Wütend rammte Herr Kerler den Elaston-Besen mit fünf Borstenreihen (Breite 400 mm) über den Dachboden. Der alte, trockene Staub wirbelte heftig auf.
Von unten drang das Gekreische der Nachbarsgöre herauf, das ihn Minuten zuvor aus dem Mittagschlaf gerissen hatte. Ohne Vorwarnung war das Getöse losgegangen: Knallende Türen, ein Quieken, als wenn eine Sau abgestochen würde, wahrscheinlich hatte der Teufelsfratz dem Brüderchen einen Türflügel an den Schädel geknallt, um dann selbst in das Geschrei einzustimmen. Die Eltern ließen ihrer Brut freien Lauf. Sie hatten schon beim Einzug proklamiert, dass sie ihre Kinder nicht mit strengen Maßregelungen negativ zu beeinflussen gedachten. Also gab es niemanden, der dem Spektakel Einhalt gebot.
Herr Kerler war auf den Dachboden und in eine Beschäftigung geflüchtet. Alles war besser als dieses Tollhaus. Er fegte den Staub zu einem Häufchen zusammen und überlegte, was er damit anfangen sollte.
Vor Wochen hatte er in der Wand neben der Tür einen fadendünnen Dimensionsriss entdeckt: Als er zufällig den Besenstiel anlehnen wollte, kippte der in den Riss und verschwand in die andere Dimension.
Herr Kerler fegte den Dreck auf die Schaufel und hielt sie in den Riss. Ein blaues Leuchten, Schaufel und Arm verschwanden. Der Spalt passte sich dem Gegenstand an, erweiterte sich, wie ein Schlitz in einer Zeltplane. Er schüttelte den Dreck von der Schaufel und zog die Hand zurück. Schon ein paar Mal hatte er Unrat auf diese Weise entsorgt.
Er sah auf die leere Kehrschaufelfläche und seufzte. Wenn sich doch nur alle Probleme so leicht lösen ließen.
Von unten drang das Stampfen der Teufelsgöre herauf, die mit ihrem Brüderchen in der Wohnung Hoppel-Hoppel-Hase spielte.
Nicoles Blicke sausten über den Dachboden. Links, rechts, links ...
»Du hast mich angelogen, da ist ja gar nichts.«
»O doch, du musst noch einen Schritt nach rechts machen, Täubchen.«
Sie tat es und wartete, die Hände trotzig vor der Brust verschränkt.
»Jetzt die Augen schließen.«
Sie tat auch das. Er trat vor sie und gab ihr einen Schubs. Sie fiel nach hinten, ein blauer Rand umstrahlte ihren Körper. Ein Zischen, als wenn ein Blatt Papier zerreißt. Dann war sie verschwunden.
»Paket verschickt«, flüsterte er zufrieden.
Er machte sich Hibiskustee und schnitt von dem Mohnkuchen ab. Im Sessel genoss die Nachmittagssonne und las die Tageszeitung. Es verging keine Minute, in der er sein Dasein nicht genoss.
Als es klingelte, schlurfte er zur Tür.
»Frau Hermelin?«
»Herr Kerler, ich kann Nicole nirgends finden. Ist sie bei Ihnen?«
Er tat überrascht. »Bei mir? Nein.«
Frau Hermelin rannte zur nächsten Wohnungstür und klingelte.
Er ging ins Wohnzimmer zurück, schenkte Tee nach und schaltete den TV ein. Er war noch am Durchzappen, als es erneut klingelte.
»Frau Winter?«
»Herr Kerler, die kleine Nicole Hermelin ist verschwunden. Wir alle suchen nach ihr. Helfen Sie mit?«
Kerler setzte einen steinernen Blick auf. »Entschuldigen Sie, ich bin unpässlich.«
Er schloss die Tür und widmete sich dem TV-Programm. Wieder klingelte es.
»Ich bin Kommissar Huber. Wir ermitteln im Fall eines vermissten Mädchens. Sie sollen das Kind zuletzt lebend gesehen haben.«
»Zuletzt lebend gesehen?« Kerler wurde leichenblass.
»Wir gehen von einem Verbrechen aus.«
»Oh!«
»Können Sie Angaben machen?«
»Worüber denn, Herr Kommissar?«
»Über den Verbleib des Mädchens, Nicole Hermelin, 8 Jahre, einszwanzig groß, rosa Anorakjacke, Kordhose, rosa Gummistiefel.«
»Ich kenne das Mädchen, es wohnt nebenan.«
»Haben Sie mit seinem Verschwinden zu tun?«
»Ich versichere Ihnen, dass ich dem Mädchen nichts zuleide getan habe«, presste Kerler hervor.
»Sie sollen sich gegen halb drei mit dem Mädchen im Hausflur unterhalten haben.«
»Das ist richtig. Nicole war auf dem Weg nach draußen zum Spielen. Ich habe sie gefragt, was sie spielen wolle und sie sagte Verstecken.«
Verstecken, notierte Huber in sein Notizbuch. »Und was geschah dann?«
»Sie ging spielen und ich in meine Wohnung.«
»Was hatten Sie im Hausflur gemacht?«
»Ich hatte den Dachboden gefegt und war herabgekommen.«
Kam fegend vom Dachboden, notierte Kommissar Huber.
»Stimmt es, dass Sie die Kleine nicht leiden konnten?«
»Wer behauptet denn sowas?«
»Leute.«
»Leute? Etwa jene Leute, auf deren Kopf das Mädchen nachmittagelang herumtanzt?«
»Leute, die Mieter dieses Hauses sind.«
»So ein Quatsch! Was hätte ich gegen das Mädchen haben sollen?«
»Sie sind nicht als Kinderfreund bekannt.«
»Was Wunder, bei diesen kreischenden Bälgern. Wollen Sie mir daraus einen Strick drehen? Ist jeder, der lärmende Kinder nicht mag, ein Verbrecher?«
Der Kommissar schwieg, machte noch ein paar Notizen, dann steckte er das Buch weg.
