Der Tod aus der Teekiste
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März 2005
Marx und das Päckchen des Direktors
von R. Funke

Arm anwickeln, Markenfeld suchen, stempeln, Fließbandwechsel. Arm anwickeln, ...
15 Pakete pro Minute, 900 pro Stunde, 7200 pro Tag. Wir befinden uns im Versand einer Internetapotheke. Alles wurde rationalisiert – nur die Frankiermaschine nicht. Wer nun meint, es gäbe keinen stumpfsinnigeren Job, hat gewiss Recht. Doch der Wahnsinn endet nicht mit dem Feierabend. Nachts wird weitergestempelt, im Traum, im Sekundentakt. Bis zum Erwachen. Frühstückspause. Ich sollte mich nicht beschweren, sondern froh sein, überhaupt eine Arbeit zu haben. So viele sind arbeitslos ... und verdienen mehr Geld als ich. Ach, man muss in Bewegung bleiben, denke ich, auch wenn es nur der rechte Arm ist. Er schmerzt, die Sehne ist entzündet. Ich schiele beim Stempeln auf die Medikamentennamen. Hin- und wieder rollt eine Salbe vorbei. Die würde mir gut tun, doch ich kann sie mir nicht leisten – nicht bei meinem Gehalt. Und an Krankfeiern ist auch nicht zu denken – dann sitzt morgen ein anderer an meinem Platz und ich stehe in der Warteschlange beim Amt ... und muss wieder stempeln. Wie man es auch dreht und wendet – es führt kein Weg heraus. Mit der Linken wende ich eine Verpackung. Sie liegt falsch herum. Gelungene Abwechslung. Vielleicht träume ich heute nacht davon – das wäre schön.
In unserer Kantine steht ein kleines Bücherregal als Spende der Firmenleitung für die Belegschaft. Ich schaue mich um. Die Stühle sind leer – wer ist die Belegschaft? Im Regal befinden sich Hochglanzprospekte: Produktionskataloge der Pharmaindustrie. Und das „Kapital“ von Marx – welch Zynismus. Ich blättere ein wenig in den Katalogen, obwohl ich sie auswendig kenne. Vielleicht haben sie eine versteckte Kamera installiert. Da muss ich den guten Mitarbeiter mimen. Den Marx verstecke ich in der Tupperdose. Vermiss ja doch keiner, und vor dem Einschlafen werde ich ihn lesen ... und mich in die Traumschicht weinen. Doch diesmal kommt es anders ...

Ein Meer roter Fahnen weht mir entgegen. Sie wirken wie nachkoloriert vor dem tristen Einheitsgrau der Fabrikanlagen. Aus den Schornsteinen quellen schwarze Wolken in den Himmel. Mein Arm ist wundersam schmerzfrei. Ich schlage mit der Faust aufs Rednerpult. Die Arbeitermassen verstummen und blicken mich erwartungsvoll an. Ich kann den Schmerz und Hunger in ihren Gesichtern lesen –im materiellen und geistigen Sinne. Ich suche nach den richtigen Worten, Formulierungen, die das Proletariat versteht. „Schaut in das Antlitz eures Nachbarn und sagt mir was ihr seht, Genossen!“
Das verstehen sie. „Ihr seht einen Sklaven des Kapitals!“ Hinter den vergitterten Fenstern der Chefetage erkenne ich ihre Peiniger. Sie haben sich verschanzt vor dem Zorn des Volkes. Einer von ihnen ist mein Großvater. Ich strecke die Linke aus und deute auf ihn. „Niemand darf Sklave eines anderen sein! Zeigt ihnen euren Willen zur Freiheit, zur Sonne ... zum Licht!“
Szenenwechsel - die selbe Fabrik ein paar Jahrzehnte später. Und wieder ein Meer roter Fahnen, doch diesmal mit Kreuz in weißem Kreis. Ausgemergelte, uniforme Gestalten bilden eine endlose Schlange vom Verladebahnhof zu den Fabrikhallen. Sie treten ein und werden Teil der Maschinerie. Ihre Knochen brechen im Räderwerk und ihr Blut vermischt sich mit schwerem Schmieröl. Ausdruckslose Augen, stummes Leid – ihre Schreie verhallen in einer anderen Welt. Am Eingangstor zur Hölle steht mein Vater. Er sortiert das Menschenmaterial nach Leistungskriterien. Für ihn ist der Wert des Lebens eine Bilanzierung von Lohnkosten und Produktivität. Breitbeinig mit brauner Reiterhose und Parteiabzeichen schwingt er die Gerte auf die Rücken seiner Leibeigenen. Ich laufe ihm entgegen. Er dreht sich um und scheint die Güte selbst, als er mich hochhebt, voller Stolz an sich drückt und küsst. Er liebt mich – nur mich, den einzigen Stammhalter unserer Dynastie - und sonst niemanden in seiner Welt des unsäglichen Schreckens ... Ein Zwangsarbeiter bricht erschöpft zusammen. Ich möchte zu ihm laufen und ihm helfen, doch mein Vater lässt mich nicht los. Ich habe meinem alten Herrn vergeben – viele Jahre später. Aber ich kann nicht für jene sprechen, die unsere Fabrik betraten und nie mehr lebend verließen.

