Das alte Buch Mamsell
Das alte Buch Mamsell
Peggy Wehmeier zeigt in diesem Buch, dass Märchen für kleine und große Leute interessant sein können - und dass sich auch schwere Inhalte wie der Tod für Kinder verstehbar machen lassen.
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Mai 2005
Sehnsucht
von Anke Michels

Müde stieg Günter die Treppe hinauf. Nach acht Stunden am Steuer seines Lastwagens fühlte er sich völlig ausgelaugt. Hoffentlich ging es Rita heute einigermaßen gut. Er hatte keine Kraft mehr, um sie jetzt noch aus einem ihrer Tiefs zu holen.
Vielleicht hätte er damals doch den Hausarzt unterstützen sollen, der Rita zu einer Therapie riet. Aber Rita versicherte, dass das nicht nötig sei. Und er hatte ihr bereitwillig geglaubt – zu Psychiatern gingen schließlich nur verrückte Leute.
Als er die Wohnungstür öffnete, kam Rita ihm entgegen. Sie war angezogen, hatte die Haare frisiert und war sogar geschminkt. Es schien einer ihrer guten Tage zu sein.
Günter atmete auf und begrüßte seine Frau mit einer kurzen Umarmung: „Hallo Rita, hattest du einen schönen Tag?“
Rita lächelte ihn an: „Wunderbar. Ich war mit der Kleinen im Park. Gerade erst habe ich sie ins Bett gelegt. Sag ihr doch schnell noch gute Nacht.“
Günter lief es eiskalt den Rücken runter.
„Wovon redest du Rita?“
Plötzlich hörte er das Weinen eines Säuglings.
„Hörst du? Sie ist noch wach. Du kannst also ruhig zu ihr reingehen.“
Wie in Trance ging Günter auf die Zimmertür zu und öffnete sie. Er durchquerte den Raum und blickte in das Gitterbettchen, das unter dem Fenster stand.
Darin lag ein Säugling in einem weißen Strampelanzug, am Arm ein rosa Plastikband, auf das der Name „Katrin Müller“ gedruckt war.
Einen Moment sah das Baby Günter stumm an, dann schrie es weiter. Mechanisch nahm Günter den Säugling aus dem Bettchen und wiegte ihn in seinen Armen. Schnell beruhigte sich das Kind und schlief ein.
„Siehst du, Günter, Laura hat nur darauf gewartet, ihrem Papa gute Nacht zu sagen.“
Günter legte das Kind zurück ins Bett und führte Rita aus dem Zimmer. Im Wohnzimmer setzte er sie auf die Couch und nahm neben ihr Platz.
„Rita, woher kommt dieses Kind?“
Rita lächelte ihn an: „Das solltest du doch am besten wissen, wo unsere Laura herkommt.“
„Bitte, Rita, sag mir, woher du dieses Baby hast“, sagte er mit heiserer Stimme.
„Laura war krank, Günter. Das weißt du doch. Und heute habe ich sie aus dem Krankenhaus abgeholt.“
„Laura ist tot, Rita. Wir haben sie vor sechs Monaten tot in ihrem Bettchen gefunden.“
Das Lächeln verschwand von Ritas Gesicht: „Tot? Nein, das stimmt nicht.“
Tränen traten in ihre Augen und sie stammelte mit leiser Stimme unverständliche Worte vor sich hin.
Günter rieb sich die Schläfen. Was sollte er nur tun? Er musste dieses Kind so schnell wie möglich zu seinen Eltern zurückbringen. Schließlich wusste er genau, wie man sich fühlte, wenn man das eigene Kind verlor. Das wollte er niemandem antun.
Außerdem machte er sich Sorgen um Rita. Wenn herauskäme, dass sie ein Kind entführt hatte, dann würde sie ins Gefängnis kommen.
Aber wie konnte er das Baby zurückbringen, ohne sich zu erkennen zu geben?
