| | Zwei sind einer zuviel von Mandy Reich
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Dieser Morgen versprach einen herrlichen Sommertag, einen, wie es schon so viele 1992 gab. Kurz nach Neun klingelte mein Telefon. Es war ungewöhnlich, dass zu dieser frühen Zeit jemand anrief. Neugierig erwartete ich eine wichtige Mitteilung.
"Ilse Fischer." Nach einem langen Knistern in der Leitung und wiederholtem vergeblichen Aufrufen des Gesprächspartners legte dieser leise auf.
Keine Stunde später klingelte es am Haus. Ich ging, gespannt darauf, wer mir einen Besuch abstatten würde. Hans war bereits in aller Frühe zum Angeln aufgebrochen. Ihn erwartete ich erst am Nachmittag zurück.
Als ich die Tür öffnete, blickte ich in ein vertrautes und zugleich unbekanntes Gesicht. Meine Knie schlotterten, während ich mein Gegenüber sprichwörtlich mit offenem Mund anstarrte. Ich hatte Mühe, die Gefühle, die in mir tobten, unter Kontrolle zu halten. Vor mir stand das ältere Ebenbild des Mannes, den ich als Alfons Mahler kannte. Seine blonden Locken von damals waren noch füllig auf dem Kopf vorhanden, jedoch inzwischen zu einem Grauweiß verblasst. Um den Mund erkannte ich ein leichtes Zucken, im Gesicht viele Falten, die früher nicht dort waren. Selbstverständlich nicht, dachte ich mir. Ich sah schließlich auch nicht mehr wie neunzehn aus. Doch es gab keinen Zweifel. Dies war eindeutig Alfons.
Meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt.
Ich bat ihn herein, er setzte sich und musterte mich. Er strahlte eine unglaubliche Ruhe aus, die ich nicht erwidern konnte. Innerlich fror es mich. Ich fühlte mich schuldig.
Alfons war mein erster Mann. Der Mann, den ich für immer verloren glaubte. Er war tot – davon war ich zumindest bis zum heutigen Tage überzeugt gewesen.
"Liebe Ilse." Verlegen blickte er auf seine Hände hinab, die er sorgsam knetete. Auch er schien aufgeregt zu sein, obwohl er seine Gefühle gut kaschierte. "Ich hatte es mir nicht so schwer vorgestellt, nach all den Jahren. Aber offensichtlich finde ich im Moment nicht die richtigen Worte. Wie vorhin am Telefon."
"Du warst das also? Alfons, wie kommst du denn hier her?" Erst, nachdem ich die Worte ausgesprochen hatte, fiel mir auf, wie unpassend sie klangen. "Ich meine, du bist am Leben?" Auch das war nicht viel geschickter, wie ich mir eingestehen musste. "Verzeih, aber ich bin ehrlich gesagt zu überrascht, um etwas Sinnvolles von mir zu geben. Was ist passiert?" Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte. Eine unglaubliche Geschichte, die mein Verhalten entschuldigt hätte. Doch Alfons lieferte mir nur eine schlichte Erklärung, die mir wohl deshalb umso glaubwürdiger schien.
Er wurde im Zweiten Weltkrieg von den Russen gefangengenommen, soweit stimmte sein Bericht mit meinen Erkenntnissen überein. Doch ich glaubte, er fiel im Krieg.
Alfons erzählte mir von den schweren Jahren in Gefangenschaft. Erst 1953 wurde er in seine Heimat entlassen, doch er konnte mich nicht finden. Er startete eine Suchaktion, die jedoch mehrere Jahre im Sande verlief. Erst nach dem Mauerbau erfuhr er, dass ich in Düsseldorf lebte und erneut geheiratet hatte. Die Wende `89 gab ihm die Möglichkeit, erneut nach mir zu suchen. Er fand erst nach mehreren Monaten meine aktuelle Anschrift heraus und heute den Mut, mich anzusprechen. Aus seiner Stimme hörte ich einen leisen Vorwurf heraus, oder bildete ich mir das ein?
"Sie hatten mir erklärt, du werdest vermisst. Keiner konnte mir genaueres sagen, ob du noch lebst, wo du abgeblieben warst. Weißt du eigentlich, was ich durchgemacht habe?" Schon wieder so eine unglaubliche Unterstellung. Meine Gefühle waren sicher belanglos im Vergleich zu den Erlebnissen, die er in Gefangenschaft hatte erleiden müssen. "Es tut mir leid. Weißt du, Alfons", fügte ich nach einer unangenehmen Stille hinzu, "wie oft habe ich mir ausgedacht, wie ich reagieren würde, wenn du zurückkämst, was ich dir sagen könnte. Doch jetzt, wo es soweit ist, fehlen mir die passenden Worte. Es ist so unglaublich. Ich war überzeugt davon, du wärest tot. Und jetzt nach all diesen Jahren. So eine lange Zeit."
