Ein Krimi muss nicht immer mit Erscheinen des Kommissars am Tatort beginnen. Dass es auch anders geht beweisen die Autoren mit ihren Kurzkrimis in diesem Buch.
Schreiend wacht Alina auf. Wie jede Nacht. Wie immer, seither.
Sie dreht sich auf den Bauch, kauert sich zusammen, die Brust fest an die Knie gedrückt, tastet nach dem Polster und deckt den Kopf damit zu.
Ihr Herz rast, das Blut summt laut in ihren Ohren, sie drückt das Gesicht in die Matratze, zwickt die Augen zu bis die Muskeln schmerzen, beißt sich auf die Lippen bis sie Blut schmeckt und drückt die Polsterzipfel auf die Ohren.
Wieder hört sie die bekannten Geräusche. Sie haben sich in ihr Gehirn eingegraben, sie kennt die Tonabfolge auswendig: Leise, tappende Schritte, das leichte Schnarren, das das Öffnen der Toilettentüre begleitet, das wohlbekannte Rauschen, wieder die Türe – Stille.
Kurz ist die Stille aber so mit Anspannung geladen, dass Alina es kaum aushält. Mit angehaltenem Atem wartet sie. Ist es für heute vorbei? Hat sie sich für heute umsonst gefürchtet?
Eine Hand berührt sanft ihre Schulter. Entsetzt fährt sie hoch. Sie hat ihn gar nicht kommen hören. Hat nicht bemerkt ...
„Es ist alles in Ordnung, Alina“, sagt eine betont ruhige Frauenstimme. „Kommen Sie, legen Sie sich wieder entspannt hin. So kann sich doch kein Mensch ausruhen“.
Ausruhen? Was spricht sie da von Ausruhen? Alina beutelt die Hand an ihrer Schulter ab. Sie soll sie in Ruhe lassen. Sie darf sie nicht stören! Wie soll sie sonst hören, ob es wieder kommt?
Doch die Hand lässt sich nicht so einfach abschütteln, beginnt sanft ihren Nacken zu massieren, hebt vorsichtig den Polster von ihrem Kopf, hält ihre Hand. Langsam entspannen sich die verkrampften Muskeln um Augen und Mund, sie dreht sich um, streckt die Beine aus und fällt in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Bis die Schatten kommen. Große, unheimliche Schatten, die sich auf der Wand abzeichnen, sich bedrohlich bewegen, mit riesigen Fäusten nach ihr schlagen wollen. Vor dem Fenster hört sie Schritte, leise tappende Schritte. Dann draußen im Gang, dann das Schnarren der Türe, das Rauschen und wieder Schritte. Diesmal schon näher. Sie will schreien. Doch ihr Mund ist zugenäht mit schmerzhaft straffen Fäden. Ihre Nase bläht sich krampfhaft auf: Luft, sie braucht Luft. Doch mit der Luft kommt auch der Geruch. Er muss schon vor der Türe stehen. Warum kommt denn niemand, um nach ihr zu sehen? Sie müssen es doch auch riechen. Diese penetrante Duftkomposition aus billiger Toilettenseife, Zwiebel, Knoblauch, Männerschweiß und Gier.
Sie reißt ihre Augen auf: Ein schmaler weißer Lichtstreifen, grell wie ein Schwerthieb schlägt auf ihr Bett. Sie will nicht sehen aber sie kann die Augen nicht abwenden. Solange nur das Lichtschwert zu sehen ist, ist es noch nicht so schlimm. Aber sie weiß genau, was kommt. Gleich wird das Licht verdeckt sein von seinem schwarzen Schatten. Oh wenn sie doch das gleißende Lichtschwert nehmen könnte, um damit den Schatten zu zerschneiden!
