Der Cousin im Souterrain
Der Cousin im Souterrain
Der nach "Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten" zweite Streich der Dortmunder Autorinnengruppe "Undpunkt".
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Juni 2005
Die Alternative
von Marion Pletzer

„Mama, stell dir vor, ich kann einen Job bekommen“, rief ich. Meine Mutter unterbrach ihre BĂŒgelarbeit und sah mich erfreut an.
„Wirklich, SchĂ€tzchen? Das ist ja großartig. ErzĂ€hl doch.“
Ich wedelte ihr mit einem Prospekt vor der Nase herum.
„Schau mal, diese Leute suchen eine ausgebildete Pferdefachkraft, die sich um den Reitbetrieb auf ihrer Farm kĂŒmmert und die Touristen auf ReitausflĂŒgen begleitet. Klingt doch toll, oder?“
„Farm? Touristen? Wo soll denn das sein?“, fragte meine Mutter leicht irritiert.
„In Australien“, murmelte ich und duckte mich in Erwartung einer heftigen Reaktion, die auch prompt auf mich niederging.
„In Australien? Petra, bist du verrĂŒckt? Du kannst doch nicht alleine so weit weggehen. Du bist erst Anfang zwanzig. Das ist viel zu gefĂ€hrlich.“
„Aber Mama, du weißt, wie lange ich hier schon nach einer Arbeit suche. Ich finde einfach nichts. Ich bin es leid, stĂ€ndig vom Arbeitsamt vertröstet zu werden und will nicht lĂ€nger von deinem Geld leben. Was glaubst du, was ich dort alles lerne? Mit diesen Erfahrungen finde ich spĂ€ter auch hier einen guten Job. Auslandserfahrung zieht. Außerdem wĂ€re es zunĂ€chst nur fĂŒr ein Jahr“, beharrte ich. Je mehr ich darĂŒber nachdachte, desto reizvoller fand ich die Idee. Im Geiste sah ich mich schon mit Cowboyhut und Lederchaps durch den australischen Busch reiten.
„Meine GĂŒte – Australien. DarĂŒber reden wir noch“, erwiderte meine Mutter kopfschĂŒttelnd und zerrte mit verkniffenem Gesicht eine Bluse aus dem WĂ€schekorb. Sie spĂŒrte anscheinend, dass meine Entscheidung bereits gefallen war.

Voller Vorfreude und trotzdem schweren Herzens drĂŒckte ich meine Mutter am Flughafen zum Abschied ganz fest. TrĂ€nen liefen uns ĂŒber das Gesicht und wir schnieften und lachten gleichzeitig.
„Mach’s gut. Ein Jahr geht so schnell vorbei. Ich melde mich“, sagte ich.
„Pass auf dich auf, SchĂ€tzchen. Ruf an, wenn du angekommen bist und schreib so oft es geht.“
„Na klar.“ Ich ging durch die Passkontrolle, drehte mich um und winkte ihr zu.
„Achte auf die Sonne“, hörte ich meine Mutter noch rufen.
Ich atmete tief durch. Nun begann ein neuer Lebensabschnitt.

Einen Tag spĂ€ter stand ich ĂŒbermĂŒdet am Flughafen von Melbourne und wartete auf meinen neuen Arbeitgeber. Die Sonne knallte von einem strahlend blauen Himmel und ich kniff die Augen zusammen. Erschöpft setzte ich mich auf meinen Koffer und wartete.
Plötzliches Hupen ließ mich erschreckt zusammenfahren.
„Hallo, Germany? Petra Kaiser?“ Ein junger Mann, dessen braungebranntes Gesicht unter einem speckigen Schlapphut hervorlugte, lehnte aus dem Fenster eines riesigen Pick-up.
Ich nickte.
„Mein Name ist Harold Benson. Warte, ich helfe dir.“ Er stieg aus, warf meinen Koffer auf die LadeflĂ€che und öffnete mir die BeifahrertĂŒr.
Dankbar sank ich auf den bequemen Sitz und wir fuhren sofort los.
Harold erzĂ€hlte, dass die Wallaby-Farm, benannt nach einer kleinen KĂ€nguruart, etwa 300 Meilen westlich von Melbourne lag. Er bewirtschaftete sie zusammen mit seiner Frau Connie und seinen Eltern Joan und Henry. Da die Schafzucht zum Leben nicht mehr reichte, verdienten sie sich zusĂ€tzliches Geld mit dem Tourismus. Er plapperte unentwegt weiter, aber ich verstand nur die HĂ€lfte von dem, was er sagte. Der Intensivkurs, mit dem ich meine Englischkenntnisse aufgefrischt hatte, half mir nicht besonders bei dem breiten australischen Dialekt, der anscheinend hier gesprochen wurde. Ich lehnte mich zurĂŒck und Harolds Stimme verschwamm allmĂ€hlich zu einem gleichmĂ€ĂŸigen Gemurmel, wie ein im Hintergrund laufendes Radio. Der Flug und die Hitze taten ihr ĂŒbriges und so verschlief ich den Großteil der langen Fahrt.

