterkrämpfe. Als Sascha mit Brüderchen bei mir angekommen war, wollte ich auf ihn losgehen, aber er hielt mich an der Schulter fest – ich kniete immer noch neben der bewusstlosen Lisa – und zückte ein Handy.
„Ich ruf eben die Ambulanz, die sind in ein paar Minuten da! Lass sie uns vorsichtig auf die Seite drehen. Frierst du so, oder was? Ey, Mann, jetzt krieg dich mal ein!“
Er drehte das Kind vorsichtig so, dass es nicht ersticken würde, falls es kotzen müsste (wie man mir später erklärte), zog seinen dicken Anorak aus und deckte sie damit zu, telefonierte,
tröstete seinen aufgeregten Sohn und warf mir ab und zu seltsame Blicke zu.
Meine Zähne schlugen jetzt zwar nicht mehr aufeinander, aber dafür konnte ich aus irgendeinem Grund nichts sehen, oder jedenfalls nicht richtig.
Später sagte man mir, ich hätte den Kopf in die Hände gelegt und geheult wie ein kleines Kind. Und ich hätte froh sein können, dass es Lisas Dad war, der uns so erschreckt hatte, dass wir umgekippt waren, und nicht irgendein Arsch, der einfach weitergefahren wäre.
Ich hatte eine Heidenangst, dass meiner Stieftochter was passiert wäre, war aber leider völlig handlungsunfähig. Als die Ambulanz da war, verfrachteten sie mich mit in die Notaufnahme – Sascha regelte alles, sagte sogar, ich sei der Vater, was niemand anzweifelte, da die Mutter ja nicht dabei war und keiner von uns irgendwelche Papiere dabeihatte.
Wahrscheinlich hatte er wegen des windigen Überholmanövers selbst ein schlechtes Gewissen.
Irgendjemand verpasste mir schon im Krankenwagen eine Spritze, damit ich still war, und Sascha kam später mit Julie in die Notaufnahme. Das Verrückte war, Lisa war gar nichts Schlimmes passiert – sie hatte nur einen Schock und ein verstauchtes Handgelenk.
Mich hätten sie fast auf die psychiatrische überwiesen, weil ich mich ziemlich aufregte, sobald die Wirkung der Spritze nachließ, aber Jule hielt sie davon ab. Sie schaffte es, mich runterzufahren, und als Sascha sich verabschiedete, konnte ich sehen, dass sie ein bisschen verlegen grinste und er ihr aufmunternd die Schulter tätschelte – „du kriegst das schon hin, Alte, haste eben mal zwei Kinder, das wird schon wieder“, sollte das wohl heißen.
Jedenfalls bin ich ihm später wegen der Wochenendbesuchsregelung nicht mehr an den Karren gefahren – er kann sie abholen, wann immer er will, wenn sie das auch möchte – und Jule hab’ ich erklärt, dass ich mich einfach zu Tode geängstigt hatte wegen unserer Kleinen.
Sie hat mir ein heißes Bad eingelassen, ‚nen Tee gekocht, und bevor ich mich langlegte, brachte sie mir selbst den morgens gedrehten Joint und gab mir Feuer, bevor sie Lisa ihre Gutenachtgeschichte vorlas.

Sascha:
So ein Schlingel! Da hat er unser kleines Wettrodeln ja fein nacherzählt. Nur, dass er ab einem bestimmten Zeitpunkt die Personen vertauscht hat. Zwar habe ich ihn überholt, ohne zu wissen, wer da auf dem Schlitten saß, der auch nicht gerade langsam fuhr. Mit Parka und Wollmütze sehen die meisten Erwachsenen von hinten ziemlich gleich aus, und unsere Tochter konnte ich nicht sehen, da sie vor ihm saß.
Doch umgekippt ist dann unser Schlitten. Eine Baumwurzel war unser Verhängnis.
Ich war es, der die Nerven verlor und in wüste Beschimpfungen ausbrach, als ich erkannte, wer da anhielt, um uns zu Hilfe zu kommen.
Ich war es auch, der glaubte, sein Kind wäre schwer verletzt oder gar tot, obwohl mein Söhnchen nur ein verstauchtes Handgelenk und eine leichte Gehirnerschütterung davontrug.
Und natürlich gab ich Tim die Schuld – einfach, weil er da war, und weil er derjenige war, der mir schon meine vorherige Freundin und meine Tochter genommen hatte.
Erstaunlicherweise rief er sogar meine Frau an, um sie ins Krankenhaus zu bestellen, und so nett ich das fand: noch heute frage ich mich, woher die beiden sich so gut kennen wie es da den Anschein hatte ...

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