»Ich werde mich weiter umhören, dann komme ich wieder.«
Der Schreck saß Herrn Kerler in allen Knochen, als er wieder vor dem TV saß. Vom Programm bekam er nichts mit; er musste an andere Dinge denken. Schließlich schaltete er den Apparat aus und verließ die Wohnung.
Eine sanfte Brise umfing ihn. Vögel zwitscherten. Weidenkätzchen beugten sich im Wind. Er stand auf weichem Gras. Ein großer Findling markierte die Stelle, wo sich der Dimensionsriss befand. Er merkte sich diese Stelle gut, damit er sie wieder fand.
In der Nähe befand sich ein Weiher. Graureiher standen reglos im Feld und beobachteten ihn von fern. Ein Kuckucksruf hallte vom Birkenwäldchen herüber. Grüne Hügel überzogen das Land.
In der Nähe des Weihers sah er eine Bewegung. Etwas Rosarotes hüpfte durchs hüfthohe Gras.
Er machte er sich auf den Weg. Das rosarote Etwas hüpfte um den Weiher und er rief: »Nicole!«
Das rosarote Knäuel stoppte, wendete, hüpfte auf ihn zu.
Sie lachte übers ganze Gesicht. »Du, Herr Kerler, es ist so toll hier! Die Tiere können sprechen und spielen mit mir. Komm mit, Herr Kerler, wir spielen Verstecken.« Als sie nahe genug war, griff sie mit ihren Händchen den Zipfel seiner Jacke und zog ihn mit sich.
»Nicole, ich bin gekommen, dich zu holen. Du musst nach Hause.«
Ihr Gesicht verzog sich. »Ich will bleiben!«
»Deine Mama sucht dich.«
»Ich will bleiben.«
»Du musst tun, was man dir sagt, Nicole.«
»Muss ich nicht! Hier ist es viel schöner als daheim. Der Hase Igbert hat mit mir gespielt. Komm, Igbert, zeige dich Herrn Kerler.«
Herr Kerler traute seinen Augen nicht: Ein braunes Etwas mit langen Ohren hoppelte durchs hohe Gras heran.
»Und Fido soll auch kommen. Fido! Fido!«
Der Hase Igbert stimmte in Nicoles Rufen ein: »Fi-do! Fi-do!«
»So viele Freunde hast du hier gefunden«, staunte Herr Kerler.
»Fi-do! Fi-do!«
Aus dem Unterholz brach ein riesiger brauner Bär.
»Fido, komm her und sag Herrn Kerler guten Tag.«
Der Bär watschelte heran, stellte sich auf die Hinterbeine und streckte seine Pranke aus.
»Sie sind also Herr Kerler. Nicole hat uns schon eine Menge über Sie erzählt.«
Das Lagerfeuer knisterte lustig; alle saßen im Kreis und erzählten Geschichten: Odo die Schnabelente, Gunter der Graureiher, Fido, Igbert, Nicole und Herr Kerler. Außer dem Prasseln des Feuers und ihren Stimmen war alles still. Die Nacht lag wie ein samtener Schleier über ihnen und ihre Augen glänzten hell – vom Feuer, von den Geschichten und von ihrer Freundschaft.
Fido erzählte von einem weit entfernt lebenden Mann, der weiße Stoffe in farbige verwandeln konnte.
Gunter erzählte von den Wanderungen großer Tierherden und den Liebesgeschichten unter den Wandertieren.
Nicole lauschte gebannt den Erzählungen der anderen. Schließlich räusperte sie sich und erzählte die traurige Geschichte von Fluck.
Sie fand Fluck, den Mauersegler, an einem Samstagmorgen mit gebrochenen Flügeln auf der Straße vor ihrem Haus. »Ich legte ihn in einen Schuhkarton. Mama sagte, er würde wieder gesund werden. Fluck bewegte sich den ganzen Tag nicht. Er fraß nichts von den Körnern, die ich in seine Schachtel legte. Er trank nichts von dem Wasser, das ich ihm hinstellte. Nur seine Augen zuckten hin und her. Am nächsten Morgen fand ich ihn ganz steif mit eingerolltem Kopf, seine Beinchen ragten nach oben. Wir begruben ihn am Abend. Der ganze Himmel war dunkel und voller Sterne. Mami sagte, dass wenn ein Tier stirbt, ein neuer Stern am Himmel hinzu kommt.«
»Du vermisst Fluck sicher sehr«, sagte Odo.
Nicole nickte. Sie und alle anderen hatten Tränen in den Augen. Sie sahen hoch zum Sternenhimmel, und manch einer glaubte, in einem besonders hell leuchtenden Stern Fluck zu entdecken, der ihnen zuwinkte.
Früh am Morgen brachte Herr Kerler Nicole zum Dimensionsriss.
»Deine Mami wartet auf dich, Nicole«, sagte er. »Sie vermisst dich, genauso wie du Fluck vermisst.«
Sie nickte und stellte sich vor den Stein.
Er legte die Hände auf ihre Schulter und drückte sie sanft durch den Dimensionsriss. Als er die Hände zurückzog, war sie verschwunden und Herr Kerler allein in der Stille dieser Welt.
Fido hatte hinter einem Felsen gewartet und trottete nun hervor.
»Ich hätte Lust auf ein paar Blaubeeren. Kommst du mit, Herr Kerler?«
»Klar«, rief Herr Kerler, steckte seine Hände in die Hosentaschen, schlenderte neben Fido über das Land, und sog die frische Luft und den kühlen Morgen in sich auf.
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