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Juni 2005
Begegnung im Wald
von Anne Zeisig

„Finger weg von meinem Schreibtisch!“, schreit Dirk Südfeld seine Frau Marion an und reißt sie so brutal zurück, dass sie auf den Boden stürzt.
„Bist du verrückt geworden?“ Sie rappelt sich auf und streift ihren Rock glatt. „Ich wollte doch nur ein paar Briefmarken und ... “
„Du hättest mich vorher fragen müssen.“ Unterbricht er sie, klemmt sich die Aktentasche unter den Arm und geht in die Diele.
Marion huscht hinter ihm her: „Wenn du glaubst, dass du grob mit mir umgehen kannst, dann irrst du! Du bist seit einiger Zeit so unbeherrscht. Was ist los mit dir?“
„Nichts.“ Er dreht herum und schaut auf die Wanduhr. „Wann bist du heute aus der Agentur zurück?“
Marion wischt sich mit dem Handrücken Schweißperlen von der Oberlippe: „Sind im Schreibtisch etwa geheime Unterlagen aus der Bank?“
„Ich wollte keine Frage gestellt bekommen! Ich wollte auf eine einfache Frage eine kurze Antwort!“

Dirk lässt die Haustür laut ins Schloss fallen und eilt den Kiesweg zur Garage hinunter.
„Gegen vier werde ich zurück sein! “, ruft Marion ihm aus dem geöffneten Küchenfenster zu, „ich will noch zum Golfen!“
Der Motor heult auf, und auf der geradlinigen Bundesstraße holt Dirk das letzte aus dem Sportwagen heraus. Die beiden Old-Timer, Erbstücke seines Vaters, hatte er bereits verkaufen müssen. Mit Geschick und Diplomatie musste er Marion davon überzeugen, warum er sich von seinen Lieblingen trennen würde.

***

Auf dem Waldparkplatz lässt er den Wagen ausrollen, fährt das Verdeck zurück und bringt den Sitz in Liegeposition. `Golf, Tennis, Theater, Reisen. Das Haus mit dem Pool, die Sauna, das verschlingt Unsummen an Betriebskosten. Die Reinigungsfrau.´ Dirk fährt sich durchs Haar und beobachtet, wie der Wind mit dem Laub spielt und die Morgensonne kleine Blitze hindurch fahren lässt.

`Fünfundvierzig, Herr Südfeld! Und immer nur unflexibel an einer einzigen Position geklebt, für die es keinen Bedarf mehr gibt,´ und ein müdes Schulterklopfen.

Dirk schnellt vom Sitz hoch, öffnet die Tür, steigt aus und versetzt dem Baumstamm einen kräftigen Fußtritt. „Wenn ich nicht bald was Neues habe, dann verliere ich alles! Alles!“ Er setzt sich auf den Boden, lehnt sich gegen einen Stamm und flüstert, „dann verliere ich auch Marion.“

„Geht es Ihnen nicht gut?“

Er sieht in ein Paar grüner Augen, die nicht nur von Lachfältchen umkränzt sind. Er sieht auch die Sorgenfalten auf der Stirn, die nicht vollständig von schütterem Grauhaar bedeckt werden.
„Entschuldigung.“ Die ältere Dame nickt ihm aufmunternd zu. „Ich wollte nicht stören, ich dachte nur, dass es Ihnen vielleicht nicht gut geht?“
Dirk erhebt sich und gibt ihr die Hand: „Danke. Nein. Ich meine, mir geht es gut. Ja, doch, es geht mir sogar sehr gut.“ Er zeigt auf den Wagen. „Sie sehen ja, ich fahre einen teuren Wagen. Und mein Heim könnte man als luxuriös bezeichnen. Ich habe jeden Winkel auf dieser verdammten Erde bereist, und bis vor kurzem hatte ich angenommen, dass ich meinen Job gut gemacht habe. Aber nun.“ Er zuckt mit den Schultern.
Die Dame zeigt auf eine Bank: „Wir sollten uns setzen.“
„Verzeihung. Dirk Südfeld.“ Wie angenehm ihre weiche, faltige Hand in der seinen ruhte.
Sie lacht: „Wollen Sie meine Hand denn nicht los lassen?“
Die alte Dame lehnt ihren Wanderstock an die Lehne der Bank: „Dirk – wie?“
„Südfeld“.
Sie entschuldigt sich wegen ihres schlechten Gehörs, zieht einen Flachmann aus der Innentasche der Wetterjacke, schraubt den Verschluss ab, gießt ein und bietet Dirk den Schoppen an. „Kräuterlikör. Selbst gemacht.“

