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März 2005
Marilyn Monroes Slip
von Andreas Schröter

Vor zwei Monaten ist mein Vater gestorben. Er war 85 – ja, meine Güte, da muss man irgendwann damit rechnen, dass es zu Ende geht, oder nicht? Ehrlich gesagt konnte ich nie besonders viel mit ihm anfangen. Spätestens seit meinem 15. Lebensjahr halte ich ihn für einen Loser – also seit 40 Jahren. Er war ein typischer Durchschnitts-Kleinbürger aus dem Ruhrpott, stolz darauf, mit über 80 noch Beisitzer im Vorstand eines Fußballclubs zu sein. Dass der Verein nur noch aus neun über Sechzigjährigen bestand, die ihren Club lediglich aus Nostalgiegründen nicht auflösten, verschwieg er bei seinen Prahlereien. Ansonsten gibt’s noch über ihn zu sagen, dass er ein paar alte Videos (keine DVDs natürlich) von irgendwelchen amerikanischen Schwarzweißfilmchen besaß und dass er einen Großteil seiner Zeit darauf verwendete, von Supermarkt zu Supermarkt zu gondeln, um nur ja das günstigste Glas Gurken zu bekommen. „Heute kosteten die Cornichons im Lidl doch tatsächlich bloß 35 Cent, im Aldi wollten die Schlawiner glatt 43 Cent dafür haben. Ha, aber nicht mit Onkel Alfred“, sagte er. Auweia! Sonst gibt’s wenig über ihn zu sagen. Ist es nicht schlimm, wenn einer 85 Jahre gelebt hat und es am Ende so wenig über ihn zu berichten gibt? Wenn dieser Jemand niemals in seinem Leben etwas Aufregendes erlebt hat?

Kurz bevor meine Mutter Ende der 70er starb, habe ich sie einmal gefragt, warum sie ihn überhaupt geheiratet hatte. „Du, der sah früher wirklich gut aus“; sagte sie, „Und er konnte enorm witzig sein – besonders wenn er etwas beschwipst war. Doch, dein Vater hatte Schlag bei Frauen.“ Er hatte Schlag bei Frauen. So, so. Mir kam es eher so vor, als hätte er ausschließlich einen Schlag gehabt – aber nicht bei Frauen.

Das alles wäre noch halbwegs im grünen Bereich gewesen, wenn nicht diese Sache mit dem Paket gewesen wäre. Und da „diese Sache mit dem Paket“ mindestens alle zwei Wochen zum Thema wurde, können Sie ermessen, wie oft ich meinen Vater weit außerhalb des grünen Bereichs erleben musste. Meistens fing es damit an, dass er das Paket bei irgendwelchen Familienfeiern einfach auf den Tisch knallte. Wortlos. Auch keiner der Gäste sagte etwas, denn wer mindestens eine weitere Familienfeier zuvor bei uns erlebt hatte, der wusste, was jetzt kam. „Was glaubt ihr denn, was da drin sein könnte?“, fragte mein Vater nach einer Weile. Weil in der Regel niemand antwortete, erhob er sich bedeutungsvoll und raunte mit Flüsterstimme: „Marilyn Monroes Slip“. In den späteren Jahren war das der Moment, in dem meine zwei Brüder und ich demonstrativ den Raum verließen. Es war einfach unerträglich zu sehen, welch eine lächerliche und bemitleidenswerte Figur unser Vater bei diesen Gelegenheiten abgab. Fürchterlich! Meinte meine Mutter das, wenn sie sagte, er sei früher nach ein paar Gläschen „witzig“ gewesen? Sie konnte in dieser Hinsicht froh sein, dass sie so früh starb und von der Paket-Sache nichts mehr mitbekam, denn Vater begann erst etwa zwei Jahre nach ihrem Tod damit. Wie oft hatten wir ihm zugeredet, diesen Quatsch zu lassen. Vergebens. Spätestens nach der zweiten Flasche Bier oder dem dritten Glas Wein warf er sein blödes Paket auf den Tisch. Die Sache ging dann stets so weiter, dass sich einer der Verwandten erbarmte zu fragen: „Woher weißt du, dass der Slip von Marilyn Monroe in diesem Paket ist?“. Seine Antwort: „Weil sie es mir gesagt hat, dass sie das Paket schicken würde.“ – „Und warum hat Marilyn Monroe dir ihren Slip geschickt?“ Auf diese Frage hatte mein Vater gewartet. Sie war der eigentliche Grund, warum er dieses Affentheater spielte. Denn nun konnte er den Gästen haarklein seine vermaledeite und haarsträubend peinliche Geschichte auseinanderlegen. Meistens zogen sich diese Erklärungen stundenlang hin. Was er wortreich und mit vielen ausschmückenden Details erklärte, war, dass er Anfang der 60er Jahre in einem New Yorker Hotel eine Liebesnacht mit Marilyn Monroe verbracht haben will. Und zum Dank für dieses „berauschende Erlebnis“ – Gott, ist mir schlecht – habe die Filmdiva ihm später jenes Höschen geschickt, das er ihr angeblich in besagter Nacht vom Leib gerissen hat. Sie merken, wohin die Reise geht, und ich erspare Ihnen weitere Details. Im Grunde wäre eine psychiatrische Betreuung für meinen Vater nicht verkehrt gewesen.

