Madrigal für einen Mörder
Madrigal für einen Mörder
Ein Krimi muss nicht immer mit Erscheinen des Kommissars am Tatort beginnen. Dass es auch anders geht beweisen die Autoren mit ihren Kurzkrimis in diesem Buch.
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Mai 2005
Scheidepunkt
von Monique Lhoir

Manuela krümmte sich, presste ihre Hände auf den Unterleib, atmete tief durch und stieß die Luft pfeifend aus. Sie spürte, wie der stechende Schmerz langsam nachließ. Mühselig stand sie vom Sofa auf, schleppte sich, ihre gewölbte Hand schützend auf den Bauch haltend, zum Telefon. Sie wählte die Nummer ihrer Schwester. “Eva. Kannst du zu mir kommen?”
“Jetzt? Es ist Freitagabend. Ich habe gerade erst Feierabend gemacht. Mir rauscht der Kopf. Immerhin habe ich den ganzen Tag mit anderer Leute Kinder verbracht!”
“Ja, bitte jetzt. Ich verliere es schon wieder.”
Einen Augenblick war es ruhig. “Ist Ralf nicht da?!”
“Ich habe ihn zum Tennis geschickt. Er würde es nicht verkraften.”
“Willst du nicht lieber ins Krankenhaus fahren?” Evas Stimme klang besorgt.
“Nein. Es ist wie jedes Mal. Die können doch auch nicht helfen und ich habe schon Routine darin.” Manuela spürte, wie der Schmerz zurückkam und sog tief den Atem ein.
“Ich bin in einer halben Stunde bei dir.” Manuela hörte es in der Leitung knacken. Eva hatte aufgelegt. Eine erneute Wehe durchfuhr Manueals Körper. Sie wusste, dass es nicht mehr lange dauern würde. Das Gefühl, dringend auf die Toilette zu müssen, bestätigte ihre Annahme. Beide Hände auf ihren Bauch pressend ging sie gekrümmt ins Badezimmer. Mit unnatürlicher Ruhe zog sie ihren Slip aus und betrachtete das wässrige Blut darin. Im selben Moment, als sie sich setzte, spürte sie, wie sich etwas aus ihrem Körper löste und mit einem leisen Klatschen in die Toilette fiel. Der qualvolle Schmerz ließ sofort nach. Manuela stützte den Kopf in ihren Händen, Tränen quollen zwischen ihren Fingern hervor und tropften auf die nackten Oberschenkel.
Langsam stand sie auf und holte die Vorlagen hervor. Dann schleppte sie sich in Schlafzimmer, um sich einen neuen Slip anzuziehen. Der Schmerz war verebbt. Sie ging in die Küche, besorgte sich ein ausgespültes Marmeladenglas und einen Esslöffel. Vorsichtig nahm sie den Embryo auf und ließ ihn ins Glas gleiten. Dann füllte sie soviel von der Flüssigkeit aus der Toilette Wasser nach, bis er bedeckt war, verschloss das Gefäß mit dem Schraubdeckel und stellte es in den Kühlschrank. Anschließend goss sie sich ein Glas Cognac ein, setzte sich aufs Sofa und wartete, bis es klingelte.
Eva kam herein. “Wie geht es dir?”
“Es ist vorbei.” Manuela lächelte ein wenig.
“Es tut mir so leid.” Ihre Schwester nahm sie in den Arm und führte sie zum Sofa zurück.
“Ich habe es heute Mittag schon gespürt”, erklärte Manuela. “Im Büro. Ich bekam plötzlich Bauchschmerzen und rief meinen Frauenarzt an. Dann habe ich früher Schluss gemacht, dachte, ich könnte noch vor Feierabend in der Praxis sein. Aber ... als ich in der Bahn spürte, dass Schmierblutungen einsetzten, habe ich es gewusst.”
“Was hat dein Arzt gesagt? Solltest du nicht ins Krankenhaus?”
“Nein, wenn es keine Komplikationen gäbe und ich es allein schaffe, sollte ich alles aufbewahren und Montag früh in die Praxis kommen. Er schickt es ins Labor und die Ausschabung nimmt er vor. Beim ersten Mal im Krankenhaus, als ich es verlor, kam ich mir anschließend wie ein Schlachtvieh vor. Sie kümmern sich um vieles, aber nicht um die Seele.”
“Vielleicht klappt es das nächste Mal.” Eva strich Manuela über die Wange.