Danach nimmt sie auch einen Schluck. „Ich muss Ihnen gestehen, dass ich bereits vor Wochen auf Sie aufmerksam wurde. Ihr Wagen.“ Sie zeigt nach hinten. „Vom Hügel aus hatte ich zuerst Ihren Wagen gesehen. Ist ja auch ein herrlich leuchtendes Rot! Zuerst“, und nun flüstert sie, „dachte ich, na ja, ein junges Liebespaar will am Morgen eine ungestörte Zeit verbringen. Aber als ich dann näher kam.“
„Da haben Sie mich gesehen.“
„Ich bin übrigens die Anna-Margaretha.“ Sie hält ihm wieder ihre Hand hin, die im Leben viel gearbeitet haben muss. Das waren nicht die zarten Hände einer verwöhnten Tochter oder Ehefrau aus besserem Hause.

Er erzählt von seiner Arbeitslosigkeit und wie er die Zeit tot schlägt – hier im Wald – oder im Park. Wo es einsam ist. Und die Gefahr gering, dass man ihn sehen wird. Seine Frau soll glauben, dass er in der Bank ist. Sie ist immer sehr stolz auf ihn und genießt ihre gesellschaftliche Stellung .Dadurch hatte sie die Chance erhalten, bei einer Golf- und Tennisfreundin in der Agentur tätig zu sein. Alles perfekt in all den Jahren.

Anna-Margaretha wischt sich ein paar Tränen aus den Augen und tätschelt seine Hand. „Ausgerechnet über Arbeit definiert sich die heutige Gesellschaft. Arbeit, die immer knapper wird.“ Sie räuspert sich. „Ihrer Frau sollten Sie alsbald reinen Wein einschenken.“
Er nickt. „Und ab diesem Tag werde ich den Wein abends alleine trinken. Oder das Wasser.“ Dirk lacht und verzieht aber anschließend die Mundwinkel nach unten.
Anna-Margaretha zwinkert ihm zu: „Wenn Sie Lust haben, ihre Vormittage sinnvoll zu gestalten, dann kommen Sie doch mal bei `Gedeckter Tisch´ vorbei. Wir sammeln nicht benötigte Lebensmittel von Supermärkten und Restaurants ein. Davon kochen wir jeden Mittag für Bedürftige.“
„Ich kann nicht kochen.“
„Wir bräuchten einen, der rechnen und organisieren kann. Bezahlen können wir aber nichts. Im Büro gibt es so viel zu tun. Und auch sonst wächst uns die Arbeit oft über den Kopf.“ Sie sieht auf den Boden und zeigt auf eine Karawane emsiger Waldameisen.

***

`Pah! So weit soll es mit ihm gekommen sein, dass er ehrenamtliche Arbeit annehmen sollte? Nein! Das ist nur etwas für Menschen, die überhaupt keine Perspektive haben oder für grüne Witwen, die sich in ihren Vorort-Reihenhäusern langweilen.´
Marion stoßt die Tür auf und wirft ihre Handtasche auf das Ledersofa. Sie streift die Schuhe von den Füßen und setzt sich aufstöhnend neben Dirk. Dann legt sie die Beine über seine Oberschenkel. „Du könntest deiner Frau ruhig mal die müden und brennenden Füße massieren.“
Er legt die Zeitung beiseite. „Seit wann werden in der Agentur deine Füße beansprucht, wenn du den ganzen Tag am Computer sitzt?“
Sie springt abrupt hoch. „`ne lange Präsentation vielleicht?“ Marion rafft ihre Tasche und die Schuhe zusammen. Danach geht sie ins Bad.

Dirk nutzt die Zeit und liest den Brief von der Agentur für Arbeit. Sie schlagen ihm vor, zu einem Profiling zu erscheinen. Als er hört, wie das Badewasser im Abfluss gluckert, verstaut er schnell das Schreiben im Schreibtisch. Für diese Zustellungen hatte Dirk ein Schließfach bei der Post angemietet. Selbstverständlich hatte er bei der Arbeitsagentur die Rufnummer seines handys angegeben und für das Arbeitslosengeld ein separates Konto eingerichtet. Obwohl letzteres überflüssig gewesen wäre, da Marion sich nie um die Kontostände gekümmert hatte. Schließlich besaß sie ihr eigenes Gehaltskonto und konnte mit diesem Geld machen, was sie wollte. Er war nie auf ihr Gehalt angewiesen gewesen.

