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Juni 2005
Der Henker
von Albertine Sprandel

„Viktor, ich habe dich kommen lassen.“
Graf Friedeman von Stutenhagen saĂź auf einem hohen Holzstuhl am hinteren Ende des Saals.
„Ja, Herr.“ Das Licht aus dem Seitenfenster brach sich am Siegelring des Grafen und blendete Viktor.
„Ich brauche deine Dienste nicht länger.“
Es war als ob ein Felsbrocken auf Viktors Kopf herunter krachte.
„Herr, seid Ihr nicht zufrieden? Ich habe immer alles nach Eurem Wunsch ausgeführt! Ihr wolltet, dass der letzte Wille des Verurteilten erfüllt wird, deswegen durfte der Rebell von gestern seine Hymne singen.“
„Still. Dein Handwerk wird nicht mehr verlangt.“
„Wie wollt Ihr dann die Verurteilten beseitigen?“
„Schweig. Zweifle nicht an meinem Entschluss.»
Viktor verbeugte sich. Er wusste, dass er jetzt den Saal verlassen musste. Draußen standen mindestens zwanzig andere Bedienstete, um von dem Grafen und Richter von Stutenhagen neue Anweisungen zu erhalten. Aber Viktor musste herausfinden, warum seine Dienste plötzlich nicht mehr gefragt waren. Martha, seine Frau, würde kreischen, wenn er nicht einmal eine Erklärung mit heimbrachte.
Viktor ging rückwärts zum Ausgang. Bevor er die Tür zum Vorraum erreichte, hörte er den Diener dort rufen: „Der Graf zieht sich für heute zurück!“
Viktor musste mehr erfahren.
„Herr Richter, erlaubt mir eine Frage: wer wird Henker in der Grafschaft?“
„Hast du es immer noch nicht begriffen?“, herrschte ihn der Graf an. „Ab sofort gibt es in der Grafschaft Stutenhagen keine Hinrichtungen mehr.“
„Ja“, Viktor zuckte zusammen, drehte sich um und schritt schnell aus dem Raum. Durch das Foyer zur Treppe in den Hof.
Der Gefängnisdirektor kam ihm entgegen. Viktor kannte ihn gut. Er könnte ihm Auskunft geben.
„Viktor, ich habe keine Zeit, ich muss zum Grafen!“,
rief der Direktor im Vorbeigehen.
„Herr Direktor, wartet!“, antwortete Viktor und eilte hinter dem Freund her. „Wo werden die Hinrichtungen stattfinden, wenn nicht in Stutenhagen?“
„Hat er es dir nicht gesagt? Unser Graf und Richter verhängt keine Todesurteile mehr. Die Gräfin kann Hinrichtungen nicht mit ansehen. Sie ist ein zartes besaitetes Geschöpf. Ich muss zu ihm. Wir bauen das Gefängnis aus.“

„Ahhhhhh“, Martha schrie und schluchzte. „Was sollen wir tun!? Die Kinder brauchen neue Kleider, die Kohlen für den Winter sind noch nicht bezahlt.“
„Ich ...“
„Sag nichts. Mein Mann, der Henker arbeitslos. Wo hat es so etwas schon einmal gegeben?“
„Ich su ...“
„Ahhhh. Du kannst nichts anderes. Wo willst du Arbeit finden?“
„Ich suche.“
„Dass du mir ja mit Geld zurückkommst! Drei Silberlinge.“

Viktor hockte am Straßenrand. Er würde Arbeit finden. Gute Arbeit. Er dachte an die vielen Männer in Stutenhagen, die seit Jahren nur noch gelegentlich Geld verdienten.
Sie vertrieben sich den ganzen Tag in der Kneipe.
Früher sagte Viktor: ‚Das geschieht mir nie. Ich bin Henker. Verbrecher wird es immer geben. Hinrichtungen sind in unruhigen Zeiten wichtig für die Moral.’
Er konnte seine Frau stolz machen. Seine Kinder waren anständig gekleidet und manchmal spendierte er ihnen eine Karussellfahrt auf dem Jahrmarkt. Deswegen hatte Martha ihn geheiratet. Weil er einen sicheren Beruf hatte.
Viktor betrachtete den Staub auf seinen Schuhen. Wo könnten seine Dienste gefragt sein?

