Der Cousin im Souterrain
Der Cousin im Souterrain
Der nach "Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten" zweite Streich der Dortmunder Autorinnengruppe "Undpunkt".
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Mai 2005
Feiertage
von Gundela Patricia Koller

Tine Meier ist über die Feiertage alleine. Sie haßt Weihnachten und die stille Zeit. Mit ihrer Familie ist sie seit Jahren zerstritten und ihren Freund hat sie verabschiedet, als er, wegen seiner beruflichen Überforderung und ihren Ansprüchen, weinend in ihren Armen zusammengebrochen ist. Sie verachtet Weicheier. Tine ist Diplom-Psychologin und betreut reichlich genervt im verhaßten Betrieb die Mitarbeiter, wenn sie nicht gerade so einen schrecklichen und unerträglich langweiligen Feiertagsurlaub hat …
Draußen schneit es leise vor sich hin und sie sitzt in ihrem alten Sessel, den sie selbst aufgepolstert hat und langweilt sich. Die Wohnung stinkt nach dem frischen Lack, mit dem sie gestern die Kommode restauriert hat. Durch die eingeatmeten Dämpfe bekommt sie langsam Kopfweh. Sie nimmt ihr Telefonbuch zur Hand und überlegt, wen sie anrufen könnte. Ihre knochigen Finger mit den vom Heimwerken ewig schmutzigen Fingernägeln gleiten über die Nummern. Nach einigem Blättern ist ihr klar, daß sie eigentlich doch mit niemandem aus ihrem Bekanntenkreis reden möchte, da die ewig gleichen Gespräche sie eh langweilen. Das einzige, das an ihr fröhlich wirkt, sind die wippenden Korkenzieherlocken ihres naturkrausen und widerspenstigen Haares, die ihr immer wieder ins fahle und stets ungeschminkte Gesicht fallen. Ihre Frustration hat sich über die letzten Jahre immer mehr in ihre Züge eingegraben, so daß sie mit ihren 36 Jahren viel älter aussieht, als sie wirklich ist. Auch ihr Therapeut konnte ihr nicht helfen, da sie immer alles besser wußte als er. Gerne hätte sie ihm erklärt, was er in seinem Leben alles falsch macht, aber dazu war er nicht bereit. Durch das Kompetenzgerangel kam es zum Abbruch ihrer Therapie. So hatte sie wieder nicht gelernt sich zu lieben.
Ihre trockene Haut ist faltig. Sie mag ohnehin nicht in den Spiegel schauen. Um sich von ihrer Farblosigkeit abzulenken hat sie sich ein Sexleben aufgebaut, das sie sich über Zufallsbekanntschaften mit notgeilen Herren aus dem Internet reguliert. Genau genommen organisiert sie sich sogar ihren gesamten Bekanntenkreis über das Netz. Für eine Weile schafft sie es ab und zu auch Gespräche mit diesen Fremden zu führen, bis auch diese sich wieder gelangweilt von ihr abwenden. Sie prahlt vor ihren fremdbleibenden Bekannten, die es wirklich nicht interessiert, damit, daß sie so gut im Bett sei und daß sie wirklich guten Oralsex bei den Herren praktizieren würde, so daß diese voll auf sie abfahren würden.
Im Laufe des letzten Jahres hatte sie sogar auch mal zwei Frauen über das Internet kennengelernt, mit denen sie sich ab und zu mal getroffen hat und denen sie natürlich auch von ihrem wilden Sexleben erzählt hat. Ina Mannsberger, eine ketterauchende Journalistin mit übergroßer Leibesfülle und der steten Neigung zur Transpiration und Clara Fein, eine attraktive Künstlerin, die mit ihren 43 Jahren einiges älter ist als die beiden, aber neben Tine trotzdem eindeutig als die Jüngere durchgeht. Ina redet auch gerne über Sex und hat vor ein Buch über ihre Verhältnisse zu schreiben. Clara hingegen lebt in einer eher ungewöhnlichen Beziehung mit einem Mann, den sie liebt, der ihr aber dauernd fremdgeht. Er lebt gerade in Scheidung und Clara bekommt sehr viel von dem Rosenkrieg und den Intrigen seiner Noch-Ehefrau hautnah mit, so daß sie reichlich gestreßt ist. Sie plaudert aber nicht so gerne aus dem Sex-Nähkästchen wie die beiden anderen Frauen und ist eine eher in sich gekehrte Person.