Er war übrigens tatsächlich 1961 in Amerika. Seine Firma musste irgendwelche geschäftlichen Verhandlungen in New York führen, fragen Sie mich nicht. Eine Sekretärin hatte sich damals geirrt und die Reise für zehn Personen gebucht, obwohl die Geschäftsführer-Ebene nur aus acht Personen bestand. Die Firma machte aus der Not eine Tugend und verloste die beiden restlichen Mitreisegelegenheiten unter ihren Mitarbeitern. Irgendwas in der Art. Mein Vater hatte gewonnen und kam so für fünf Tage ins New Yorker Nobelhotel „Belvedere“. Keine Ahnung, ob der Filmstar damals ebenfalls dort abgestiegen war. Es interessierte mich nicht weiter. Fakt ist jedenfalls, dass mein Vater niemals mit ... ist ja lächerlich. Selbst wenn sie zur selben Zeit zufällig im selben Hotel gewohnt haben sollte. Womöglich hat sie das sogar und das ist der Grund, warum sich dieses absurde Gedankenkonstrukt im Kopf meines Vaters eingenistet hat.

Ich will Sie gar nicht weiter mit dieser leidigen Paket-Sache langweilen – ich denke, Sie haben jetzt einen Eindruck, wes Geistes Kind mein Vater war. Nur eines dazu noch: Komisch – aber auch sehr bezeichnend, wie ich finde – war, dass mein Vater das Paket niemals geöffnet hat. Es wurde über die Jahre hinweg zwar immer gammeliger vom vielen auf den Tisch Werfen, war aber immer noch original verschlossen. Warum er es nie angerührt hat, liegt meines Erachtens auf der Hand. Er hatte einfach Angst, dass sein Hirngespinst durch die traurige Realität zerstört wurde. Vermutlich stammte das Paket von seinen Fußballkumpels, die es mit einem Haufen perverser Sexbildchen und einem Kondom gefüllt hatten – versehen mit dem Spruch: „Als Ersatz für M.M.“ Absendeort: Castrop-Rauxel-Süd. Wahrscheinlich hatte er denselben Verdacht. Ich habe ihm einmal während einer dieser Familienfeiern sogar eine Schere hingeworfen und ihn angeschrieen: „Hier, jetzt mach es endlich auf, das verdammte Paket, damit wir alle hier Marilyns stinkenden Schlüpfer bewundern können. Ich hab jetzt schon einen Ständer in der Hose.“ War natürlich auch nicht gerade die feine englische Art von mir, zugegeben. Aber es geschah eben in einer Phase, in der mir das Getue noch mehr auf den Geist ging als sonst. Na ja, in knapp zwei Wochen wird das alles der Vergangenheit angehören. Gott sei Dank, möchte ich hinzufügen. Wir haben, so pietätlos das jetzt auch klingen mag, einen großen Container bestellt und werfen den ganzen alten Krempel von meinem Vater weg. Unser Sohn – sein Enkel – braucht die Wohnung. So ist das Leben.


Nachtrag (zwei Wochen später geschrieben):

Gestern beim Entrümpeln ist mir Vaters altes Paket in die Hände gefallen. Es hatte tatsächlich einen – ich muss zugeben ziemlich gut gefälschten – New Yorker Poststempel von 1961. Die Fußballkumpel hatten ganze Arbeit geleistet. Ich warf es auf den Müll zu den anderen Sachen für den Container. Wenig später beschloss mein Sohn jedoch, eine Pause zu machen, um eines seiner mitgebrachten Butterbrote zu essen. Ich hatte noch keinen Hunger, wollte aber auch nicht alleine weiterarbeiten. Also schlug ich die Zeit tot, indem ich das Paket doch noch einmal unter einem Oberhemdenberg hervorzog. Und jetzt tat ich aus Langeweile das, was Vater niemals gewagt hatte: Ich öffnete es.

Eingewickelt in die New York Times vom 26. März 1961 fand ich ein Stück Stoff, das ich schließlich als einen etwas aus der Mode gekommenen Damen-Slip identifizierte. Dabei lag ein Blatt Papier, auf dem in schön geschwungenen Buchstaben stand:

My dear Alfred,

thank you so much
for that
wonderful night

Love M.

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