Der himmelblaue Schmengeling
Der himmelblaue Schmengeling
Glück ist für jeden etwas anderes. Unter der Herausgeberschaft von Katharina Joanowitsch versuchen unsere Autoren 33 Annäherungen an diesen schwierigen Begriff.
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August 2005
Janes Schlüsselerlebnis
von Ulrike Lauterberg

Jane war erschöpft und müde. Sie hätte gerne ihre Ruhe gehabt, doch der Taxifahrer redete und redete ohne Ende. Seit fünf Uhr war sie auf den Beinen; jetzt war es bereits nach Mitternacht.
Jane wollte nur noch nach Hause und in ihr Bett.
Eine ruhigere Heimfahrt hätte sie vielleicht gehabt, wenn ihr die letzte U-Bahn nicht direkt vor der Nase weggefahren wäre. Das konnte nur geschehen, weil der Zug, mit dem sie aus Dortmund zurückkam, Verspätung hatte.
Während Jane im strömenden Regen von der U-Bahnstation zum Taxistand lief, dachte sie an ihren Sohn Kai und hoffte, dass er daran gedacht hatte den Wäscheständer vom Balkon reinzuholen. Sie hatte es nicht immer leicht als allein erziehende Mutter eines Dreizehnjährigen und war froh, dass morgen Sonntag war. Ausschlafen und ein gemeinsames Frühstück mit Kai, darauf freute sie sich.

Endlich hielt das Taxi vor ihrem Haus.
Jane rannte durch den strömenden Regen und prallte gegen die Eingangstür. Die gab nicht wie sonst einem einfachen Druck nach, sondern war seit einiger Zeit nachts abgeschlossen. Das hatte sie vergessen.
Hastig wühlte sie in ihrer Tasche nach dem Hausschlüssel - ohne Erfolg.
“Wo kann der nur sein?”, überlegte sie. “Ach, ja! Kurz nachdem ich mich von Kai verabschiedet hatte, rief ich ihm von der Wohnungstür aus noch einmal zu: ‚Bis heute Abend und nicht zu lang fernsehen.’ Die Tür schlug ins Schloss und der Hausschlüssel blieb unbemerkt auf dem Telefontischchen liegen.” – “Na prima!”, murmelte sie.
Dreimal drückte Jane den Klingelknopf. Vergebens wartete sie darauf, dass Kai ihr öffnen würde. Jane drückte ihre Nase an die Glastür und visierte die Fußmatte vor ihrer Wohnungstür an, unter der ein Ersatzschlüssel lag.

