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August 2005
Kugeln
von Thom Delißen

"Warum", fragte Bashi, "rollt eine Kugel?"
"Das liegt in ihrer Form begründet", sagte Taku, der Großvater des fünfjährigen Mädchens.
"Sie bietet den Geistern der Erde keinen Widerstand, sie tut das, was ihr eingegeben wird. Nun, sie kann sich auch sehr schlecht wehren, ist allen Impulsen, die sie bekommt, ausgeliefert.
Das heißt aber auch, dass man ihr unter Umständen sehr leicht den Weg verlegen kann. Eine Kugel, musst Du wissen, ist eine sehr schwierige, philosophische Angelegenheit. Ihr Wesen ist so einfach und doch unendlich kompliziert."
Er schenkte ihnen beiden in kleine Porzellantassen von dem Tee aus dem Kännchen auf dem niedrigen Beistelltisch ein.
"Stell Dir nur mal vor, was zum Beispiel eine sehr große Kugel aus schwerem Material anrichten könnte. Denn auch auf das Material der Kugel kommt es an. Ist sie aus Metall, aus Glas, aus Blei, aus Holz oder gar aus Elfenbein? Eine sehr große Kugel aus Eisen könnte großes Unheil anrichten.
Doch sieh, es genügt, wenn die Kugel nur ein großes Gewicht hat. Denk an den Grafen von Monte Christo.
Wenn die runde Form, die Kugel, sich bewegt, so ist es auch wichtig, wie schnell sie sich bewegt. Nimm die Kugel einer Pistole. Sie ist klein, aber für ihre Größe sehr schwer. Womit wir in den äußerst verwickelten Bereich der Verhältnismäßigkeit vorgedrungen wären. Erkennst Du schon die gewaltigen Dimensionen dessen, was mit der Eigenart der Kugel verbunden ist?"
Die kleine Bashi hatte mit offenem Mund und ihre großen, weit geöffneten mandelförmigen Augen, aufmerksam zugehört.
Jedes Wort des alten Mannes war für sie eine Offenbarung. Wer hätte gedacht, dass eine einfache Kugel ein so wunderbares Thema abgeben könne!
Sie stellte sich eine gigantische Kugel vor, die durch die Straßen der Stadt rollte, Häuserblöcke einriss, schreiende Menschen zermalmte.
"Ja, ich glaube schon, Opa. Das ist toll!" beeilte sie sich zu versichern. "Bitte erzähl weiter."
Der Großvater hatte nämlich in letzter Zeit die beunruhigende Angewohnheit angenommen, in ein unbestimmtes Nichts zu rutschen. Dann saß er da, lächelte und hörte nichts.
Doch jetzt nahm er die schwarze Hornbrille aus seinem Gesicht, putzte die Gläser mit einem Taschentuch und brummte:
"Hm. Nun. Ich werde versuchen, Dir noch zwei Eigenarten der Kugel aufzuzeigen. Nehmen wir an, eine Kugel bestünde aus vielen kleinen Kugeln, wie ein Haus aus Ziegeln. Verstehst Du?"
Eine Kugel aus Backsteinen! Bashi nickte fasziniert.
"Nun ist also jeder dieser Ziegelsteine, aus der die runde Form besteht, selbst eine Kugel. Woraus aber besteht nun unsere Ziegelkugel? Kannst Du es erraten?"
"Aus Kugeln!" antwortete Bashi stolz, wie aus der Pistole geschossen.
"Aus Ziegeln. Richtig. Du bist ein helles Köpfchen, mein Lieblingskind. Kannst Du auch sehen, wo das hinführt?"
Im Kopf des kleinen Mädchens knarrten und ratterten Tausende von Zahnrädern.
Besorgt betrachtete Taku die Kleine, die, mit fast verbissenem Gesicht, blinzelnd da saß.
"Das hört nicht auf." sagte sie schließlich, "Da ist kein Ende. Das macht mir Angst."