Die Farm, ein lang gezogenes Holzhaus mit anliegenden StallgebĂ€uden und einer Scheune, lag mitten im Busch. Den nĂ€chsten, kleinen Ort erreichte man in ungefĂ€hr einer Autostunde. Harolds Familie empfing mich herzlich und bemĂŒhte sich, mir die Eingewöhnung so leicht wie möglich zu machen. Obwohl ich körperliche Arbeit gewohnt war, setzten mir die klimatischen Bedingungen zu. Temperaturen ĂŒber 40 Grad gehörten zum Alltag, dazu blies oft ein heißer Wind, so dass ich mir vorkam wie in einem Hochofen.
Abends fiel ich wie ein Stein ins Bett und selbst eine Bombe hÀtte mich nicht mehr wecken können.
Die Wochen vergingen, ich gewöhnte mich an den anderen Lebensrhythmus und das Land faszinierte mich von Tag zu Tag mehr. Auf ausgedehnten Ritten durch die Steppenlandschaft bekam ich ein GefĂŒhl fĂŒr die ungeheure Weite, die auf einen an die Enge gewöhnten MitteleuropĂ€er fast beĂ€ngstigend wirkte.
Doch nirgends erschien mir der Himmel so greifbar nah wie hier, nirgends fĂŒhlte ich mich so eins mit der Natur und gleichzeitig so abhĂ€ngig von ihr. Immer hĂ€ufiger beschĂ€ftige mich der Gedanke, lĂ€nger zu bleiben als das geplante Jahr.

Bereits lange vor meiner Ankunft war der letzte Regen gefallen. Jeder Tag brachte Sonne und ließ das spĂ€rliche Gras verdorren. Alle waren besorgt, fĂŒrchteten die BuschbrĂ€nde, die so manchen Haus und Hof, sogar das Leben kosteten.

Eines Mittags, wir saßen beim Essen, ertönte eine Stimme aus dem FunkgerĂ€t:„Lima, Whiskey, Bravo ruft Alpha, Zulu, Tango!“ Am Tisch war es still geworden. Henry blickte Joan kurz an und lief ins Wohnzimmer. Er meldete sich:„Hier Alpha, Zulu, Tango, ich höre.“ Die Stimme aus dem FunkgerĂ€t drang jetzt nur undeutlich zu uns, obwohl wir mucksmĂ€uschenstill waren und gebannt zuhörten.
Henry beendete das GesprÀch und informierte uns kurz.
„Es brennt etwa 50 Meilen sĂŒdlich von hier. Komm Harold, die Löschmannschaft wartet an der Hauptstraße.“ Sie nahmen Hut und Jacke vom Haken und verschwanden durch die TĂŒr. Erst als sich das MotorengerĂ€usch des Pick-Up langsam entfernte, kam Leben zurĂŒck an den Tisch.
Joan sprang auf und eilte ins Schlafzimmer, um fĂŒr den Notfall das Wichtigste einzupacken. Connie rannte nach draußen und ließ die Tiere frei, damit sie sich selbst in Sicherheit bringen konnten.
Ich folgte Joan ins Schlafzimmer.
„Kann ich dir helfen oder soll ich nach draußen gehen? “, fragte ich.
„Hier drinnen gibt es nichts weiter zu tun. Komm mit raus, wir mĂŒssen das Haus und die Stallungen wĂ€ssern, damit sie den Flammen lĂ€nger standhalten können“, erwiderte Joan.
„Glaubst du, das Feuer kommt bis hierher?“, fragte ich besorgt.
„Wir werden sehen. Beeinflussen können wir sowieso nichts.“
Wir begaben uns ins Freie. Mit SchlĂ€uchen bespritzen wir die DĂ€cher von Scheune und Wohnhaus. Die Wassertanks leerten sich zusehends. Hier draußen gab es leider keine bequeme stĂ€dtische Wasserversorgung. Wir waren darauf angewiesen, was die Pumpen zu Tage förderten. In der Trockenzeit reichte es gerade so. Das bedeutete in der nĂ€chsten Zeit strenge Rationierung. Ich stöhnte. Die geliebte, tĂ€gliche Dusche konnte ich vorerst vergessen.