“Nein, ein nächstes Mal würde ich nicht mehr verkraften.” Manuela trank einen großen Schluck des Cognacs. “Ich bin schon halb betrunken”, erklärte sie und betrachtete ihr Glas. “sonst hätte ich den Schmerz nicht ertragen.”
“Hast du schon gegessen?”, fragte Eva. “Ich habe den ganzen Tag noch keinen Bissen getan.” Sie ging zum Kühlschrank.
“Ich war nicht einkaufen. Aber Brot und Marmelade sind noch da.”
Manuela hörte, wie Eva in der Küche rumorte. “Willst du auch etwas?”, fragte ihre Schwester.
“Nein, ich habe keinen Hunger.”
Als Eva zurück ins Wohnzimmer kam, hatte sie in der einen Hand ein Brot und in der anderen ein Glas. “Sag mal, was ist das denn?”, fragte sie.
“Der Embryo.” Manuela senkte traurig ihre Augen und wieder kamen ihr die Tränen. “Ich sollte es aufbewahren und am Montag mit in die Praxis bringen. Es muss untersucht werden, welche Ursache die ständigen Fehlgeburten haben.”
“Und? Das hast du gemacht?” Ihr blieb der Mund offen stehen.
“Ja. Alle vorherigen Untersuchungen haben bisher keinen vernünftigen Grund ergeben. Körperlich bin ich kerngesund.”
Eva stellte das Glas vor sich hin und biss in das Brot. “Eigenartig sieht so ein Embryo aus”, sagte sie kauend. “Ein bisschen kann man schon erkennen, dass es ein Mensch werden würde.”
Manuela nahm noch einen Schluck von ihrem Cognac. “Ja, aber es ist noch ganz klein. So winzig und so zart. Nicht mal zehn Zentimeter groß.”
“Fast weiß ist es.” Eva nahm das Glas hoch, schwenkte es hin und her und betrachtete es von allen Seiten. “Ob man wohl erkennen kann, ob es ein Mädchen oder ein Junge geworden wäre?”
“Zeig mal.” Manuela griff nach dem Glas und betrachte es. “Nein, ich kann nichts erkennen, aber ich denke, es wäre ein Mädchen geworden. Sicher wird bei der Untersuchung mehr herauskommen.”
“Was ist mit Ralf?”
“Er hätte schon letztens zur Untersuchung gemusst. Mein Arzt nimmt an, dass es an ihm liegt. Heute ist bei Männern Zeugungsunfähigkeit schon fast normal. Stress, Rauchen, Alkohol, Umwelteinflüsse.” Manuela zuckte mit den Schultern. “Aber Ralf weist das alles weit von sich. Für ihn bin ich daran Schuld. So in der Art, dass ich keine richtige Frau wäre.”
“Mistkerl,” bemerkte Eva. “Hat er sich mal überlegt, dass er dich mit seiner Schuldzuweisung unter Druck setzt? Was versteht er denn unter einer richtigen Frau? Eine Gebärmaschine?”
“Du gehst mit ihm hart ins Gericht.”
“Ich habe den ganzen Tag mit Kindern zu tun, deren Eltern kaum Zeit für ihren Nachwuchs aufbringen”, erklärte Eva erbost. “Kinder aus zerrütteten Ehen, Kinder allein erziehender Mütter oder welche, deren Eltern trinken. Wenn ich das sehe, da frage ich mich, ob sich die Menschen überhaupt bewusst sind, was es heißt, ein Kind in die Welt zu setzen, dass sie damit die Verantwortung für einen Menschen tragen, oft sogar ein Leben lang.”
“Hast du deshalb keine Kinder?” Manuela sah ihre ältere Schwester an.
“Ich habe viele Kinder und ich liebe sie alle.” Sie machte eine kurze Pause. “Und genau deshalb fühle ich mich auch als Frau und bin glücklich.” Eva nahm Manuela das Glas wieder aus der Hand und stellte es auf den Tisch. “ Ein Mädchen hätte zu dir gepasst. Du wärest bestimmt eine gute Mutter. Komm, ich bringe dich jetzt zu Bett. Und wenn du alles überstanden hast, dann sollten wir uns noch einmal unterhalten.”

“Das Problem liegt bei Ihrem Mann”, hatte der Frauenarzt gesagt. “Wenn Sie wirklich ein Baby wollen, dass sollte er sich behandeln lassen.” Ralf hatte getobt und kam noch seltener nach Hause als zuvor. Was hatte Eva gesagt? Gebärmaschine? Einige Wochen später besuchte Manuela ihre Schwester im Kinderhort.