Tine und Ina hatten beschlossen, daß Clara sich von ihrem Freund trennen soll. Clara aber hörte nicht auf die beiden und zog sich in den letzten Monaten immer mehr zurück. Sie hatten sich zwar nur fünfmal im Leben gesehen, aber es ärgerte die beiden Frauen, daß Clara sich nicht mehr meldete, obwohl sie es doch nur gut mit ihr meinten.
Tine starrt auf den niedergebrannten Adventskranz und hadert mit ihrem Schicksal und der unerträglichen Einsamkeit. Sie wischt ein paar Tannennadeln vom Tisch und entsorgt sie in den Mülleimer. Ihr Finger blutet, weil sie sich an einer Nadel gestochen hat. Sie sucht sich ein Pflaster und verarztet die Wunde. Dann kommt wieder diese bleierne Langeweile über sie und drückt sie tief in den alten Sessel. Eigentlich könnte sie Clara anrufen und ihr mal wieder sagen, daß ihr Freund nicht der Richtige für sie ist. Sie greift zum Telefon und wählt Claras Nummer. Ärgerlich legt sie wieder auf, als sich niemand meldet. Sie ruft auf dem Handy an, aber niemand geht dran. Nun wird sie noch ärgerlicher.
Mit Ina hat sie erst vor ein paar Stunden telefoniert und ihre Sexabenteuer der letzten Zeit haben sie sich auch schon längst mit allen Details bis ins Ausführlichste erzählt, so daß sie nun kein Gesprächsthema mehr haben. Tines Blick fällt auf ihre Beine. Irgendwie sehen sie geschwollen aus. Wahrscheinlich sammelt ihr Körper gerade wieder Wasser und sie ist kurz vor ihrer Menstruation. Der aufgeblähte und leicht schmerzende Bauch spricht auch dafür. Deshalb also fühlt sie sich so gereizt.
Blöde Clara, wieso geht sie nur nicht ans Telefon? Am liebsten würde sie ihr eine reinhauen. Die geht nicht ans Telefon und das wo sie sich doch solche Sorgen um sie macht.
Tine ruft Ina an und sagt ihr, daß sie sich Sorgen um Clara macht. Ina springt sofort auf den Zug auf und macht sich nun ebenfalls Sorgen, da auch sie an den Feiertagen alleine zuhause ist und sich langweilt. Eine Magendarmgrippe mit einem Dauerdurchfall hat sie ans Bett gekettet, so daß sie ihren aktuellen Lover nicht einmal heimlich beglücken kann. Dies wäre aber ohnehin schwierig, da der die Feiertage mit seiner Ehefrau verbringt. Sie könnte ja mit ihm eine schnelle Nummer im Hausgang, während die Gattin oben in der Küche steht und ein leckeres Mahl zubereitet….. Nein eben nicht, denn da ist ja diese überaus hinderliche Darmgrippe. Was für triste Feiertage. Ah ja, zurück zum Thema: Wir machen uns Sorgen um Clara. Beide sind sich schnell einig, daß Clara ein sehr einsamer Mensch ist und daß sie wahrscheinlich Beruhigungsmittel nimmt, da sie immer so still und zurückhaltend ist. Vielleicht nimmt sie sogar Drogen. Man weiß ja nie. Clara ist ja so alleine und so unglücklich mit ihrem Freund. Jaja, gestritten haben die beiden ja auch schon öfter miteinander. Was soll das denn für eine Beziehung sein? Clara kann sich ja gar nicht wehren, denn sie ist ja viel zu sensibel für den Mistkerl. Eigentlich sollte der mal in Behandlung gehen. Was für ein Schwein. Während sich Ina ausmalt wie wohl der Sex mit ihm wäre, steigert sich Tine weiter in die Sorgen hinein. Vielleicht hat er ihr ja was angetan? Oder was, wenn Clara sich umgebracht hat? Natürlich, das war es: Sie hat sich umgebracht, deshalb geht sie auch nicht ans Telefon. Tine beendet hastig das Gespräch mit Ina und eilt in die Garage. Sie fährt im rasanten Tempo zur Polizei.