”L. Krüger, Eveline Lemke, K. Scheuer,” - las Jane auf der Klingelleiste die Namen ihrer Nachbarn, während sie überlegte, wen sie wecken könnte.
Zögernd blickte Jane zu den unbeleuchteten Fenstern hoch. Oder ob es noch eine andere Lösung gab? ” Ja, das Fenster” ,dachte sie laut und machte sich auf den Weg durch den Garten, zur linken Hausseite hinüber. Es war so dunkel, dass nur schemenhaft Büsche und Blumen zu erkennen waren. Jane tastete sich an der Wand entlang bis zu Kais Fenster. Energisch klopfte sie an den heruntergezogenen Rollladen. Ein Hund bellte. Doch Kai rührte sich nicht. Mit zusammengepressten Lippen zog sie an dem schweren Rollladen und schob ihn so weit wie möglich nach oben. Während sie energisch an die Scheibe klopfte, rief Jane: ”Kai! Ich bin’s, mach auf! Hörst du? Kai?” Doch sie erhielt keine Antwort. Stattdessen sah sie plötzlich Licht in einem Fenster im ersten Stock.
Vor Schreck ließ sie den Fensterrollladen fallen und klemmte sich den Ringfinger ein.
“Verflixt” ,schnaufte sie und schob den Finger zwischen die Lippen. Der Geschmack von Eisen breitete sich auf der Zunge aus. Der Finger blutete.
Die Handtasche rutschte ihr von der Schulter und fiel ins Blumenbeet.
Wieder bellte ein Hund, jetzt sehr nahe.
Jane erinnerte sich an ein sehr unangenehmes Erlebnis mit einem Rottweiler. Das ließ ihr Herz schneller schlagen, denn ihre Angst vor Hunden hatte sich seit diesem Vorfall zu einer Phobie entwickelt.
”Hallo! Ist da wer?”, rief jemand und Jane erkannte die Stimme ihres dickbäuchigen Nachbarn, der einen grauen Pitbull besaß. Nie hatte sie ihn ohne diesen Vierbeiner gesehen. Unter keinen Umständen wollte sie dem Tier mit der großen, rosa schimmernden Schnauze begegnen. Flink tastete sie im Matsch nach der Tasche, strich eine Haarsträhne aus dem Mundwinkel und tippelte eilig weiter ums Haus zum Hinterhof. Dabei passierte es. Jane stolperte und etwas rumpelte laut. Sie stürzte und schrie auf. Blinzelnd hob sie den Kopf. Vor ihr stand das Rutschauto des Zweijährigen der Familie hinten rechts.
Tief atmete sie die kalte Luft ein, während sie sich aufrappelte.
Sand knirschte zwischen ihren Zähnen.
Während der Regen weiter auf sie niederprasselte blickte sie sich ratlos um. Sie überlegte: “Seit zwei Monaten wohne ich in dieser Stadt und kenne noch keinen meiner Nachbarn mit Namen. Blöde Anonymität. Ach, was soll’s, ich werde jetzt irgendjemanden rausklingeln. Wen wecke ich? Die Nachbarn mit dem Zweijährigen oder die alte Frau, die immer keuchend jede Stufe einzeln nimmt? Ich kann nicht den Pitbullnachbarn fragen. Oh, je, aber wer ist wer?”
Jane entdeckte ein weit geöffnetes Kellerfenster. “Ich bin gerettet!”, freute sie sich und fühlte ihre Kräfte wachsen, während sie eilig darauf zulief. “Durch den Keller komme ich ins Treppenhaus und somit auch an meinen Ersatzschlüssel.”
Skeptisch betrachtete sie das kleine Fenster, das eher eine Luke war.
“Ich muss rückwärts hineinkriechen, wenn ich nicht zuerst mit dem Kopf aufkommen will.”
“Sport ist Mord” ,stöhnte sie, während sie die Beine zuerst hindurch schob. Langsam rutschte sie auf dem Bauch abwärts und klammerte sich an den Rahmen. Plötzlich hing sie fest. Sie strampelte mit den Beinen, bis sie weiter rutschte. Hinter sich hörte sie etwas zerreißen. Als ihre Füße den Boden berührten, fühlte sie ein großes Loch in der Hose.
Vorsichtig tastete Jane sich in der Dunkelheit zur Kellertür, die zum Treppenhaus führte und knipste das Licht an. Sie erblickte um sich herum mehrere Waschmaschinen und Trockner und auf Leinen hingen feuchte Bettlaken ihrer Nachbarn.
Sie drückte den Türgriff herunter und stöhnte entsetzt auf:
“Oh, nein!” Energisch rüttelte und zog sie am Griff. Ohne Erfolg.
Die Tür zum Treppenaufgang war verschlossen.
”Das ist nicht fair!”, schluchzte sie, trat sie mit den Füßen gegen die Tür und sank erschöpft in sich zusammen. Hoffnungslos blickte sie sich um.
Das Fenster war zu hoch und im Keller befand sich nichts, worauf sie sich hätte stellen können, um wieder hinauszukriechen.
“Ich friere, bin müde und ich will ins Bett.” ,wimmerte sie.
