Mainhattan Moments
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Susanne Ruitenberg und Julia Breitenöder haben Geschichten geschrieben, die alle etwas mit Frankfurt zu tun haben.
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März 2005
Engel von Sibirien
von Sigrid Wohlgemuth

Elsa Brändström saß auf dem Stuhl an Soldat Heinrichs Bett. Leises Stöhnen war zu hören, sein Puls kaum noch auszumachen. Ein letztes Mal öffnete er die Augen und sah flehentlich zu Elsa.
„Sie werden bald keine Schmerzen mehr haben.“ Sanft streichelte sie seine Hand.
Er ließ den starren Blick nicht von ihr ab.
„Ich habe Ihnen versprochen, ich werde Ihre Frau und Kinder in Berlin aufsuchen. Sie können beruhigt einschlafen.“ Sie senkte die Augenlider und nickte um das Versprechen zu bekräftigen.
Ein leichtes Zucken ging über seine Mundwinkel, dann schloss er die Augen und ein letzter erlösender Atemzug entwich der Kehle.
Elsa faltete Heinrichs Hände und legte sie über seine Brust. Behutsam zog sie das angegraute Betttuch über seinen Kopf. Schweren Schrittes ging Elsa an ausgestreckten Händen, hilferufenden Soldaten vorbei und trat vor die Tür des Feldlazaretts. Eisige Kälte umfing sie.

Dreißig Jahre später, kurz vor Ende des zweiten Weltkrieges.
„Was hast du vor?“, rief Hans, Elsas langjähriger Freund entsetzt aus.
„Ich werde den Familien in Deutschland helfen.“
„Du kannst froh sein, dass du hier in Amerika sicher bist. Warum kümmerst du dich um andere, achte lieber darauf, wie es um dich selbst gestellt ist.“ Er ging zum Kamin und rieb sich die Hände in der aufkommenden Wärme. Dann drehte er sich wieder um und richtete das Wort an Elsas Ehemann.
„Robert, du kannst doch nicht einfach mit ansehen, wie deine Frau sich für andere aufopfert, wo sie
selbst ...“
Hans konnte den Satz nicht vollenden, weil Robert ihm mit der Hand ein Zeichen gab inne zu halten.
„Seit wie vielen Jahren kennst du Elsa?“ Robert blickte tief in Hans’ Augen.
„Seit dem ersten Weltkrieg.“
Robert nickte.
„Was hat Elsa in all den Jahren getan?“ Er schob die Daumen von der Seite unter die Weste und streckte den Rücken durch.
„Sie hat den bedürftigen Menschen geholfen.“
„Womit?“
„Soll ich dir alles aufzählen? Darüber würden Wochen vergehen, wenn nicht Monate.“
Robert nickte ein weiteres Mal zustimmend.
„Und willst du sie jetzt davon abhalten?“ Robert ging langsam auf Elsa zu und legte den Arm um ihre Schulter.
Hans schüttelte den Kopf und traute sich nicht Elsa anzusehen. Elsa warf Robert einen dankbaren Blick zu.
„Elsa, es tut mir leid“, stammelte Hans.
„Ich verstehe dich. Doch es könnte das letzte große Vorhaben sein, was ich in meinem Leben zu Ende führen kann. Wenn ich weiß, dass es den Menschen dadurch besser geht, macht es mich glücklich.“ Sie ging auf ihn zu und streckte ihm die Hand entgegen. „Gibt mir dein Versprechen, mich nicht zu stoppen, dafür aber zu unterstützen.“
Hans blickte auf. Zögerlich gab er Elsa mit Händedruck sein Ehrenwort.
„Gut, dann kann ich anfangen mich um die Vorbereitungen zu kümmern. Ich lasse die Herren jetzt allein, damit ihr in Ruhe eine Zigarre rauchen könnt.“ Sie lächelte Robert an und ging aus dem Zimmer.

„Fühlst du dich wohl dabei, dass du deiner Frau zugestimmt hast?“, richtete Hans vorwurfsvoll das Wort an Robert.
„Du hast gehört, was der Arzt gesagt hat. Sie hat Knochenkrebs. Ihre Augen leuchten beim Gedanken, Kriegsopfern in Deutschland zu helfen, darum lasse ich sie gewähren.“ Robert nahm die Brille von der Nase und rieb sich die Augen. Danach ging er zum Sekretär, öffnete eine Holzkiste und bot dem Freund eine Zigarre an.
„Du wirst sie aber nicht mit dem Schiff nach Stockholm fahren lassen, oder?“ Hans deutete eine Verbeugung an, wählte eine Zigarre und schnitt das Endstück ab.
„Auch dann werde ich meine Zustimmung geben.“
Hans nickte niedergedrückt. Stillschweigend genossen sie ihre Stumpen.

Der Saal war gefüllt, von nah und fern waren sie angereist.
„Meine lieben Freunde und Nachbarn. Wie ihr mich in den vergangenen Jahren kennen gelernt habt wisst ihr, wenn ich zum Fest einlade, dann geht es immer darum, dass ich euch das Geld aus den Taschen locken möchte.“ Elsa hielt kurz inne, ein Lachen ging durch den Raum.
„Uns geht es gut, doch in Deutschland leiden besonders die Kinder unter Hunger und Kälte. Ich bitte euch um Kleidung, Geld und alles, was ihr entbehren könnt, um den bedürftigen Menschen zu helfen.“
Ein Klatschen erschall im Raum. Elsa hob die Hand und gebot Einhalt.
„Hans Braun wird uns dabei behilflich sein, Holzkisten, die sich als Schränke verwenden lassen zu bauen. Diese sollen mit den Hilfsmitteln bestückt werden. Ein schwedisches Schiff wird die Kisten nach Europa bringen.“
Wieder erklang anerkennender Beifall im Saal.