Es irgendwo auszusetzen kam nicht in Frage. Er wollte die Kleine auf keinen Fall in Gefahr bringen. Andererseits konnte er sie aber auch nicht in einem Krankenhaus abgeben. Da waren zu viele Menschen – keine Chance, dort ungesehen zu bleiben.
Schließlich fiel ihm eine Lösung ein. In der Buchenstrasse gab es eine Babyklappe. Er war mit Rita schon oft daran vorbeispaziert. Dort konnte man Säuglinge anonym abgeben. Genau das, was er brauchte. Das Kind würde sofort betreut werden und er konnte ungesehen verschwinden.
Aber erstmal musste er sich um Rita kümmern. Sie saß zusammengesunken da und starrte ihn aus großen Augen an. Tränen liefen ihr über die Wangen, ansonsten war sie völlig still.
„Komm, Rita-Schatz, ich bringe dich ins Bett. Du brauchst Ruhe.“
Gehorsam ließ sie sich ins Schlafzimmer führen. Er zog sie aus, legte sie ins Bett und deckte sie zu. Dann gab er ihr eine der Tabletten, die der Doktor ihr nach Lauras Tod verschrieben hatte, und ohne die sie seither nicht mehr schlafen konnte. Rita schluckte sie gehorsam.
Günter wartete, bis sie eingeschlafen war. Dann ging er ins Kinderzimmer. Er öffnete den Schrank, in dem immer noch Lauras Kleider hingen. Günter nahm einen Anorak, Handschuhe und ein Mützchen heraus und zog Katrin an. Sie wachte kurz auf und blickte ihn an. Beruhigend redete er auf sie ein: „Keine Sorge, meine Süße. Ich bringe dich zurück zu deiner Mama. Dir wird nichts geschehen.“
Als er die Kleine in die Bauchtrage setzte, schlief sie wieder ein.
Günter zog seinen Parka über und öffnete die Wohnungstür. Vorsichtig schaute er sich um, konnte jedoch niemanden entdecken. Schnell ging er durch das dunkle Treppenhaus nach unten. Als er vor der Haustür stand, atmete er auf. Den schwierigsten Teil der Strecke hatte er geschafft. Jetzt musste er nur noch ungesehen bis zur Babyklappe kommen.
Während er die Straße entlang ging, wurde ihm die Wärme des kleinen Körpers bewusst, der sich an ihn schmiegte. Er hatte es immer geliebt, Laura so zu tragen. Wie sehr er sie vermisste.
Je näher er der Buchenstraße kam, umso langsamer ging er. Einfach nur, um den kleinen Körper noch ein wenig länger an sich spüren zu können.
Als er schließlich doch angekommen war, nahm er das schlafende Baby aus der Trage und drückte es kurz an sich. Er zog das rosa Namensbändchen aus dem Ärmel des Anoraks hervor, so dass es gut sichtbar war. Dann öffnete er die Klappe und legte die Kleine auf die Matratze dahinter.
Mit schnellen Schritten ging Günter davon. Den Rückweg schaffte er in wenigen Minuten. Zu Hause sah er zunächst nach Rita, dann ging er ins Wohnzimmer, schaltete den Fernseher ein und wartete.
Irgendwann nickte er ein. Als er wieder aufwachte, liefen gerade die Nachrichten. Und er sah das Baby, das er vor wenigen Stunden noch gehalten hatte.
Jetzt lag die Kleine in den Armen ihrer Mutter, die übers ganze Gesicht strahlte. Auch der Vater sah unbeschreiblich glücklich aus. Er sagte: „Wir möchten uns bei demjenigen bedanken, der unsere Katrin zurückgebracht hat.“
Günter schaltete den Fernseher aus, ging ins Schlafzimmer und legte sich zu Rita ins Bett. Er nahm sie in den Arm und flüsterte: „Irgendwann werden wir auch wieder ein Baby haben. Aber zuerst sorge ich dafür, dass du Hilfe bekommst. Das hätte ich schon lange tun sollen.“

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
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