„Guten Tag, mein Name ist Tine Meier, ich bin Diplom-Psychologin. Ich möchte meine beste Freundin, Clara Fein, als vermißt melden.“
„Wie lange haben Sie sie denn schon nicht mehr gesehen?“ fragt Herr Fänger, der Polizist, der sich mit seinen Kollegen auf der Wache langweilt und die Büromöbel hütet. Schon seit Stunden spielt er mit seinem Kugelschreiber, während er das Telefon anstarrt, um ihm quasi auf hypnotische Weise den Befehl zu geben, daß es endlich klingeln solle.
Tine überlegt und sagt dann „Ich kann sie seit zwei Wochen nicht mehr erreichen. Ich mache mir solche Sorgen!“ In Wahrheit hatte sie Clara zwar zuletzt Mitte September gesehen, aber das wäre nun doch recht hinderlich. Das letzte Telefonat hatten sie im November, aber auch das verschweigt sie nun, damit sie nicht als schlechte Freundin dasteht, die sich nicht um ihre Clara sorgt. Herr Fänger ist erleichtert, daß es an diesem Sonntag direkt nach dem Neujahrstag mit dem bösen Silvesterkater, endlich etwas zu tun gibt und betrachtet Tine mitleidig und verständnisvoll. Er sieht seine große Chance gekommen endlich mal zu zeigen was für ein guter Polizist in ihm steckt, denn er ist von Tines´ dramatischem Auftritt so beeindruckt, daß er ihr jedes Wort ungeprüft glaubt. Noch nie hatte er in seinem bisherigen Leben mit einer Diplom-Psychologin zu tun gehabt, aber das war sicher so was wie eine Ärztin und somit übergeordnete Intelligenz.
Mit tränenerstickter Stimme schildert Tine nun Claras Probleme und übertreibt dabei maßlos, damit der Polizist die Dringlichkeit erkennen muß, daß man Clara suchen soll. Selbstverständlich fährt Tine mit zum Einsatzort, als Polizei und Feuerwehr in Claras Wohnung einbrechen. Sie steht im Schneeregen und beobachtet genau wie die fünf Beamten via Leiter in das aufgebrochene Fenster im ersten Stock einsteigen. Ein Schauer durchzieht ihren Körper. Was, wenn sie nun wirklich die tote Clara aus der Wohnung holen? Wenn sie ihre Leiche an ihr vorbeitragen? Das Gruseln läßt sie schaudern und ihren Körper beben, - es fühlt sich fast wie ein unheimlicher Orgasmus an. Per Handy hält sie Ina auf dem Laufenden. Die fünf Beamten durchsuchen Claras Wohnung, durchwühlen ihre Sachen, lesen ihre Post, ihre Kontoauszüge, Liebesbriefe, ihren Terminkalender… und sehen das weihnachtliche Geschenkpapier, das auf dem Tisch liegt. Offensichtlich hat hier vor kurzem jemand Geschenke verpackt. Keine Blutspuren, keine Leiche, kein Abschiedsbrief.
Die Enttäuschung steht dem übereifrigen Polizisten, der seine Kollegen hinzugezogen hat, ins Gesicht geschrieben als er wieder nach unten klettert und zu Frau Meier geht „Da ist niemand in der Wohnung.“
Herr Fänger ist nicht gerade das intelligenteste Exemplar in Uniform. So kam er auch gar nicht erst auf die Idee mal selbst zu versuchen Clara anzurufen. Da Frau Meier nun noch aufgewühlter und besorgter ist und sich sicher ist, daß Clara etwas Furchtbares zugestoßen sein muß, spricht sie nun auch noch einen Mordverdacht aus. Der Polizist versucht aber nun immerhin NACH dem Einbruch Claras Freund, Carlos, zu erreichen und spricht diesem auf die Mailbox, daß er sich bitte bei der Polizei melden solle. Beachtlicherweise geschieht dies bevor er eine Fahndung nach Carlos wegen Mordverdachts an Clara rausgeben würde.