„Hättest du gedacht, dass soviel zusammen kommt?“ Elsa bückte sich nach einem Kleiderstapel, sortierte ihn nach Größe der Stücke und legte sie sorgfältig in die Kiste.
„Die Spender haben sich dieses Mal selbst übertroffen“, sagte Anne, die Frau von Hans.
„Es sind reichlich Geldspenden eingegangen. Nach Abzug der Unkosten bleibt genug übrig, um Lebensmittel mit zu senden.“
„Elsa.“ Anne hielt kurz in der Tätigkeit inne und setzte sich auf den Stuhl.
„Ja, Anne.“ Elsa erhob sich und lehnte sich am Tisch an.
„Ich habe dich nie gefragt, warum du all die Jahre rastlos bist, um Menschen zu helfen.“ Sie strich sich über den Rock und der Taft knisterte.
„Es fing im ersten Weltkrieg an. Die Gefangenen wurden notdürftig versorgt. Ohne Winterkleidung wurden sie in die eiskalten Waggons getrieben und in die Gefangenlager nach Sibirien transportiert. Dort erwartete sie Hunger und katastrophale Hygiene. Viele wurden krank und starben.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust.
„Du hast es damals miterlebt?“ Anne sah sie erstaunt an.
Elsa nickte. „Ich hatte mich als Krankenschwester ausbilden lassen. Alles fing mit Soldat Heinrich an, er war mein erster Patient. Ich hielt seine Hand und versicherte ihm, seinen Kindern in Deutschland zu helfen. Er sah mich mit hoffnungsvollen Augen an, ich konnte nicht anders, als ihm dieses Versprechen zu geben. Als er starb, lag Dankbarkeit und Frieden in seinen Augen.“ Sie zog ein Taschentuch aus dem Ärmel des Kleides hervor und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
„Du hast ihm damals geholfen in Frieden einzuschlafen.“
„Es war nicht der einzige Soldat, dem ich dieses versprach. Am Anfang wusste ich nicht, wie ich mein Ehrenwort einlösen konnte. Tag und Nacht wälzte ich mich im Bett und überlegte mir einen Weg.“ Sie setzte sich neben Anne auf den Stuhl.
„Hast du eine Lösung gefunden?“
Elsa nickte. „Hans brachte mich damals auf die Idee.“
„Mein Hans?“ Überraschung stand in Annes Gesicht geschrieben.
„Ja.“ Elsa lächelte.
„Ich wusste nicht, dass euere Freundschaft so weit zurück geht.“
„Ich habe ihm damals gebeten, niemals darüber zu sprechen. Es war ein kostbares Geheimnis, dass wir in uns trugen.“
„Und warum verräst du es mir jetzt?“
„Weil es längst keins mehr ist. Ich denke, wir haben in all den Jahren einfach nicht mehr daran gedacht.“ Sie zwinkerte Anne lächelnd zu.
„Wie hat er dir damals geholfen?“
„Gegen den Willen meiner Eltern verhalf mir Hans zu einem Platz auf dem Transport gefangener Kriegsinvaliden nach Deutschland. Später nach Sibirien, dort war in den Gefangenenlagern die Not am Größten.“
„Hattest du keine Angst?“ Sie sah Elsa gebannt an.
„Ich hatte große Angst. Den Mut und die Kraft gaben mir die Versprechen an die sterbenden Soldaten.“
Anne nickte verständlich.
„Was hast du erreicht?“
„Ich brachte bei einem Besuch in Berlin eine Hilfsaktion für die deutschen Kriegsgefangenen in Gang. Ich erinnere mich noch genau an die Halle in der sich Tausende von Rucksäcken mit Winterkleidung und alltäglichem Bedarf stapelten. Das schwedische Rote Kreuz hat es damals nach Russland gebracht. Danach fing ich an mich um die Kriegswaisen zu kümmern.“
„Von da an kenne ich deinen Werdegang, du hast Häuser für sie bauen lassen, damit sie ein Dach über den Kopf hatten. Ich bewundere dich. Du warst für sie der Engel von Sibirien.“
Elsa winkte mit der Hand ab. „Ich mochte es nie, dass man mich so nannte.“
Anne sprang auf. „Entschuldige, Elsa. Es war nur ein Sprachgebrauch von mir, ich wusste nicht, dass man dich so genannt hatte.“
„Ich konnte mich im Laufe der Jahre nie daran gewöhnen. Damals, so wie heute möchte ich bedürftigen Menschen helfen.“ Elsa kniete sich nieder. Sie fing an die Kleidungsstücke in die Kiste zu legen.
Anne blieb noch einen kurzen Moment auf dem Stuhl sitzen und hing ihren Gedanken nach.
„Elsa“, sie stand auf und kniete sich neben sie.
„Ja, Anne.“ Elsa drehte sich zu ihr hin.
„Die Kisten, die wir packen, wie willst du sie nennen?“
Elsas Stirn legte sich in Falten. Verwundert sah sie Anne an. „Wie ich sie nennen soll?“
„Es ist eine große Hilfsaktion. Wäre es nicht schön, wenn sie sich für ewig in den Gedanken der Menschen verankert?“
„Darüber habe ich mir keine Gedanken gemacht.“
Sie hörten, dass die Tür hinter ihnen aufging und drehten sich um. Hans schritt in den Raum.
„Sind ein paar Care-Pakte zum Abtransport bereit?“ Er ging auf die beiden Frauen zu.
Diese sahen sich an und nickten sich gegenseitig zu.

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