Burgturm im Nebel
Burgturm im Nebel
"Was mögen sich im Laufe der Jahrhunderte hier schon für Geschichten abgespielt haben?" Nun, wir beantworten Ihnen diese Frage. In diesem Buch.
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April 2005
Der See
von Klaus Eylmann

"Himmel Herrgott", sagte Robert und holte einen Flachmann aus seiner Jacke.
"Du trinkst schon wieder", kam die Stimme aus dem Rollstuhl.
Der Weg schlängelte sich vom Haus zum See hinab, führte durch ein paar Wiesen von der Veranda zu einem Bach, über eine kleine Brücke aus Holz und dann noch gut hundert Meter weiter auf einen Steg. Wind rippte das Wasser. Roberts Gedanken verloren sich in einer Boe. Er sah auf seine verstaubten Schuhe, während blassblaue Augen den See absuchten. Sie gehörten einem Puppengesicht. Das Puppengesicht gehörte dem Kopf seiner Frau. Für Robert gab es nur diesen Kopf, mit einem Mund, der schluchzte, jammerte, befahl.
"Jesus!" Robert nahm einen weiteren Schluck aus der Flasche. Warum schnitt er den Kopf nicht ab und spießte ihn auf die Fahnenstange hier? Dann könnte Mary so lange aufs Wasser hinaus sehen, wie sie wollte.
Tannen warfen ihre Schatten auf den See. Wind kam auf. Robert fröstelte, trotz des Alkohols. Seine weiten Hosen flatterten. Er knöpfte die Jacke zu.
"Wollen wir?"
"Noch fünf Minuten."
Später machte Robert zwei Suppen in der Mikrowelle heiß. Der Ofen klingelte. Dann löffelten sie am Küchentisch und sahen sich aus kalten Augen an.
Die Wiese vor dem Haus hatte sich in Dunkelheit aufgelöst. Äste von Apfelbäumen schimmerten unter einem Mond. Robert schob Mary ins Wohnzimmer, hob sie auf die Schlafcouch und entkleidete sie. Leicht wie eine Puppe, mit eingefallenem Körper, knochig und ausgedünnt. Nur der Kopf, der Porzellanteint, die platte Nase, blassrosa Lippen, Augen wie Knöpfe, glatte Stirn und schwarzes, volles nach oben gestecktes Haar. Der Kopf hatte sich nicht verändert.
"Nimm meine Schlaftablette", befahl sie. "Du hast sie nötiger als ich."
Roberts Zimmer lag im ersten Stock. Er schluckte die Pille, zog sich aus und legte sich in der beruhigenden Gewissheit aufs Bett, ihre lauten Selbstgespräche nicht mit zu bekommen.

Am nächsten Morgen. Wolken türmten sich aufeinander. Nebelbänke hingen über Wiesen wie gewaltige Wattebäusche. Dort, wo die Sonne durch kam, berührte ein Regenbogen Himmel und Erde. Kaum hatte Robert sich in die Jeans gezwängt und den Pullover über gezogen, hupte es vor der Ausfahrt. Der Lebensmittelwagen. Robert stürzte die Treppe hinab, lief durch eine Wasserlache auf dem Flur zur Tür hinaus und trug Schnaps und Lebensmittel ins Haus.
"Der Korridor steht wieder unter Wasser." Mary sah von der Zeitung hoch. "Und?"
"Findest du das nicht ungewöhnlich?"