"Sei unbesorgt", sagte der alte weißhaarige Mann, er beugte sich über den Tisch und strich ihr mit seinen arthritischen Fingern zitternd über den schwarzen Schopf. "Was Du da fühlst, ist Gott."
"Wenn das Gott ist, warum macht er mir Angst?"
"Alles, was der Mensch nicht verstehen kann, macht ihm Angst. Und es gibt sehr viele dumme Menschen."
"Also haben viele Menschen Angst?"
Taku nickte. "Ja, sehr viele Menschen, mein kleines, zartes Teeröschen. Und leider auch viele, die sehr große Macht besitzen, die der Kugel, weißt Du, einen gewaltigen Schubs geben können."
"Aber das ist gefährlich!" sagte Bashi aufgeregt,
"Oh ja", erwiderte der alte Mann, nahm erneut seine Brille ab und putzte sie.
"Denn siehst Du, Mädchen, die Sache mit den Ziegelsteinen, die Kugeln sind, selbst wiederum aus Ziegelsteinen bestehen, die Kugeln sind, immer kleiner, lässt sich in beide Richtungen denken.
Was dabei heraus kommt, nicht wahr, das ist die Tatsache, dass die Erde ja letztendlich auch nur eine Kugel in einer Kugel ist, ein großes Teil eines noch größeren Ganzen, das auch nur Bestandteil und Materie eines wieder größeren ist."
Er schüttelte den Kopf.
"Da hört mein Verstand auf. Kannst Du das verstehen?"
Die Kleine hatte bei seinen letzten Worten aufgehört, nachdenklich an den Lippen zu kauen.
"Ich glaube Großvater, da am Ende, da steht wieder der liebe Gott."
"Da hast Du wohl Recht. Doch Du musst bedenken, die Menschen haben viel Einblick in Gottes Schöpfung genommen. Du weißt, was ein Mikroskop ist? Natürlich. Nun stell Dir doch mal vor, so ein winziges, furchtbar kleines Teilchen, das Du da erkennen kannst, besteht ja auch wieder aus winzig kleinen Ziegelsteinen. Kugeln.
Und die wiederum auch. Es gibt dieses Universum der Ziegelsteine im Großen und im ganz Kleinen.
Die Ziegelsteine, die so klein sind, das es kleiner fast nicht funktioniert, für uns dumme Menschen, nennen die Wissenschaftler Atome und Quanten.
Aus denen, so sagen sie, ist die ganze Welt gebaut.
Sie sagen nicht Ziegelsteine oder Kugeln dazu.
Nun, Du weißt, darüber haben wir vorhin geredet, je schwerer eine Kugel ist, desto mehr Schaden kann sie anrichten. Die furchtbar schlauen Forscher haben sich nun die kleinsten Kugeln eines sehr schweren Materials angesehen. Man nennt es "schweres Wasser". Sie haben herausgefunden, wie man diese unvorstellbar winzigen Kugeln bewegen kann. Du hast auch gehört, je größer die Kraft, die den Schubs gibt, den Impuls, nicht wahr, der die Kugel zum rollen bringt, desto größer auch die Zerstörung."
Er atmete laut und heftig.
"Sie geben dieser winzigen Kugel einen so gewaltigen Schubs, dass auch die anderen Kugeln, die anderen Atome, bewegt werden, dieselbe Kraft entwickeln, eine Kettenreaktion. Das kennst Du von den Dominosteinen."
"Und wozu tun sie das?"
Der alte Mann hustete, lachte bitter:
"Weil sie glauben, sie könnten es mit dem lieben Gott aufnehmen."
"Aber das ist Blödsinn. Der liebe Gott hat das Alles doch erst erschaffen! Du hast Recht, Großvater. Wie dumm! Wir wollen schlauer sein."
Es war in Hiroshima am 06.08.1945 um genau 9 Uhr 16, als die Bombe in einer Höhe von 1.890 Fuß über der Stadt explodierte.
Von der kleinen Bashi und ihrem Großvater Taku zeugen heute, in der sonst seltsamerweise unberührt gebliebenen Wohnung, nur noch zwei fahle Schatten an der Wand.

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