„Was willst du?“ Der Pferdedoktor war ein grober Mann. Hände wie ein Metzger. Er trocknete sie mit einem schmutzigen Leinentuch ab. „Ich muss zum Grafen. Ein Pferd lahmt.“
„Doktor, ich suche Arbeit.“
„Was kannst du?“ Der Doktor hörte auf, seine Hände zu trocknen und betrachtete Viktor. „Ich kenne dich irgendwoher.“
„Ich lebe seit ich denken kann in Stutenhagen. Vielleicht sind wir uns dort schon einmal begegnet.“ Wenn der Doktor ihn erkannte, dann würde er ihn sicher ablehnen.
Viktor fügte hinzu: „Ich kann alle Hilfstätigkeiten. Ich kann Blut sehen, ich kann saubermachen, ich kann ...“ den Gnadenstoß geben, wollte er sagen. Stattdessen blickte er zu Boden.
„Saubermachen. Pah. Ich brauche keinen Nichtsnutz, der nur Blut sehen will. Jetzt weiß ich auch, woher ich dich kenne: du bist der Henker. Einen Henker, der entlassen wurde, brauche ich nicht.“
„Aber ...“
„Scher dich zum Teufel!“

Als nächstes ging Viktor zum Advokaten. Tintoretto verfasste Schriftstücke für die Reichen, die noch reicher werden wollten. Damit verdiente er viel Geld. Die Verbrecher, die der Graf verurteilte, bekamen keinen Anwalt.
„Herr Advokat Tintoretto, ich suche Arbeit.“
„Und?“
„Ich suche Arbeit.“
Tintoretto schaute nicht einmal auf.
„Ich meine, werter Herr, ich dachte mir, da ich das Recht kenne, könntet Ihr vielleicht einen Gehilfen – will sagen einen Helfer – brauchen. Vielleicht habt Ihr Probleme mit der Zahlungsmoral der Klienten?“
Der Advokat brach in Gelächter aus. Wie lange dieser hagere Mann mit dem Tintenfleck an der Seite des Zeigefingers lachen konnte. Pfui, zum Henker mit den Studierten. Viktor würde sein Glück bei seinesgleichen suchen.
Nach Hause gehen, konnte er nicht. Obwohl es schon Abend wurde. Erst musste er Arbeit finden. Da kam ihm eine Idee.

Keiner baute so schöne Galgen wie er, Viktor. Seine Galgen waren weit über die Grafschaft Stutenhagen hinaus bekannt. Früher, in guten Zeiten, wurde er sogar in anderen Grafschaften gerufen, nur um das Schafott zu bauen.
Also konnte er den Schreiner nach Arbeit fragen. Der wohnte nicht weit von Viktors Haus und arbeitete oft bis in die Nacht in seiner Werkstatt, das wusste Viktor.
„Hallo Fritz!“
„Was machst du hier?“
Der Schreiner schien in einer anderen Welt zu leben. Wie ein KĂĽnstler. Seine Frau war vor Jahren mit den drei Kindern weggegangen. Warum, wusste keiner.
„Ich wollte dich besuchen.“
„Das ist ja etwas ganz neues. Du hast mich noch nie besucht.“
„Ach du weißt ja wie das ist. Die Arbeit und die Familie. Ständig Sorgen.“
„Naja, eine Sorge bist du nun los.“
Er wusste es schon? Wusste es nun bereits die ganze Grafschaft?
„Fritz, ich kann mit Holz umgehen. Wer Galgen bauen kann, kann auch Bettgestelle bauen.“
Fritz betrachtete ihn nachdenklich. Fast freundlich und verständnisvoll.
„Du tust mir leid. Ohne Hinrichtungen bist du arbeitslos. Als Henker will dich keiner in seiner Nähe haben. Wie hält das Martha nur aus?“
„Fritz. In der Schule waren wir Freunde. Lass mich für dich arbeiten. Bitte. Die Kinder brauchen etwas zu essen. Martha hat sich schon seit drei Jahren kein neues Kleid genäht.“
„Bei uns allen gehen die Geschäfte schlechter. Ich kann nichts für dich tun. Grüß Martha von mir.“