Am Abend waren sie wieder auf dem Steg. Der düstere See, das Wasser wie eine Schieferplatte, glatt und grau. Robert nahm einen Schluck. Auf der Einfahrt vor dem Haus hielt ein flacher schwarzer Citroen, aus dem eine Frau hervor kam.
"Was ist?"
"Besuch", sagte Robert und drehte den Rollstuhl.
Die Frau bewegte sich auf dünnen Beinen zu ihnen herab. Robert sah ein blasses Gesicht mit vorgeschobenem Kinn, wachsamen Augen, dann die platte Nase. Schwarze Strähnen kamen unter einem Topfhut hervor, während der schmale Körper der Frau sich unter einem Trenchcoat versteckte. Diese Ähnlichkeit.
"Ich bin auf dem Weg nach S... und dachte, ich schau mal bei dir rein." Die Frau warf Robert einen flüchtigen Blick zu und schob mit ihm den Rollstuhl den Weg hoch.
"Robert, das ist meine Schwester Lisa. Lisa, das ist Robert, mein Mann."
"Was?" Die Frau blieb vor den Apfelbäumen stehen, deren Blüten sich in flirrendem Weiß vor dunklen Wolken ausbreiteten.
"Davon hast du mir nichts geschrieben." Robert schloss die Tür auf.
"Am Küchentisch saßen sie sich wachsam gegenüber. Marys Blick wanderte zwischen ihnen hin und her.
"Nimm meinen Mann mit, wenn du zu deinem Hotel zurück fährst."
"Hotel?" Mary riss die Augen auf. "Und ich dachte, ich könne bei dir... ."
"Robert hole Geld aus dem Safe. Macht euch einen vergnügten Abend, und Robert", Mary sah ihn mit ausdruckslosen Augen an. "Vor morgen früh will ich dich hier nicht sehen."

"Himmel", sagte Robert und nahm einen Schluck aus seinem Flachmann. Der Citroen rumpelte über einen Feldweg, dann standen sie vor einer asphaltierten Straße. Das nächste Hotel lag fünf Kilometer weiter. Ein Gebäude mit dicken, braunen und Efeu überzogenen Mauern. Robert half, das Gepäck aufs Zimmer zu tragen.
Dann waren sie wieder auf dem Weg.
"Kanntest du ihren ersten Mann?"
"Nur flüchtig." Lisa sah angestrengt nach vorn. "Vielleicht war das mein Glück. Er hat Mary die Treppe hinuntergestoßen und sich dann aus dem Staub gemacht."
"Verdammt!" Die Flasche war leer.
"Fahren wir irgendwohin, wo wir was essen können und danach trinken wir noch was", schlug Robert vor.

"Und hat er noch mal was von sich hören lassen?" Sie saßen im MacDonald’s und tippten Fritten in den Ketchup. Am anderen Tisch machte sich ein Reisender über seinen Tagesbericht her. Jugendliche krakeelten in einer Ecke. Bulettenbrater versteckten sich hinter ihren Öfen.
"Nein, nie mehr." Unter den Leuchtstofflampen hatte Lisas Gesicht eine gesunde Farbe angenommen. "Mary hat Geld." Lisa starrte dumpf vor sich hin. "Und ich bin pleite. Warum lässt sie mich nicht bei sich übernachten?" Dann zog sie ihren Mund nach unten. "Hat sie dich eingekauft? Und gewusst, dass du trinkst, als sie dich geheiratet hat?"
Robert grinste schief und antwortete nicht. Er wurde erst wieder gesprächig, als sie auf der Straße waren. "Zwei Dörfer weiter gibt es die Roxy Bar."
Es gab sie. ‘Zwei Dörfer weiter’ stimmte ebenfalls. Das Lokal war geschlossen.
"Was ist das?" Lisa stieg aus dem Wagen, vertrat sich die Beine und sah auf den Schaukasten. "Was sind das für Fotos?"
"Ist ‘ne Obenohne Bar."
Lisa stieg in den Wagen, wendete ihn. Sie fuhren zurück, an Lisas Hotel vorbei.
"Warum hältst du nicht? Ich komm mit auf dein Zimmer."
Lisa fuhr über den Feldweg. Ein Kaninchen erstarrte vor den Scheinwerfern, dann huschte es davon.
"Im Haus brennt Licht." Der Wagen hielt. Robert riss die Wagentür auf. Ein Schwall süsslich moderigen Geruches nahm ihm den Atem. Jemand schrie.
"Was stinkt hier so? Wieso ist Mary in der Küche? Ich habe sie doch zu Bett gebracht."
Lisa lief neben ihm zum Küchenfenster. Mary saß am Tisch in ihrem Rollstuhl und starrte auf die leeren Augenhöhlen eines Mannes.
"Ihr Mann", flüsterte Lisa.
"Ihr Mann? Ich brauche einen Schnaps." Unablässig bewegte sich Marys Mund, während dem Mann Wasser aus den Kleidern tropfte. Aus blau verwaschenem Drillich ragte ein aufgedunsener, mit Algen behängter Hals. Der Kopf darüber eine bläulich fahle Fleischkugel mit Löchern, wo Augen, Nase und Ohren gewesen waren. "Wie hat er ohne Augen hierher gefunden?", flüsterte Robert.
"Warum hast du dich nur umgebracht? Es war doch ein Unfall." Sie hörten Mary weinen. Der Mann hielt seine Augenhöhlen auf sie gerichtet. Sah er sie?, fragte sich Robert. Mary, zwei Mal verheiratet. Mit einem Toten und mit ihm. War das Bigamie?
"Wie oft hatte ich mich schon in den See stürzen wollen", schluchzte sie. "Doch ich habe nicht den Mut dazu."
"Komm mit", raunte Robert zu Lisa und schloss die Haustür auf.
Heute keine Schlaftablette. Fetzen des Jammerns, Klagens, Weinens, Stammelns wehten aus der Küche zu ihnen hoch. Sie versuchten sie zu überhören und rissen sich die Kleider vom Leib, stöhnten lauter und hatten nur noch sich. Dann war es plötzlich still. Eine Tür fiel ins Schloss. Robert lief zum Fenster. Eine massige Gestalt schwankte unter dem Mond auf den See zu und verschwand darin.