Ina Mannsberger ist wütend, daß man die tote Clara nicht gefunden hat und ruft nun auch bei Claras Freund an. Nun bekommt die Mailbox aber richtig was zu hören, denn sie berichtet von dem Einbruch und der Freund hätte sich sofort bei ihr zu melden, denn sonst würden sie mit Blaulichteinsatz bei ihm und bei seiner, in Scheidung lebenden, Noch-Ehefrau einbrechen lassen um Clara zu finden. Sie droht ihm noch, daß die Geschichte nun Kreise ziehen werde und legt dann auf.

Carlos und Clara wollen demnächst zusammenziehen und sind gerade verliebt händchenhaltend bei einer Hausbesichtigung, nachdem sie die letzten Tage zusammen bei seiner Familie friedlich und fröhlich Weihnachten und vorgestern noch Silvester zusammen gefeiert haben. Carlos traut seinen Ohren kaum, als er die Mailbox abhört und gibt sein Handy an Clara weiter. Diese wird blaß vor Schreck und hat das Gefühl gleich zusammenzubrechen. Sie konnte ja nicht ahnen, was Tine vorhatte, als sie ihren Namen auf dem Display ihres Handys sah und beschloß nicht dranzugehen, weil sie weder Zeit noch Lust für ein langweiliges Endlostelefonat mit dem Dauerthema, daß sie sich von Carlos trennen solle, hatte. Nun aber ruft sie Tine an und fragt sie, während sie noch immer um Fassung ringt, ob diese total durchgedreht sei. Doch jetzt bekommt sie eine Menge Vorwürfe, daß sie nicht erreichbar gewesen sei und daß sich Tine ja solche Sorgen um sie gemacht hätte. Dann wird das Handy an Herrn Fänger, den Polizisten weitergegeben, der ihr dann den Einbruch in ihre Wohnung bestätigt und ihr sagt, daß sie nun die Vermißtenanzeige nicht weiter verfolgen würden… Er wünscht Clara noch ein gutes neues Jahr, doch Clara fragt noch nach, warum die Polizei sie nicht VOR dem Einbruch angerufen hätte und wer denn nun für den Schaden aufkommen würde. Da wird der Polizist aber mächtig böse und schreit sie an, daß sie ja wohl nicht die Feuerwehr und die Polizei verklagen könne und daß ja Frau Meier versucht hätte, sie anzurufen und man könne doch wohl ans Telefon gehen. Außerdem würde sie ja irgendwelche Mittelchen einnehmen und als Carlos das Handy übernimmt, weil er mitbekommen hat, daß seine Freundin angeschrieen wird, wird er ebenfalls angebrüllt, daß Frau Fein ja schließlich selbstmordgefährdet sei.

Tine und Ina kündigen Clara schnellstmöglich die Freundschaft, denn Clara ist ja so undankbar und außerdem gibt es ja nun auch noch die Einbruchsschäden, die sie dann doch lieber Clara bezahlen lassen wollen. Schließlich ist es ja Claras´ Schuld, daß sie sich Sorgen gemacht haben, weil sie sich bei ihnen nicht mehr gemeldet hat.
Die beiden Frauen telefonieren auch nach den Feiertagen noch oft zusammen, plaudern stundenlang über die Leichensuchaktion und die spannenden Einzelheiten was Tine alles mit der Polizei besprochen hat und was sie alles durchgemacht hat, als sie sich solche Sorgen machte. Beide Frauen sind sich einig, daß Clara ihre Freundschaft nicht wert ist. Mit so einer wollen sie nichts mehr zu tun haben.

Als Claras Anwalt bei dem Polizeirevier Akteneinsicht beantragt, um zu erfahren, was der Grund für die Polizeiaktion gewesen sein soll, ist die Akte verschwunden…

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