Wie ungerecht war die Welt.
Viktor verkroch sich in die kleine Scheune hinter dem Haus seines Vaters. Der Platz, den er als Junge nach den Hieben seines Vaters oder den Schlägen seines Onkels gefunden hatte.
Sein Vater war auch schon Henker gewesen. Bei ihm hatte Viktor gelernt. Nach seiner Heirat übertrug der Vater ihm das Amt. Von da an war Viktor der einzige Henker von Stutenhagen. Damals lebte der alte Graf noch und verurteilte gnadenlos. Viktor verdiente gut. Schöne Zeiten. Mit dem jungen Grafen wurden die Zeiten schwieriger.
Jetzt wurde er gar nicht mehr gebraucht. Er war nutzlos. Und etwas anderes konnte er auch nicht. Mit jedem Gedanken stieg Viktor in der Scheune auf dem Heu höher hinauf.
Sein Vater tĂĽrmte die Heuballen immer treppenartig, da er alles von Hand einbringen musste. Sein Vater machte es richtig. Im Alter lebte er von der Landwirtschaft. Die wĂĽrde der Bruder erben. Viktor hatte nichts auĂźer seinem Beruf. Wieder ein Schritt weiter. Dann war er oben. Seine GefĂĽhle ganz unten.
Er setzte sich auf einen schrägen Balken, der die Dachkonstruktion hielt. So hatte er als Knabe immer gesessen. Nur musste er sich jetzt in das Dreieck ducken. Er saß in der Schräge wie in einem Galgen und baumelte mit den Beinen. Hin und her, ein Schubs gegen das Heu. Es war durch den Aufstieg locker geworden. Es wackelte. Alles, was der Vater aufgetürmt hatte, stürzte zusammen. Flog durch den ganzen Raum. Blieb vereinzelt liegen. Viktor sah tief unter sich den harten Scheunenboden durchblitzen.
„Hallo?“, rief Viktor.
Der Vater kam nicht. Er war auf dem Feld. Was fĂĽr ein GlĂĽck. Der Vater sollte ihn so nicht sehen. Viktor dachte nach.
Eine Nachbarin schaute herein.
„Wieso hängst du da oben? Junge! Es gibt keinen Grund aufzugeben! Du gottloser Kerl, denk an deine Frau und Kinder. Welch eine Schande.“ Schimpfend rannte sie aus der Scheune.
„Ich wollte das nicht, das ist ein Versehen.“ rief Viktor ihr hinterher.
Andere Nachbarn kamen.
„Ruf den Vater!“ „Ruf die Martha.“
„Verschont sie, sie muss schon soviel durchmachen.“
„Martha bringt ihn zur Vernunft.“
„So ein verrückter Kerl. Will sich erhängen, seinem Beruf die letzte Ehre erweisen.“
„Kannst den Hals wohl nicht voll kriegen?“
„Ist erst ein Tag ohne Arbeit und schon ein Häufchen Elend.“
„Was sollen wir da sagen? Ich bin seit drei Jahren ohne Einkommen.“
„Meinen Bruder hast du gehängt! Schon vergessen?“
„Der gute Graf schafft die Todesstrafe ab, unsere Frauen und Mütter müssen nicht mehr jammern und schreien, wenn einer von uns wegen Diebstahl zum Tode verurteilt wird, und der da will das Handtuch schmeißen!“
„Ach was, lass ihn doch; hat er verdient.“

Immer mehr Menschen kamen zusammen. Viktor sah, wie sie ihre Köpfe nach hinten beugten und ihre Mäuler aufrissen.
„Lasst ihn hängen! Er hat es verdient.“
„Er legte meiner Schwester die Schlinge um den Hals.“
„Er stieß meinem Vater den Schemel unter den Füßen weg.“
„Wir fordern die Todesstrafe.“
„Wir fordern seinen Tod.“
Auf ein Mal wurde es still. So still wie bei einer Hinrichtung, wenn der Graf das Zeichen zur Vollstreckung gab.
Die Menge teilte sich. Viktor hörte jemanden vor der Scheune vom Pferd steigen.
Er konnte nicht springen, das bräche ihm das Genick. Er konnte nicht durch das Dach fliehen und er konnte sich nicht am Balken bis zum Heu hangeln.
„Macht Platz!“ riefen die Menschen.
Es war nicht der Graf. Es war die Gräfin. Wie schön sie war. Schön. Dieses einfache Wort. Und jung. Ein Kind.
An ihrer Seite zeterte Martha. GebĂĽckt. In ihrem geflickten Rock sah sie aus wie eine Hexe.
„Ich will hier runter!“ rief Viktor. „Zum Henker mit dem Heu. Es ist abgerutscht. Ich will hier runter!“ Mit ruhiger Stimme redete er weiter:
„Entschuldigt, Gräfin, hohe Herrin, das ist alles ein Versehen.“
Der, der vorhin am lautesten war, keuchte von hinten: “Seht Ihr, wie weit es bei uns kommt? Ihr stürzt arme, brave Leute ins Verderben mit Eurem neuen Recht!“
„Hängt ihn!“ schrieen die anderen Menschen.
„In der Grafschaft Stutenhagen wird es keine Hinrichtungen mehr geben.“, sprach die Gräfin. „Schafft mehr Heu unter den Mann. Damit er springen kann.“ Ihre helle Stimme brachte das Gezeter zum Schweigen.

Viktor sprang. Nicht einfach so. Das konnte er nicht.
Die Scheune hatte er selbst mit seinem Vater gebaut. Damals lehrte sein Vater ihn das Galgenbauen. Er sagte: „Siehst du, diese Verbindung trägt das Dach der Scheune und die Schlinge, die dich ernährt.“

Viktor ließ sich langsam vom Balken gleiten und hielt sich nur noch mit den Händen fest. Einen Moment blieb er bewegungslos. Ja, die Menschen waren gebannt. Er schwang hin und her bis er genug hatte. Er begann mit einem Salto und landete nach einer dreifachen Schraube am Boden. Er stand sofort auf den Beinen, breitete die Arme aus, lächelte und verbeugte sich. Die Meute klatschte. Viktor verbeugte sich noch ein Mal. Er hätte jubeln können. Der Henker von Stutenhagen hatte einen neuen Beruf gefunden!
„Wollt ihr mehr Kunststücke sehen? Dann kommt morgen Abend auf den Marktplatz. Bringt einen Taler mit und ihr werdet Viktor auf dem Galgen tanzen sehen!“

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