"Na, wie war’s? Hast du Robert gut unterhalten?"
"Wir haben uns unterhalten, wenn du das meinst", gab Lisa lakonisch zurück und fragte: "Wieso ist Wasser auf dem Flur?" Dann bereitete sie das Frühstück zu. Robert füllte seinen Flachmann auf und nahm einen kräftigen Schluck. Er hatte Angst. Wusste der Tote von ihm?, dass er Schlaftabletten nahm? Was würde passieren, wenn er schliefe und Marys Ex-Mann käme die Treppe hoch?

Der Tag zog sich dahin. Endlos. Mary sah von der Veranda auf den See hinab. Robert machte sich im Gemüsegarten zu schaffen. Er richtete sich auf und sah, dass Lisa neben Mary auf der Bank saß und sich mit ihr leise unterhielt. Mit ihren Knopfaugen, dem schwarzen Haar und der platten Nase schienen sie Zwillinge. Waren sie es? Worüber redeten sie? Versuchte Mary ihn an Lisa los zu werden, um ihren ersten Mann an sich zu binden? Das ist eine Wasserleiche, Herrgottnochmal!
Angst und Alkohol hatten Robert so zugesetzt, dass er sich am Abend kaum noch auf den Beinen halten konnte. Und als er mit Lisa Mary zum See hinunter fuhr, hielt er sich krampfhaft an der Rückenlehne des Rollstuhls fest. Der Hemdkragen klebte an seinem Nacken. Mückenschwärme tanzten um sie herum. Der See drohte. Nein, nicht der, verbesserte sich Robert. Der Mann, der auf dem Grund lag und aus leeren Augenhöhlen zu ihnen hoch sah. Hatte er sich aufgerichtet? Bewegte sich auf sie zu? Marys Augen suchten das Wasser ab. "Sie bringt den Mut nicht auf!" Robert merkte nicht, wie er es auf den See hinaus brüllte. Lisa sah ihn erschrocken an. Dann entspannte sich ihr Gesicht. Sie beugte sich vor, gab Mary einen Kuss auf die Wange, schob den Rollstuhl bis an das Ende des Stegs. Robert stolperte hinterdrein, konnte und wollte nicht verhindern, wie Lisa den Rollstuhl anhob und Mary ins Wasser fallen ließ. Benommen starrte Robert auf die Luftblasen, sah nicht, dass Lisa sich in den Rollstuhl setzte, hörte nicht, wie sie rief: "Robert, fahr mich ins Haus zurück." Sie musste es wiederholen. Unter Mühen drehte er den Rollstuhl und schob ihn wie ein Automat auf das Haus zu. Anfangs versagten die Beine ihm den Dienst, dann stellte er fest, dass sich seine Ängste aufgelöst hatten. Er fand seinen Rhythmus und schob den Stuhl mit Mary, oder war es Lisa?, und schob den Stuhl mit Lisa, oder war es Mary?, zügig in eine andere Zukunft hinein.

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