Laut den neuesten Funkmeldungen fraß sich das Feuer immer weiter in unsere Richtung. Ich malte mir aus, wie viele Tiere den Flammen bereits zum Opfer gefallen sein mussten und schĂŒttelte mich. Was fĂŒr ein schrecklicher Tod.
Die Szenerie wirkte gespenstisch. Die Luft, sonst erfĂŒllt vom Geschrei zahlreicher Papageien, war still. Der Wind wehte Asche herĂŒber und den Geruch von Rauch.

Die Stunden vergingen quĂ€lend langsam. DĂ€mmerung zog auf. Die Nacht verstĂ€rkte auch unsere Angst. Da das Feuer immer nĂ€her rĂŒckte, beluden wir den Lastwagen. Nervös rannte ich auf und ab und wĂ€re am liebsten auf der Stelle losgefahren.
Doch in Joans und Connies angespannten Gesichtern sah ich, dass sie bis zuletzt ausharren wĂŒrden. Mir blieb nichts anderes ĂŒbrig, als auf ihre Erfahrung zu vertrauen.
Ich stand in der TĂŒr und starrte auf den Feuerschein, der wie ein rotes Band am Horizont entlang lief. Trotz der Hitze fröstelte ich und schlang die Arme um meinen Oberkörper.
„Hoffentlich konnten die Tiere sich in Sicherheit bringen. Noch ein so herber Verlust wie im letzten Jahr bricht uns den endgĂŒltig Hals.“ Connies Stimme klang resigniert.
„Kopf hoch. Wir haben schon anderes ĂŒberstanden. Beten wir dafĂŒr, dass die MĂ€nner heil nach Hause kommen.“ Joan tĂ€tschelte ihr beruhigend die Hand. Immer wieder schauten wir zum FunkgerĂ€t. Alles blieb still.

Dann endlich gegen Mitternacht die erlösende Durchsage. Der Brand konnte unter Kontrolle gebracht werden. Entwarnung!
Erleichtert fielen wir uns in die Arme. An Schlaf war in dieser Nacht nicht mehr zu denken.

Am anderen Morgen fuhr ich mit Harold das Land ab, um nach verletzten Tieren Ausschau zu halten und das Ausmaß der Zerstörung abzuschĂ€tzen.
Was ich sah, erschreckte mich zutiefst. Wie viele Tiere und Pflanzen in den Flammen umgekommen waren, ließ sich nur erahnen. Verbrannte Erde, soweit das Auge reichte.
Hier und da stieg noch leichter Rauch auf. Es schien, als gĂ€be es weit und breit kein FĂŒnkchen Leben mehr.

„Wie ertragt ihr das? Diese stĂ€ndige Unsicherheit – nicht zu wissen, ob ihr Morgen noch genug zum Leben habt. Oder ob euer Haus noch steht?“
Harold zuckte mit den Schultern.
„Die BrĂ€nde sind eine Gefahr fĂŒr unsere Existenz, aber ein Segen fĂŒr die Vegetation. Das Feuer reinigt. Siehst du die wie tot wirkenden EukalyptusbĂ€ume? Aus den verbrannten StĂ€mmen wĂ€chst schon bald neues, frisches GrĂŒn. Es mag merkwĂŒrdig fĂŒr dich klingen, doch nur auf diese Weise können die BĂ€ume ĂŒberleben. Auch der Boden wird sich rasch erholen und neuen Lebensraum bieten. “ Er machte eine kurze Pause.
„Weißt du, wir lieben dieses Land. Es schenkt uns nichts, aber gibt uns doch alles, was wir brauchen. Daher fangen wir, wenn nötig, immer wieder neu an.“
Harolds Worte machten mich nachdenklich. Mir wurde klar, dass ich so nicht leben könnte. Die Idee, meinen Aufenthalt zu verlÀngern, verflog wie die Asche um uns herum. Das Leben in Deutschland war trotz drohender Arbeitslosigkeit und Geldmangel berechenbarer.
„Eine bewundernswerte Einstellung. Aber nichts fĂŒr mich. Trotzdem bin ich dankbar fĂŒr diese Erfahrung. Sie hat meinen Blickwinkel verĂ€ndert.“
Harold nickte, wir lĂ€chelten uns an und fuhren zurĂŒck zur Farm.

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