„Kaaarl“ eine jammernde Frauenstimme hallt durch das Haus. „Wo bist du denn?“ Sachte schließt sich die Türe – der Schatten ist verschwunden, ist wieder zu einem Menschen geworden, der festen Schrittes die Stiege hinauf geht und mit gemütlich brummender Stimme antwortet: „Komme ja schon!“
***
Alina spielt. Mit fröhlichem Gesicht läuft sie den Gartenweg entlang, eine Hand immer ausgestreckt, damit sie die Hecke mit ihren Fingerspitzen berühren kann. Sie liebt die feste Textur der Blätter, das Streicheln der weichen duftenden Jasminblüten und das leichte Kratzen der Astspitzen auf ihrer Haut. Von Zeit zu Zeit bleibt sie stehen, bückt sich und hebt einige der großen runden Kieselsteine auf, die den Wegrand säumen. Sie sind herrlich rund abgeschliffen und warm von der Sonne. Alina drückt sie an ihre Stirne und lacht fröhlich auf.
Dann wirft sie sie wieder auf den Boden und lauscht dem Geräusch.
Sie kann es gut hören auch wenn ihr Geräusche sonst verschlossen bleiben. Der strahlende Sonnenschein wird plötzlich von einer Wolke verdunkelt, funkelnde Regentropfen fallen durch den warmen Sommertag auf ihre Haut. Alina reißt die Augen weit auf, sie fühlt die Kühle jedes einzelnen Tropfens auf ihrer heißen Haut, sie sieht die glitzernden Juwelen herabstürzen, wie auf die Goldmarie. Sie sieht es wirklich, obwohl sie sonst nicht sehen kann. Sie lacht wie ein Kind. Sie tanzt im Kreis, schneller immer schneller. Mit ausgestreckten Armen.
Alina ist neunzehn und taub und blind, seither.
Seither
Seit das Lichtschwert wieder und wieder auf ihr Bett eingeschlagen hatte und ihre Augen blendete. Seit der große schwarze Schatten jede Helligkeit aus ihrem Leben verbannte und die große Dunkelheit sie verschlang.
Nie mehr wollte sie die tappenden Schritte hören, das Knarren der Toilettentüre, das Rauschen und wieder Schritte. Nie mehr!
Das letzte Mal als es passiert war hatte sie geschrieen, geschrieen bis die Fenster zersprungen und ihre Trommelfelle geplatzt waren. Der Schmerz hatte die Panik betäubt, die von ihr Besitz ergriffen hatte. Der schrille hohe Ton ihrer Schreie hatte die Reste der Schatten zerfetzt.
Nachbarn hatten sie ruhig, aufrecht auf ihrem Bett stehend vorgefunden, den Mund zum stummen Schrei verzerrt, die Augen weit aufgerissen, wie versteinert.
Der Mann war aus dem Haus verschwunden und wurde nie mehr gesehen, seine Frau hatte sich in das Obergeschoß zurückgezogen und weigerte sich das Zimmer ihrer Tochter zu betreten. Sie weigerte sich auch später jemals wieder etwas mit dem Kind zu tun zu haben, das ihre „heile“ Welt mit seinen Schreien zusammenbrechen ließ Das die gnädigen Schatten die alles so gut verdeckten mit grellem Licht zerstört und ihr den Mann geraubt hatte.
***
Zehn Jahre sind vergangen, Alina kann keine Schritte, kein Knarren mehr hören, sieht kein Lichtschwert. Und doch kommt der Schatten wieder. Nacht für Nacht. Doch in letzter Zeit öffnet sich die Türe nur mehr selten, schlägt das Lichtschwert nicht mehr auf ihr Bett. Die Schritte hören draußen auf. Doch die Angst bleibt.
Alina dreht sich noch immer im Kreis. Mit ausgestreckten Armen. Sie fühlt die Regentropfen, die auf sie niederfallen und sie reinigen, sie fühlte die warmen runden Kiesel unter ihren Füßen, und dreht sich weiter. Rasend schnell. Ein Wirbel aus bunten Lichtern schließt sie ein, hebt sie empor, trägt sie fort, weit weg, dorthin, wo es keine Schatten gibt.
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