***

Der Wecker klingelt. Welch seltsamer Traum. Ich dusche, wähle einen Nadelstreifenanzug und eine rote Krawatte von Dior aus meinem unerschöpflichen Fundus. Ich bin ein reicher Mensch, doch eines fehlt mir noch zum Glück ...
Heute ist ein großer Tag, einzigartig in der Geschichte des Kapitals. Meine Limousine wartet schon. „Guten morgen, Herr Direktor“, begrüßt mich der Fahrer.
„Guten morgen, Herr Steinfeld“, gebe ich freundlich und gutgelaunt zurück. Er ist kein Sklave, sondern arbeitet gerne für mich, da er als Mensch behandelt wird. Er öffnet mir dienstbeflissen die hintere Tür und zieht in manierlicher Weise die Chauffeursmütze. Seit 30 Jahren bringt er mir diesen Respekt entgegen, stets verlässlich. Heute werde ich ihn überraschen. Ich steige nicht ein, nehme seine Mütze und setzte sie auf. „Der Platz gebührt Ihnen. Ich fahre, Herr Steinfeld.“ Er zögert, hält es vielleicht für einen Scherz, doch dann nimmt er Platz. „Wie Sie meinen, Herr Direktor.“
Ich setze mich hinters Steuer und lasse den Motor an. „Nehmen Sie sich gerne eine Zigarre aus der Ablage und erzählen Sie mir etwas über Ihre Träume und Wünsche, Herr Steinfeld ...“
Die Fahrt führt entlang riesiger Fabrikkomplexe, erbaut von meinen Vorfahren – aus Knochen, Schweiß und Blut vieler Arbeitergenerationen. Aus den Schloten rinnen gefilterte weiße Wölkchen in den stahlblauen Himmel. Ich habe mich nicht an der Natur versündigt, wie meine Väter es praktizierten. Ich halte den Wagen vor der Werkhalle 9, die den Stahlgießern als Pausenraum dient, steige aus, öffne das schwere Werkstor und ich trete ein. Der Geruch fleißiger Menschen strömt mir entgegen. Sie sitzen an langen Tischreihen, kauen ihre Stullen und unterhalten sich über Arbeit, Heim, Familie und Urlaub. Sie alle scheinen glücklich zu sein – doch eines fehlt ihnen noch zum Glück ...
Sie erblicken mich und verstummen. Der Vorarbeiter des Werks kommt auf mich zu. „Welch unerwarteter Besuch, Herr Direktor. Schön, Sie zu sehen. Möchten Sie sich zu uns setzen? Möchten Sie einen Kaffee?“
Ich lehne dankend ab und wende mich an die Arbeiter. Wie in meinem Traum im Traum – mit dem Unterschied, dass ihre Gesichter nicht grau und eingefallen sind, sondern rosa und gut genährt. Der Schweiß glänzt auf ihren mächtigen Oberarmen, Muskeln von unbändiger Kraft. Eine Kohorte der Titanen – Stahlbeißer, Herren der Hochöfen, Abkömmlinge von Wieland dem Schmied aus nordischen Sagen. Woher nehmen sie die Energie für ihre kräftezehrende Arbeit?
„Wenn ich kurz um Ihre Aufmerksamkeit bitten dürfte, meine Herren“, beginne ich und sehe ihre Furcht. Ansprachen des Direktors verheißen meist nichts Gutes, sondern Einsparungen, Rationalisierung, Massenentlassungen - Hiobsbotschaften.
„Ich möchte Ihnen etwas erzählen über die Geschichte dieses Werkabschnitts.“
Sie schauen mich verwundert an – ich wäre an ihrer Stelle auch überrascht.
„Die Belegschaft war nicht immer frei. Unter meinem Großvater herrschten Zustände, die eines Menschen unwürdig waren, und mein Vater rekrutierte Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene, um den Stahlkocher für die Waffenindustrie der Nazis unter Dampf zu halten.“ Ich mache eine Pause, um meine aufsteigenden Emotionen zu kontrollieren. Die Stimme eines Direktors muss gefestigt sein, Gefühle sind nicht erlaubt. „Nun könnte ich sagen: Mich rettet die Gnade der späten Geburt. Aber mit diesem Ablassschein kann und will ich nicht mehr leben. Deshalb ...“
Ich ziehe ein Dokument aus meiner Aktentasche und lege es auf den Tisch des Mittelgangs. „Auf diesem Vertrag ist Platz für 287 Arbeiter – die Belegschaft des Werks 9. Wer sich von Ihnen eintragen möchte, ist fortan Miteigentümer dieses Fabrikabschnitts. Danke für Ihre Aufmerksamkeit, Ihre Treue und Ihren Fleiß.“ Sie starren mich wortlos an. Was mag nun in ihren Köpfen vorgehen? Halten sie mich für verrückt?
Ich drehe mich um und schreite zum Hallentor. Steinfeld steht am Eingang mit offenem Mund. Ich fasse ihm unters Kinn, schiebe es mit einem Zwinkern hoch und drücke ihm die Wagenschlüssel in die Hand. „Der Wagen gehört Ihnen. Fahren Sie dorthin, wo Sie schon immer mal hinfahren wollten.“
Der Asphalt des Werkgeländes ist frisch gegossen. Es riecht nach Bitumen. Am Horizont erstreckt sich eine Wildwiese. Sie ist mein Ziel. Ich ziehe Schuhe und Strümpfe aus, lockere die Krawatte und laufe über das nasse Gras, erleichtert von der Last meines Päckchens. Unter mir liegen die namenlosen Opfer meiner Väter. Eine Blume für jeden - und die Wiese wäre ein Paradies. Ich lasse mich fallen, strecke die Arme aus und schaue in den Himmel. Der Paketfrankierer wird aus meinem Traum verschwinden – ebenso wie die anderen Geister der Vergangenheit ... und dann folgt nach Freiheit und Sonne das Licht – für mich und alle Menschen, in deren Schuld ich stand.

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