Jane wurde wütend. Stöhnend erhob sie sich vom Betonboden und lief zu den Wäschetrocknern. Aufgebracht holte sie aus der Ecke zwei deponierte Gartenstuhlauflagen heraus und legte sie aufeinander. Sie atmete hastig, als sie von der Leine zwei Bettlaken zog und in den Trockner steckte. Die zerrissene Hose, die Socken und ihren tropfenden Pulli, zerrte sie vom Körper und stopfte das zusammen in den Wäschetrockner daneben. Dass alles nicht nur triefend nass, sondern auch verdreckt war, kümmerte sie nicht.
Zitternd, in Unterhose und T-Shirt, setzte sie sich auf die Gartenauflage, aus der ein intensiver Schimmelgeruch stieg und wartete.
Die Bettlaken waren nach zehn Minuten trocken und vor allem warm. In das Eine wickelte sie sich ein und das Zweite hing sie sich um die Schultern.
Erschöpft legte Jane sich auf die muffigen Auflagen. Das leise Rumpeln des Trockners ließ Jane bald einnicken.
Plötzlich war Jane wieder hellwach. Ein anderes Geräusch hatte sie geweckt. Halb aufgerichtet lauschte sie. Es kam von der Kellertür.
Ein Schlüssel wurde im Schloss herumgedreht und die Tür sprang auf. Etwas Graues huschte hinein.
“Oh, Gott, nein! Ein Hund! Hau ab!”, schrie Jane panisch, während sie aufsprang. Ein Mann trat durch die Tür. Es war der dickbäuchige Nachbar. Unfreundlich starrte er sie an und im barschen Ton fragte er:
“Wer sind Sie? Was haben Sie hier zu suchen?”
Der Hund knurrte, während er um Jane herumsprang. Aufgeregt begann er an Janes nackten Füßen zu schnuppern.
Erstarrt vor Angst, hielt sie den Atem an. Ihr Puls raste und kalter Schweiß brach ihr aus den Poren.
Auf einmal grinste der Mann breit. Fest packte er den Hund am Halsband und zerrte ihn von Jane fort.
”Pfui, Bernie! Aus!”, rief er den Hund zur Ordnung und zu Jane gewandt sagte er:
“Ja, wie schauen Sie denn aus, gute Frau? Ist Ihnen etwas passiert?”
“Den Hund, lassen Sie ihn ja nicht mehr los! Ich, ... ich wohne hier, ich habe keinen Schlüssel. Ich meinte, ich habe ihn vergessen. Bitte halten Sie den Hund fest.”
Sie raffte das Bettlaken fester um sich. Mit dem Rücken an die Wand gedrückt, schlich sie am Nachbarn vorbei. Den Hund ließ sie dabei nicht aus den Augen. Rasch verließ sie den Kellerraum und stapfte, so schnell es ihr mit den herunterhängenden Laken möglich war, die Kellertreppe hoch. Hastig suchte sie den Schlüssel unter der Fußmatte hervor.
“Ja, warum haben Sie denn nicht bei mir geklingelt, gute Frau?”
Der Mann mit dem dicken Bauch stand nun ohne seinen Hund hinter Jane. Offenbar hatte er ihn im Keller zurückgelassen, denn sein Jaulen war zu hören. “Ich hätte Ihnen doch öffnen können. Krüger, Ludwig Krüger ist mein Name. Sie müssen sich aber nicht vor meinem Bernie fürchten, er ist ein ganz Braver.”
Mit einer angedeuteten Verbeugung und einem breiten Lächeln streckte er ihr seine Hand entgegen.
“Ja? Ach so! Ich, hallo, ich bin Jane Malte.” Sie reichte ihm ihre schmutzige Hand. Dadurch rutschte das Bettlaken zu Boden und Jane stand entblößt bis auf Slip und T-Shirt vor Krüger. Mit hochrotem Kopf raffte sie alles schnell hoch, schloss die Tür auf und huschte in ihre Wohnung.

Aufatmend lehnte sie sich mit dem Rücken an die Wohnungstür und zuckte im nächsten Moment zusammen.
“Ach du meine Güte!”, entfuhr es ihr. Jane hatte sich im Garderobenspiegel entdeckt. Mit aufgerissenen Augen betrachtete sie sich darin.
Ihr Haar hing strähnig und feucht über die Schultern. Das Gesicht war stellenweise überzogen von einer dunklen, angetrockneten Matschschicht. Aus dem Mundwinkel lief ein dünner Faden getrocknetes Blut. Das Bettlaken vervollständigte das Bild. Die Ähnlichkeit mit einer Gestalt aus einem billigen Horrorfilm war nicht abzustreiten.
Zuerst war es nur ein Schmunzeln, dann begann sie zu kichern.
“Mama?” Jane zuckte zusammen. Kai stand plötzlich im Flur, den Türgriff zum Badezimmer in der Hand und mit gerunzelter Stirn. Er zupfte die Stöpsel seines neuen MP3-Players aus den Ohren.
“Mama! Was ist denn mit dir passiert?” Janes konnte nicht anders, sie lachte laut los.
Immer noch lachend antwortete sie:
“Ach, Kai, ich hatte nur ein Schlüsselerlebnis.”

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