“Ralf ist weg.”
“Und? Wie geht es dir dabei?”
“Es ist nicht leicht, aber ich fühle mich besser, freier.”
“Vielleicht findet er jetzt woanders seine Bestätigung.”
“Vielleicht.”
Eva schnitt buntes Papier aus. “Wir basteln morgen Laternen”, sagte sie erklärend. “Wenn du willst, kannst du mir helfen.” Sie reichte Manuela eine Schere. “Es ist schon merkwürdig auf dieser Welt. Da gibt es Mütter, die keine Kinder bekommen oder sie schlecht behandeln, und da gibt es Kinder, die keine Mütter haben.”
“Wie meinst du das?” Manuela schaute ihre Schwester erstaunt an.
“Nur so”, sagte Eva nachdenklich. “Ich habe heute einen Bericht gelesen über Kinder aus Togo. Sie vegetieren vor sich hin, haben kaum etwas zu essen, geschweige denn Kleidung, Schulausbildung oder eine Chance, einen Beruf zu erlernen. Besonders die Mädchen. Oftmals haben sie keine Mütter, weil sie bei der achten oder neunten Geburt gestorben sind. Und wir? Wir leben im Überfluss, alles ist da ... nur wir bekommen keine Kinder, obwohl wir es uns leisten könnten. Da stimmt doch etwas nicht.”
“Hast du den Bericht noch?”, fragte Manuela interessiert.
Eva legte die Schere auf den Tisch und kramte in der Schublade. “Hier ist er.” Sie reichte ihrer Schwester ein zusammengefaltetes Blatt Papier. “Ich habe ihn vorsorglich aufbewahrt.”
Manuela griff danach und begann zu lesen. “Ob schwarze Babys als Embryos auch rosa sind?”, fragte sie Eva.
“Du denkst immer noch daran, nicht wahr? Ich weiß es nicht.” Sie nahm die Schere wieder auf und bearbeitete erneut den bunten Karton. “Aber sicher werden sie sich in nichts von unseren Babys unterscheiden. Nur, dass ihre Chancen schlechter sind, als in der so genannten zivilisierten Welt. Warum gibt es Unterschiede? Nur weil sie zufälligerweise in einem anderen Land gezeugt wurden?”
Manuela stand auf. “Darf ich den Bericht mitnehmen?”
“Natürlich. Geht es dir wirklich gut?” Eva sah kurz auf.
“Es ist alles okay.” Manuela drückte Eva zum Abschied einen Kuss auf die Wange. “Ich danke dir, dass du Zeit für mich hattest.” Anschließend ging sie in ein Café, las den Artikel noch einmal durch und betrachtete die kleinen, dunkelhäutigen Mädchen auf den Bildern. Sorgfältig füllte sie anschließend das Anmeldeformular für eine Patenschaft aus, in der sie sich für ein Mädchen namens Mawufemo Hessogbo aus Togo entschied, gerade zweieinhalb Jahre alt, das ihr verschüchtert auf dem Foto mit dunklen, traurigen entgegen blinzelte.
Entschlossen steckte Manuela den ausgefüllten Schnipsel in einen Couvert, adressierte ihn und schmiss ihn auf dem Nachhauseweg bei der Post ein.

Fünfzehn Jahre später. Manuela öffnet den Briefkasten. Ein brauner Umschlag aus Togo – wie so oft in den letzten Jahren. Sie öffnet ihn hastig. Sicherlich wieder ein paar liebe Zeilen von Mawufemo. Doch es ist ein Schreiben von der Organisation. Eilig überfliegt sie es. “... wir teilen Ihnen mit, dass Mawufemo nicht mehr in unserem Projekt ist. Inzwischen hat sie ihre Ausbildung abgeschlossen und ist nunmehr in der Lage, sich selbst zu ernähren. Wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu dürfen, dass Mawufemo eine Anstellung als Auslandskorrespondentin in unserem Lande erhalten hat. Sicherlich wird Ihnen Ihre Tochter Mawufemo dies noch persönlich mitteilen. Wir danken Ihnen.”
Manuela lässt den Brief sinken. Tränen quellen aus ihren Augen. Sie geht zum Fenster und schaut hinaus. Im Garten sieht sie, wie ihr Sohn lautstark mit einem Kumpel für das nächste Basketballturnier trainiert. Volker, ihr Lebensgefährte, nimmt sie von hinten in den Arm und schmiegt seine Wange an die ihre: “Ist alles in Ordnung?”

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
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