"Einundfünfzig Jahre, Ilse. Und jeden Tag habe ich an dich gedacht. Auch wenn es mir in den letzten Jahren schwer ums Herz war."
Dem stimmte ich zu. Ich hatte den Verlust Alfons’ verdrängt. Doch jetzt, wo er vor mir saß, froh, mich wiederzusehen und dennoch verzweifelt über die Tragik unserer Geschichte, wurde ich mir der langen Zeit bewusst, die verstrichen war. Meine Welt war plötzlich nicht mehr so klein, wie sie die letzten einundfünfzig Jahre gewesen war. Ich war immer noch verwirrt, konnte die abstruse Situation nicht wirklich verarbeiten. Doch auch ich freute mich, ihn am Leben zu wissen. "Ja, ich habe dich geliebt, doch ich habe dich auch gehen lassen müssen, nach Jahren der Trauer. Das Leben schien aussichtslos. Jede Stunde kam mir vor wie ein Tag, jeder Tag wie ein Monat. Mein Leben schien vorüber, als hätte jemand einen Schleier der Trostlosigkeit über mich geworfen. Als du mit der großen Entlassungswelle 1947 nicht heimkehrtest, gab ich alle Hoffnung auf ein Wiedersehen auf. Das war nicht einfach für mich, doch ich konnte so nicht weiter leben – warten, ohne zu wissen worauf. Daher ließ ich dich ein Jahr später für tot erklären. Ich verließ Rügen und ging nach Düsseldorf, wo ich später Hans kennen lernte. Nie hätte ich das geglaubt, wenn mir das jemand vorher gesagt hätte, aber ich verliebte mich ein zweites Mal. Wir verstanden uns sofort, als ob wir uns bereits unser ganzes Leben gekannt hätten. 1952 heirateten wir."
"Daraus werde ich dir keinen Vorwurf machen. Aber glaube mir, Ilse, so habe ich nicht immer gedacht. Ich hatte genügend Zeit, mit dieser Situation zurechtzukommen. Nachdem mir klar wurde, dass es für uns keine gemeinsame Zukunft geben würde, habe auch ich wieder geheiratet. Meine Frau starb vor fünf Jahren an ihrem Herzleiden. Oh Ilse, ich habe eine Frau durch den Krieg verloren, eine durch Krankheit – ich hatte die letzten Jahre Zeit, über mein Leben nachzudenken. Nachdem ich durch die Wende die Möglichkeit erhielt, dich wiederzusehen, habe ich mich entschlossen, dich aufzusuchen. Ich wollte unsere Vergangenheit besser aufarbeiten können, denn das hat mich jeden Tag beschäftigt. Ich wollte erfahren, was damals geschehen ist, wollte dir mitteilen, dass ich lebe."
Alfons redete bedacht, schließlich hatte er tatsächlich Zeit gehabt, sich auf das Kommende vorzubereiten, im Gegensatz zu mir. Es zerriss mir das Herz, als er sich offenbarte.
Später kam Hans nach Hause. Ich begrüßte ihn mit Fassung, welche meine innere Stimmung Lügen strafte. "Alfons, darf ich dir Hans vorstellen, meinen Mann. – Hans, das ist Alfons." Hans schaute betreten drein.
Ich erkannte, dass wir uns besser woanders unterhalten müssten. Ich versuchte, meinen Mann zu beruhigen, bevor Alfons und ich das Haus verließen. "Hans, es ist alles in Ordnung. Mach dir keine Sorgen."
Alfons und ich liefen gemächlich die Straße hinunter, bis wir den Zugang zum Stadtpark passierten, entlang der grünen Wiesen, bunt bepflanzten Blumenbeete, vorbei an spielenden Kindern. Wir nutzten die Ruhe, um uns auszusprechen. Schließlich setzten wir uns ins Café am Park in die Sonne. Alfons bestellte gleich eine große Kanne Kaffee, damit wir uns ungestört unterhalten konnten. Nachdem die Bedienung wieder verschwunden war, hörte ich gespannt Alfons’ Lebensgeschichte an, bevor ich ihm von meinen Erlebnissen berichtete.
So saßen wir im Café, die Kanne war seit langem leer. Alfons und ich verabschiedeten uns freundlich.
Auf dem Heimweg wurde mir bewusst, wie wichtig das heutige Treffen für mich gewesen ist. Einerseits war ich überglücklich, Alfons am Leben zu wissen, andererseits auch traurig, dass wir beide damals auseinandergerissen wurden. Ich hatte die Gelegenheit wahrgenommen, meine offenen Fragen an ihn zu richten. Alfons hatte sich meine Geschichte angehört und ich glaube, auch er hat mit der Entwicklung unserer beider Leben Frieden geschlossen. Wir hatten das seltene Glück, einander wiederzusehen, und das war schön und wichtig für mich. |
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