Marion erscheint im Badmantel. Verführerisch hat sie ihn am Dekolleteè offen gelassen und umarmt Dirk: „Schon wieder an der Arbeiten?“ Sie nimmt seine rechte Hand und führt sie in ihren Ausschnitt. Er zieht sie zurück. „Mir ist nicht danach.“
„Seit Wochen ist dir nicht danach!“ Marion bückt sich, zieht ihren Fellpantoffel vom Fuß und schleudert ihn auf Dirk. „Denkst du etwa, für mich ist es immer einfach? Ich habe auch meine Sorgen!“ Sie läuft die Treppen hoch ins Schlafzimmer.

Er lässt sich auf den Schreibtisch-Stuhl fallen, lehnt sich nach hinten, verschränkt die Hände hinter dem Kopf und beginnt zu wippen. `Marion und ihre Sorgen, die sie quälen. Welche Nagellack-Farbe ist passend? Lieber Versage oder Chanel? Aschblonde Tönung oder honigblonde Färbung? Frau muss ja `in´ sein. Wie ihre Freundinnen vom Golf- und Tennisclub.´

Dirk reckt sich, gähnt, und geht rauf ins Schlafzimmer.
„Liebst du mich überhaupt? Mich – nur den Menschen. Ohne all das Drumherum“, fragt er seine Frau.
„Ja.“ Flüstert Marion und küsst ihn auf den Bauchnabel.

***

„Herzlich willkommen bei `Gedeckter Tisch´! Schön, dass Sie es sich überlegt haben. Wetten?“, Anna-Margaretha nickt Dirk augenzwinkernd zu, „du hast gedacht, dass ehrenamtliche Arbeit nur was für Gescheiterte und Gelangweilte ist. Stimmt `s? Übrigens duzen wir uns hier.“
Er nickt und spürt, wie eine leichte Rötung sein Gesicht überzieht.
Sie zeigt ihm das Büro und eine Buchhaltung, die den Namen nicht verdient. Er verspricht, Ordnung ins Chaos zu bringen und versichert, dass dann aber seine Tätigkeit hier beendet sei. Vielleicht ein oder zwei Tage, um die Leute einzuweisen.
„Einverstanden!“, jubelt Anna-Margaretha und bekräftigt das mit einem Handschlag.
Also beginnt Dirk, die Quittungen zu sortieren.

Plötzlich wird die Tür aufgerissen. „Anna! Wenn es heute Kartoffelsalat geben soll, weil so viele Gurkengläser gespendet wurden, dann brauche ich auch Kartoffeln!“
„Marion?“
„Dirk?“ Sie fährt sich verlegen mit der Hand durch das verschwitzte Haar und lässt das Küchentuch fallen.
Anna-Margaretha zupft an Dirks Hemdsärmel. „Dirk! Steh nicht wie angewurzelt rum! Die Kartoffeln müssen abgeladen werden. Könntest du bitte kurz auf dem Hof mit anpacken?“
Sie tätschelt Marion auf die Wange. „Aufwachen! Auch wenn er dir gefällt. Ein Heimatloser. Den habe ich im Wald gefunden.“ Die alte Dame lacht, bückt sich, hebt das Küchentuch auf und drückt es Marion in die Hand.
„Im Wald?“ Marion presst sich das Tuch vor die Brust.

Dirk setzt sich hinter den Schreibtisch und stützt den Kopf zwischen die Hände. „Du solltest nicht wissen, dass mir gekündigt wurde. Da habe ich meine Zeit im Wald verbracht. Manches Mal auch im Stadtpark.“
Marion schaut zu Boden. „Und die Agentur hat im März dicht gemacht. Auftragsflaute.“ Sie sieht hinüber zu Anna-Margaretha und lächelt, „aber hier gefällt es mir gut. Unbezahlt zwar, aber sinnvoll.“

Die alte Dame fasst unter Dirks Kinn und zieht seinen Kopf hoch. „In der Bank stehen jetzt Automaten. Mit denen komme ich überhaupt nicht zurecht. Ein Skandal, dass die das ihren Kunden zumuten!“ Sie öffnet die Bürotür. „Nun aber ran an die Kartoffeln! Es gibt viel zu tun. Machen wir es den fleißigen Waldameisen nach!“
`Zufälle gibt es´, dachte Anna-Margaretha im Hinausgehen.

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